Interview

Dr. Josef Schuster: Es geht darum, Erinnerung wachzuhalten

Besser spät als nie. Viele Jahre sind vergangen, bevor sich eine Erinnerungskultur in Deutschland durchsetzen konnte. Auch Ärzte waren an den Nazi-Verbrechen aktiv beteiligt. Die Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte findet statt– in Körperschaften und Verbänden, sagt Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, im Interview mit der „Ärzte Zeitung“.

Wolfgang van den BerghVon Wolfgang van den Bergh Veröffentlicht:
Dr. Josef Schuster, Arzt und Präsident des Zentralrats der Juden.

Dr. Josef Schuster, Arzt und Präsident des Zentralrats der Juden.

© Eventpress Fuhr / dpa

Ärzte Zeitung: Wenn Sie den momentan eher hektischen Praxisalltag als niedergelassener Internist Revue passieren lassen, bleibt da eigentlich Zeit für Erinnerung? Zudem denke ich an die Veranstaltungen rund um den Jom Ha Shoa, dem jüdischen Gedenktag für die Millionen Holocaust-Toten, die wegen der Corona Pandemie abgesagt werden mussten.

Josef Schuster: Das ist eigentlich fast genau umgekehrt. Denn neben dem Praxisalltag sind viele aktuelle Termine abgesagt oder auch virtuell ins Netz verlegt worden. So sind Fahrt- und Reisezeiten weggefallen und damit ist das Zeitbudget etwas großzügiger geworden.

  • Aktuelle Position: Seit 2014 Präsident des Zentralrats der Juden. Zugleich ist er Vizepräsident des World Jewish Congress und des European Jewish Congress.
  • Werdegang: Dr. Schuster studierte in Würzburg Medizin. 1988 ließ er sich als Internist in einer eigenen Praxis in Würzburg nieder. Seit 1998 ist er Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Würzburg und Unterfranken. Seit 2002 Präsident des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern.
  • Privates: Josef Schuster wurde 1954 in Haifa/Israel geboren. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

Zu Ihrer Vita, Sie studieren Medizin, machen Ihren Facharzt und gehen in die Praxis. Parallel dazu engagieren Sie sich in den jüdischen Verbänden und werden Ende der 90-er Jahre zum Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Würzburg gewählt, ganz in der Tradition des Vaters. Schließlich: Im November 2014 wählt man Sie an die Spitze des Zentralrats. In diesen vielen Jahren ist immer wieder über das Thema Erinnerungskultur gesprochen worden. Sind denn den Worten Taten gefolgt?

Schuster: Definitiv ja. Wir sind heute in einer ganz anderen Situation, als wir noch zu Beginn der 90er Jahre waren. Eine entscheidende Rolle spielt auch, dass die Familien der Täter offener zu dem Thema stehen und bereit sind, sich damit auseinandersetzen.

Wenn Sie nun den Blick auf Ihre eigene Zunft richten, die Ärzteschaft: Ist es ihr gelungen, das Thema in den 75 Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges aufzuarbeiten?

Schuster: Hier war es auch so, dass zunächst einige Jahrzehnte Stillschweigen herrschte. Man sprach nicht darüber, man wollte nicht darüber reden, weil auch Mandatsträger in der Ärzteschaft eigene Verwicklungen hätten nicht verbergen können, wenn man da ein bisschen tiefer gebohrt hätte. Die Zeit hat sich verändert, und wir haben in den vergangenen 20 Jahren erlebt, dass das Thema von der gesamten Ärzteschaft, vor allem auch von den Berufsverbänden angegangen worden ist. Das ist wichtig, denn nur wenn man das erfasst, was geschehen ist und wie es geschehen ist, gibt es eine Möglichkeit, so etwas für die Zukunft zu verhindern.

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Ich denke aber auch an Grafeneck auf der Schwäbischen Alb, einem Ort, wo Ärzte 1940 erstmals Patienten mit Gas ermordet haben. Grafeneck war die erste von sechs Tötungsanstalten, in denen über 70.000 Menschen unter dem Begriff „Gnadentod“ ermordet wurden. 2018 erinnerte die Landesärztekammer Baden-Württemberg an diese Untaten mit einer Gedenktafel. Besser spät als nie. . .?

Schuster: Das hätte tatsächlich viel früher passieren müssen. Aber es ist richtig: besser spät als nie. Und dass dies jetzt geschehen ist, das sollte man auch positiv werten. Ich glaube, es bringt wenig, hier nachzutreten und zusagen: Das hätte alles viel früher passieren müssen. Wichtig ist es jedoch doch, es nicht nur mit einer Tafel bewenden zu lassen, sondern die Erinnerung an solche Geschehnisse aktiv wachzuhalten.

Die Stolpersteine sind ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig.

Die Stolpersteine sind ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig.

© Norbert SCHMIDT / picture alliance

Und wenn Sie an „Alt Rehse“ denken, einem Ort in Mecklenburg, einer Führerschule, wo aus Ärzten stramme Nazis geformt werden sollten. Meine Frage: Kann man anfängliche Sprachlosigkeit entschuldigen? Und sagt dann: Besser spät als nie?

Schuster: Es bringt einfach nichts, jetzt darüber zu diskutieren: Warum wurde jahrzehntelang nichts gemacht? Ich glaube, dass damit heute keinem geholfen ist. Warum das so ist, dazu habe ich einige Erklärungsmuster angedeutet. Besser spät als nie, ja, das ist richtig. Und was das konkrete Beispiel angeht, gibt es ja Konzepte, in Alt Rehse ein Fortbildungszentrum zu schaffen – auch und gerade unter dem Aspekt des historischen Rückblicks für die Ärzteschaft. Das gestaltet sich offenbar etwas zäh und da hätte ich mir wirklich ein bisschen mehr Unterstützung auch von den Ärztekammern erhofft.

Sie sagen es selbst, es ist in vielen Bereichen ein zäher Prozess – dennoch gab es deutsche Ärztetage, wo die Erinnerung an die Untaten wachgerufen worden sind: Berlin 1989 eine Ausstellung zu „Medizin in der Weimarer Republik und im Dritten Reich“. Nürnberg 2012: Hier widmete sich eine Ausstellung dem Approbationsentzug der jüdischen Ärztinnen und Ärzte 1938. Viele Kammern haben nachgelegt. War die Umsetzung adäquat?

Schuster: Ja, sie war adäquat. Insbesondere freue ich mich, dass auch viele der ärztlichen Berufsvereinigungen ihre Geschichte im Nationalsozialismus intensiv aufgearbeitet haben, sei es in Buchform, sei es in Ausstellungen. Ich denke an die Chirurgen, an die Innere Medizin und die Kardiologen, um nur einige zu nennen.

Antisemitismus, Rassismus, auch Islamfeindlichkeit sind alles Phänomene, die sich gegen unsere demokratische Grundordnung richten..

Wir schauen auf die vergangenen Monate und stellen eine steigende Zahl von Angriffen und Überfällen auf Juden fest. Ist das schon eine ernsthafte Bedrohung?

Schuster: Für Juden hat sich die Situation in den vergangenen Monaten verändert. Ich habe nach dem Attentat auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 eine deutliche Verunsicherung in der jüdischen Gemeinschaft beobachtet. Die Frage: Kann man gefahrlos jüdische Gotteshäuser, eine Synagoge besuchen oder kann man das nicht? Das sind Ereignisse, die jüdisches Leben in Deutschland nachhaltig beeinflussen. Wenn auch hier, und das muss man klar sagen, die Politik richtig gehandelt hat, indem sie Sicherheitsvorkehrungen an jüdischen Einrichtungen verstärkt hat und damit auch ein entsprechendes Sicherheitsgefühl wieder erzeugen konnte.

Wie in anderen Schichten der Gesellschaft gibt es auch innerhalb der Ärzteschaft rechte Strömungen. Machen die Ihnen Sorgen?

Schuster: Die machen mir Sorgen. Ich muss ehrlich sagen, dass es für mich eigentlich unverständlich ist, dass auch Ärzte, die offenbar Ressentiments gegen bestimmte Menschen pflegen, ja eigentlich der Menschlichkeit verpflichtet sind als Mandatsträger in Kommunalparlamente gewählt werden, wohl wegen ihres Vertrauens, das manche Wähler in sie setzen. Wenn es hier Mediziner gibt, die für die AfD kandidieren, ist das traurig.

Sollten Ärzte auch aus ihrer Standesorganisation heraus die Pflicht haben, gegen (nicht nur) faschistische Tendenzen in einer Gesellschaft anzugehen? Sie weisen ja konkret auf die Genfer Deklaration hin: „. . .feierlich mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen“.

Schuster: Dann antworte ich Ihnen mit einer Gegenfrage. Ärzte, die sich im Dritten Reich den Nationalsozialisten angedient haben – und was hier alles geschehen ist, ich nenne Auschwitz, aber nicht nur Auschwitz – die hatten ein anderes Gedankengut und diese hehren Ziele wohl nicht vor Augen. Deshalb frage ich Sie: Haben heute alle Ärzte diese hehren Ziele vor Augen?

Darauf kann ich Ihnen keine Antwort geben. . . Sie sagen an anderer Stelle: Wir haben uns in Deutschland viel zu gemütlich eingerichtet: ein bisschen Antisemitismus, ein bisschen Rassismus, ein bisschen Islam-Feindlichkeit – alles nicht so schlimm! Die Taten in der jüngsten Vergangenheit sprechen eine deutliche Sprache. Verharmlosen wir ein Phänomen?

Schuster: Fakt ist, dass viele der Meinung sind: „Ich bin nicht jüdisch, mich stört nicht der Antisemitismus, ich bin vom Aussehen her unauffällig, ich bin kein Muslim. Also, was soll das alles für mich? Ich kann mich doch bequem zurücklehnen.“ Was vielen leider nicht klar ist, dass es bei all diesen Angriffen ja nicht prinzipiell um die Frage geht, ob das für Juden ein Problem ist. Antisemitismus, Rassismus, auch Islamfeindlichkeit sind alles Phänomene, die sich gegen unsere demokratische Grundordnung richten. Und das ist der entscheidende Punkt, und der geht sehr wohl alle an, und hier muss man aufpassen, dass man es sich nicht zu bequem macht.

Der Zentralrat der Juden

  • Aufgaben: Der Zentralrat der Juden in Deutschland vereinigt unter seinem Dach 23 Landesverbände und 105 Jüdische Gemeinden mit rund 97.791 (Stand 2017) Mitgliedern und vertritt deren politische und gesellschaftliche Interessen. Er ist für die Politik auf Bundes- und Länderebene Ansprechpartner für alle Themen, die die jüdische Gemeinschaft betreffen.
  • Gründung: Am 19. Juli 1950 gründete sich in Frankfurt am Main der Zentralrat der Juden in Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt lebten im Nachkriegsdeutschland rund 15.000 Juden.

Dr. Schuster, Sie sind erst vor kurzem in den Deutschen Ethikrat berufen worden. Mit welchen Erwartungen gehen Sie an die Aufgabe heran?

Schuster: Die Erwartungen sind schwer zu beurteilen. Ich kenne zwar das Gremium, aber die Arbeit dort kenne ich konkret nicht. Erfahrungen habe ich durch meine Tätigkeiten in der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer gesammelt, in der ich eine ganze Reihe von Jahren Mitglied war. An diese neue Aufgabe gehe ich mit medizinischem Sachverstand heran, aber auch mit jüdischen, ethischen Grundsätzen. Beides zu verbinden ist mein Wunsch – und dann vielleicht auch als langjähriger niedergelassener Arzt die Perspektive aus der Praxis einzubringen. Ich glaube, das sind wichtige Punkte.

Dr. Schuster, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Das gesamte Interview hier auch zum Hören

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