"Du Doktor? Knie kaputt." - Einsatz rustikal in Frankfurts Straßen

Wunden versorgen unter Brücken oder in U-Bahn-Schächten. Nächtliche Patientengespräche an Bushaltestellen. Die Mitarbeiter der ElisabethStraßenambulanz in Frankfurt zeichnet die Liebe zu ihrem Beruf und den Menschen aus.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Mit dem Ambulanz-Einsatzwagen sucht die Ärztin die Patienten vor Ort auf.

Mit dem Ambulanz-Einsatzwagen sucht die Ärztin die Patienten vor Ort auf.

© Pete Smith

FRANKFURT/MAIN. Dienstagabend, ein regnerischer Tag im April. In der Elisabeth-Straßenambulanz in der Frankfurter Klingerstraße brennt noch Licht. Dr. Maria Goetzens trifft letzte Vorbereitungen für die heutige Tour.

Es klingelt. Bettina Bonnet steht in der Tür. Die Sozialarbeiterin des Diakoniezentrums Weser5 wird die Ärztin begleiten. Die beiden Frauen beugen sich über die "Liste vital gefährdeter Personen" - jene Patienten, die sie in dieser Nacht aufsuchen werden: in der Tagesstätte, auf der Parkbank, im Eingang eines Kaufhauses.

19.10 Uhr. Erste Station ist die Caritas-Tagesstätte im Ostend unweit der Baustelle, wo der neue Sitz der Europäischen Zentralbank entsteht. In der Hagenstraße erhalten Wohnungslose für einen Euro ein warmes Essen, kostenlose Snacks und nützliche Infos beispielsweise über die nächstliegende Duschgelegenheit. Der Ambulanzbus wird zunächst kaum beachtet. Maria Goetzens macht die Runde. Schüttelt Hände, fragt, wie es geht, fordert alte Bekannte auf, doch mal wieder in der Klingerstraße vorbei zu kommen.

Die beiden Frauen wollen schon wieder fahren, als doch noch jemand anklopft: "Du Doktor? Knie kaputt." Dem ersten, einem Polen, schließen sich zwei Männer aus Litauen an. Der eine hat eine Entzündung am Ohr, der andere Blut im Urin. Nach der Behandlung notiert Maria Goetzens ihre Namen, drei weniger im Heer der namenlosen Berber.

Dr. Maria Goetzens ist Allgemeinmedizinerin und Ordensfrau. 1983 trat sie den Missionsärztlichen Schwestern bei, einer 1925 gegründeten katholischen Ordensgemeinschaft, in deren Auftrag sie in den 1980er Jahren in die Philippinen reiste, um in den Slums von Manila Kranke zu pflegen. Seit 1997 leitet sie die Elisabeth-Straßenambulanz in Frankfurt am Main, eine Einrichtung des Caritasverbandes zur ambulanten Pflege und medizinischen Behandlung von Wohnungslosen. Für ihr Engagement erhielt Schwester Maria 2004 den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland.

Die Ärztin verordnet ein Bad und neue Kleidung

19.50 Uhr. Maria Goetzens steuert den Bus über das Mainufer, während Bettina Bonnet in die Dämmerung späht und nach möglichen Patienten Ausschau hält. Sie sind schon fast am Westhafen angelangt, als sie in einer Skateranlage einen Mann im Schlafsack entdecken. Wieder ein Bekannter, Schwerstalkoholiker, der über Juckreiz klagt, wahrscheinlich Läuse. Maria Goetzens fordert ihn auf, am nächsten Tag in die Ambulanz zu kommen, wo er ein Bad nehmen kann und neue Anziehsachen erhält.

Kurz darauf treffen die Helferinnen auf einen alten Mann mit langen Haaren und fransigem Bart, dem Akzent nach ein Niederländer, der, wie er erzählt, schon seit Oktober in Frankfurt lebt. Nein, Unterstützung erhalte er nicht, aber ja, gern schaue er mal in der Klingerstraße vorbei. "Der kommt nicht", ist sich Maria Goetzens sicher, "sehen tun wir ihn aber trotzdem."

Frankfurt am Main hat etwa 670.000 Einwohner, von denen städtischen Angaben zufolge lediglich 60 auf der Straße wohnen. Maria Goetzens und Bettina Bonnet wissen es besser. Allein von den insgesamt 1185 Patienten, die 2010 in der Elisabeth-Straßenambulanz behandelt wurden, lebten 467 auf der Straße, 150 wollten oder konnten keine Angaben zu ihrem Schlafplatz machen. Vier von fünf Patienten sind Männer, im Schnitt 40 bis 50 Jahre alt. 59 Prozent aller Patienten haben keine Krankenversicherung. Soweit die Zahlen.

20.40 Uhr. Der Bus steuert eine Bushaltestelle am Basler Platz an. Hier lebt eine 50-jährige Marokkanerin. Ihr Einkaufswagen ist mit Tüten vollgestopft, darauf liegt ein grüner Stuhl. Setzen will sie sich dennoch nicht, sagt sie der Ärztin, lieber die ganze Nacht stehen. Dabei sind beide Beine entzündet, was man riecht und wogegen die Salbe, die sie aufträgt, wenig hilft. Am Ende akzeptiert sie immerhin eine Einweisung ins Krankenhaus. "Das war jetzt quasi ein Hausbesuch", sagt die Ärztin und lacht.

"Diese Arbeit ist nur im Team möglich"

Obdachlosenärztin und Missionsschwester Dr. Maria Goetzens versorgt einen Patienten, der in einem Hauseingang nächtigt.

Obdachlosenärztin und Missionsschwester Dr. Maria Goetzens versorgt einen Patienten, der in einem Hauseingang nächtigt.

© Pete Smith

21.20 Uhr. An der Hauptwache herrscht reger Betrieb. Es nieselt. Seit dem Vortag dürfen Wohnungslose nicht mehr in der B-Ebene der U-Bahn schlafen, weshalb sie sich rund um den Platz in Hauseingängen Quartier gesucht haben. Maria Goetzens inspiziert den Handverband eines jungen Mannes, schenkt einem alten Spanier einen Schlafsack und trägt auf den Furunkel eines Rumänen Salbe auf.

Auf der Zeil trifft sie erneut einen Bekannten, dem sie eigentlich einen Schlafplatz vermittelt hatte. Aber dort fühlt sich der Heimatlose einsam, weshalb er lieber auf der Straße nächtigt.

Um 21.55 Uhr verabschieden sich die Frauen voneinander. Bettina Bonnet hat an diesem Abend etliche Flyer verteilt und hofft, dass sie einige ihrer Klienten in den Einrichtungen der Diakonie wiedersehen wird. Maria Goetzens muss noch die Dokumentation erledigen.

Am nächsten Tag werden dann ihre Kollegen rausfahren. "Diese Arbeit ist nur im Team möglich", sagt die Ärztin. Womit sie nicht bloß die Mitarbeiter der Ambulanz meint, sondern auch jene vielen Helfer und Spender, die diesen Dienst am Menschen finanzieren.

Elisabeth-Straßenambulanz, Klingerstraße 8, 60313 Frankfurt, Tel. 069/297.208.740, elisabeth.strassenambulanz@caritas-frankfurt.de

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