Fantasie fehlt

IV nur in Pastellfarben

Trotz hehrer Absichten von Union und SPD: Einen Boom der Integrierten Versorgung sehen Fachleute noch in weiter Ferne. Das liegt auch an den Ärzten, findet ein Kassenchef.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
Bei der Integrierten Versorgung sind die Ärzte miteinander vernetzt.

Bei der Integrierten Versorgung sind die Ärzte miteinander vernetzt.

© [M] Stefan Rajewski / Fotolia.com | ill

BERLIN. Die Zukunft der Integrierten Versorgung (IV) muss eher in Pastellfarben gemalt werden denn schreiend bunt. Und das, obwohl Union und SPD die IV in ihrem Koalitionsvertrag ausdrücklich stärken wollen.

Dieses Bild zeichneten Fachleute beim 10. Bundeskongress der Deutschen Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen am Montag in Berlin.

Produktinnovationen seien leichter ins System zu bekommen als Prozessinnovationen, warnte der Gesundheitsökonom Professor Jürgen Wasem. Einen Boom werde es nicht geben.

Einen kompletten Neustart mit einheitlichen Regeln für selektivvertragliches Kontrahieren schlug der Präsident des Bundesversicherungsamtes (BVA), Maximilian Gassner, als Therapie für die Integrierte Versorgung vor.

Dazu gehörten auch Schutzvorschriften für Patienten nach der Art von Allgemeinen Geschäftsbedingungen vor. Es dürfe in der IV keine Unterschreitung medizinischer Standards geben. Patienten sollten ein Kündigungsrecht haben.

In Gassners Behörde laufen alle Anträge auf Genehmigung von Verträgen nach Paragraf 140 SGB V ein. Darunter seien selten innovative Leistungskonzepte oder absehbare Einsparungen für die gesetzliche Krankenversicherung, sagte Gassner.

Die Verträge größerer Kassen seien qualitativ meist besser. In Ostdeutschland gebe es deutlich weniger IV-Verträge als im Westen, berichtete Gassner.

BVA sucht die Haare in der Suppe

2012 habe das BVA 516 Verträge geprüft, bis 22. November 2013 seien es 1104 Verträge gewesen. 24 seien beanstandet worden, 300 Mal seien die Kassen aufgefordert worden, ihre Verträge anzupassen.

Die Gründe für ein Eingreifen des BVA seien meist die Beteiligung nicht zugelassener Leistungserbringer oder fehlende integrative Ansätze. Kostenfreies Fernsehen und Telefonieren, Essen für den Ehepartner und ein einmaliger Besuch eines Chefarztes als besondere stationäre Leistungen reichten dafür nicht aus.

Nur gedämpften Optimismus verbreitete auch Ingo Kailuweit Vorstandsvorsitzender der KKH. Die Ärzte stünden der Integrierten Versorgung skeptisch gegenüber, sagte Kailuweit. Bei Indikationen wie dem Vorhofflimmern könnten nur die Ärzte zum Einschreiben in einen IV-Vertrag bewegen.

Dies geschehe allerdings immer seltener, die Einschreibezahlen sänken. Die Ärzte sähen keinen eigenen Vorteil, den Ärzten zeitnah die Teilnahme an der IV zu empfehlen.

Positive Beispiele Integrierter Versorgung

Trotz aller Unkenrufe: Es gibt große und erfolgreiche Projekte der Integrierten Versorgung.

Beispiel 1: Das IV Kopfschmerz des Westdeutschen Kopfschmerzzentrums in Essen und mehreren großen Krankenkassen ist mit bislang 75.000 Patienten in den vergangenen zehn Jahren ein Beispiel für eine verbesserte Versorgungsstruktur zum Beispiel für Frauen mit Migräne.

Die Akquise potenzieller Teilnehmer erfolgt aufgrund der Analyse von Routinedaten der Kassen. Beteiligt sind 60 niedergelassene Neurologen.

Die Evaluierung habe ergeben, dass die Zahl der Kopfschmerztage bei den Teilnehmern zurückgehe. Damit würden sie auch seltener wegen Kopfschmerzen krankgeschrieben und zwar um rund 50 Prozent, sagte der Neurologe Professor Hans-Christoph Diener am Montag in Berlin.

Die Kassen sparten im Vergleich zu Patienten in der Regelversorgung gut die Hälfte an Behandlungsausgaben ein, etwa 1700 Euro pro teilnehmenden Versicherten. Ein identisch aufgebautes IV-Projekt zur Indikation Schwindel zeitige ähnliche Erfolge, so Diener

Beispiel 2: Das IV-Projekt "Cardio Integral" der AOK plus in Sachsen läuft seit 2005. Mit mehr als 80.000 eingeschriebenen Teilnehmern mit dem gesamten Spektrum kardiovaskulärer Erkrankungen gilt es als der größte deutsche IV-Vertrag überhaupt.

Beteiligt sind 1250 Hausärzte, rund 100 Fachärzte und sechs invasive Leistungserbringer. In diesem Netz ließen sich Facharzttermine schnell vermitteln und mehrfache Diagnostik vermeiden, berichtete Marius Milde von der AOK plus.

Zunächst seien die Kosten gestiegen. Im Zeitverlauf hätten sich dann positive ökonomische Effekte eingestellt, sagte Milde. Die invasiven Eingriffe sänken im Vergleich zu Patienten in der Regelversorgung.

Für diese Indikation seien die von der Koalition vorgesehenen vier Jahre, um den Nachweis der Wirtschaftlichkeit zu erbringen, möglicherweise zu kurz, sagte Milde.

Kurzgeschichte der Integrierten Versorgung

Reformversuch "Integrierte Versorgung" im Jahr 2000. Für den Vorsitzenden des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen, Professor Stefan. G. Spitzer, besaßen die ersten Gehversuche jedoch "wenig Resonanz und wenig Relevanz". Damals habe man Integrierte Versorgung ohne Integration der Ärzte ausprobiert.

2004 kommt mit dem GKV-Modernisierungsgesetz die Anschubfinanzierung von einem Prozent der Gesamtvergütung ambulanter und stationärer Leistungen. Ende 2004 gibt es rund 300 Verträge.

Verträge nach Paragraf 140 SGB V müssen ab 2011 dem Bundesversicherungsamt vorliegen. So regelt es das Versorgungsstrukturgesetz. Eine Anschubfinanzierung gibt es nicht mehr. Dafür dürfen Hersteller von Arzneimitteln und Medizinprodukten in die Integrierte Versorgung einsteigen.

Die Verträge dürfen die Beitragsstabilität der Kassen nicht gefährden. Mit anderen Worten: Die Investitionen in die Versorgungsverträge sollen sich bereits im ersten Jahr refinanzieren. Es gibt zu diesem Zeitpunkt etwa 6300 Verträge.

Der Koalitionsvertrag sieht vor, die Integrierte Versorgung wieder ein Stück weit zu entfesseln. Union und SPD haben vereinbart, dass die Kassen den Nachweis der Wirtschaftlichkeit eines Vertrages erst nach vier Jahren zu erbringen haben.

Für manche Indikationen sei dies immer noch zu kurz, bemäkeln Fachleute. 2013 zieht die Zahl der Verträge leicht an. Das Bundesversicherungsamt kritisiert: Es gibt selten innovative Leistungskonzepte oder Einsparungen für die GKV.

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