Justiz

Gesundheit ist kein absolutes Grundrecht

Eingriffe in Grundrechtspositionen bedürfen immer einer Begründung. Auch im Falle der Corona-Pandemie gilt: Staatlicher Zwang bleibt unter Kontrolle von Parlamenten und Gerichten – wenn auch im Nachhinein.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
In der Abwägung zwischen dem Grundrecht auf Gesundheit und anderen Grundrechtspositionen darf das Recht auf Gesundheit nicht absolut gesetzt werden, meint Baden-Württembergs Innenminister Strobl.

In der Abwägung zwischen dem Grundrecht auf Gesundheit und anderen Grundrechtspositionen darf das Recht auf Gesundheit nicht absolut gesetzt werden, meint Baden-Württembergs Innenminister Strobl.

© Sebastian Gollnow/dpa

Karlsruhe. Der politische Umgang mit der Corona-Pandemie könnte ein parlamentarisches Nachspiel haben. So erwartet der Rechtspolitiker der Grünen-Bundestagsfraktion, Konstantin von Notz, die Einsetzung einer Enquetekommission des Bundestages, die vor allem der Frage nachgehen könnte, wie Deutschland auf die Pandemie und deren Beherrschung vorbereitet gewesen sei.

Dabei müsse auch einbezogen werden, warum aus einer nur wenige Jahre zuvor erfolgten Simulation eines pandemischen Geschehens mit mehreren Millionen Infizierten allein in Deutschland keine Konsequenzen gezogen worden sind, sagte von Notz bei den 20. Karlsruher Verfassungsgesprächen.

Infektionsschutzgesetz auf den Prüfstand

Einig waren sich die an der Diskussionsrunde teilnehmenden Juristen – neben von Notz der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CD) und der Professor für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg, Jens-Peter Schneider –, dass das Infektionsschutzgesetz auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand kommt. Dieses Gesetz ermächtigt die Bundesregierung, auf dem Verordnungsweg unter dem Gesichtspunkt des Gesundheits- und Lebensschutzes weitreichende Einschränkungen von Grundrechten, etwa der Bewegungs- und Versammlungsfreiheit oder der Freiheit der Berufsausübung, zu beschließen. Angesichts etlicher laufender Gerichtsverfahren könnte dies auch das Bundesverfassungsgericht beschäftigen, erwartet Strobl.

Eine Krise wie die Corona-Pandemie sei immer die Stunde der verantwortlichen Regierung, argumentierte von Notz. Das habe im Prinzip gut funktioniert, weil alle Bundestagsfraktionen, deren Parteien in den Bundesländern Regierungsverantwortung tragen, in die Willensbildung einbezogen worden seien. Gleichwohl müsse sich jeder Minister bewusst sein, dass er bei heiklen Entscheidungen über den Weg der Rechtsverordnung ganz allein in der Verantwortung stehe, und er immer gut beraten sei, sich möglichst eine parlamentarische Legitimation zu holen.

Überprüfung durch Gerichte

Politische Entscheidungsträger müssen in jedem Fall – jenseits ihrer Legitimation durch das Infektionsschutzgesetz – damit rechnen, dass ihre Entscheidungen nachträglich gegebenenfalls durch Parlamente, noch häufiger aber durch Gerichte überprüft werden. Bei Eingriffen in die Versammlungsfreiheit – betroffen davon ist auch die Ausübung der Religionsfreiheit – gebe es einen klaren Trend der Gerichte, die konkreten Umstände im Einzelfall und die Möglichkeiten für Vorkehrungen zum Infektionsschutz, das Verhalten und die Kooperationsbereitschaft von Veranstaltern oder Demonstranten zu prüfen, so der Verwaltungsrechtler Schneider.

In der Abwägung zwischen dem Grundrecht auf Gesundheit und anderen Grundrechtspositionen dürfe, wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble zutreffend postuliert habe, das Recht auf Gesundheit nicht absolut gesetzt werden, so Strobl. Fraglos habe der Lebensschutz einen „sehr hohen Verfassungsrang“ – es sei aber weltfremd, beispielsweise den Straßenverkehr so weit zu reglementieren, dass jegliche Gefahr für Gesundheit und Leben ausgeschlossen sei. Angesichts dessen habe ihn nicht Schäubles Aussage, sondern die öffentliche Aufregung darüber gewundert.

Corona-App von großer Bedeutung

Eine große Bedeutung für die zukünftige Beherrschung der Pandemie wird der Einführung einer digitalen, auf Smartphones gespeicherten und aktivierten App zugemessen, mit deren Hilfe (zu) nahe soziale Kontakte registriert und im Infektionsfall nachverfolgt werden können. Eindeutig war hier das Plädoyer für eine freiwillige Nutzung.

„Wir leben nicht in einem repressiven Land wie China“, begründete Strobl das Prinzip der Freiwilligkeit. Außerdem könne eine zwangsweise Verpflichtung in der täglichen Praxis durch Banalitäten ins Leere laufen: das Smartphone wird vergessen, der Akku ist nicht geladen. Vernunft, Einsicht und Interesse am Selbstschutz müssten leitende Motive sein. Auch Jurist Schneider sieht die Chance, bei einem möglichen Kontakt mit Infizierten den raschen Zugang zu einem Test zu realisieren, als einen „starken Anreiz“, eine Tracing-App zu nutzen.

Alle großen Digitalprojekte der vergangenen zehn Jahre, so von Notz, seien an mangelnder Akzeptanz und fehlendem Vertrauen der Bürger gescheitert. Das gelte für den elektronischen Personalausweis ebenso wie für die elektronische Gesundheitskarte. Freiwilligkeit sei das einzige Prinzip, Akzeptanz zu schaffen. Damit müsse baldmöglichst gestartet werden, um die nach wie vor existente Infektionsgefahr unter Kontrolle zu halten. Das Ziel, so von Notz: „Es muss zum guten Ton gehören, die App zu nutzen.“

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