"Repurposing"

Was in bewährten Arzneien steckt

Arznei-Entwicklung ist langwierig und teuer. Beim "Repurposing" fokussieren sich Forscher daher auf neue Indikationen für bewährte oder schon einmal durchgefallene Wirkstoffe oder auch auf deren nutzbare Nebenwirkungen.

Peter LeinerVon Peter Leiner Veröffentlicht:
Altbewährte Medikamente geraten zunehmend in den Fokus von Arzneimittelforschern.

Altbewährte Medikamente geraten zunehmend in den Fokus von Arzneimittelforschern.

© Scanrail / stock.adobe.com

CINCINNATI. "Die ertragreichste Grundlage für die Entdeckung einer neuen Arznei ist, mit einem altbewährten Medikament zu beginnen." Dieser Satz wird Medizinnobelpreisträger Sir James W. Black zugeschrieben, dem Entwickler des ersten Betablockers.

Er soll ihn 1988 in seiner Vorlesung bei einer Tagung der britischen Pharmaceutical Marketing Society gesagt haben.

Nach Ansicht von Bioinformatikern um Jaswanth K. Yella vom Children's Hospital Medical Center in Cincinnati im US-Staat Ohio ist diese Maxime Antriebsfeder für sehr viele Arzneimittelforscher bei der Suche nach pharmakologischen Innovationen (Pharmaceuticals 2018; 11: 57).

Neue Wege in der Arzneientwicklung werden dringend gebraucht: Forschung und Entwicklung bis zur Markteinführung eines neuen Präparats dauern in der Regel 10 bis 15 Jahre und kosten bis zu eine Milliarde Euro, so das Forum Gesundheitsforschung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.

Nur fünf bis zehn Prozent der Arznei-Kandidaten in der klinischen Entwicklung schaffen es dabei überhaupt auf den Markt. Diese Zahlen verdeutlichten, wie wichtig es sei, Innovations- und Entwicklungsprozesse in der Gesundheitsforschung zu optimieren.

Die Vorteile von Repositionierung oder "Repurposing" liegen deshalb auf der Hand: Damit ließe sich die Entwicklung im Schnitt auf sechs Jahre verkürzen und die Kosten auf 300 Millionen US-Dollar drücken, schätzen Experten.

Beispiele reichen von Allopurinol bis Zidovudin

Für ein solches "Repurposing" gibt es erfolgreiche Beispiele. Dazu gehört Azidothymidin – besser bekannt als AZT und Zidovudin –, das als Krebsmedikament entwickelt worden war, durchfiel und in den 1980er-Jahren als Retrovir® zum ersten Mittel gegen den Aids-Erreger HIV avancierte.

Auch Thalidomid, besser bekannt als das 1957 eingeführte und 1961 wieder vom Markt genommene Contergan®, war ursprünglich als Sedativum und leichtes Schlafmittel zugelassen. Unter hohen Sicherheitsauflagen ist es heute als Krebsmittel erhältlich, und zwar als Thalidomide® für Patienten mit Multiplem Myelom.

Der Phosphodiesterase-5-Hemmer Sildenafil war bekanntlich zur Therapie von Patienten mit pulmonaler arterieller Hypertonie entwickelt worden.

Als Nebenwirkung stellte sich schon bald ein Effekt auf die glatte Muskulatur der Schwellkörper des Penis heraus – und das zusätzliche Potenzial als Mittel (Viagra®) zur Behandlung bei erektiler Dysfunktion.

Was liegt also näher, als bereits ausgiebig klinisch geprüfte und zugelassene Präparate systematisch erneut für andere Indikationen unter die Lupe zu nehmen. Zumal ein großer Teil der Entwicklungskosten wegfällt und das Nebenwirkungsspektrum allseits bekannt ist.

Früher meist durch Zufall entdeckt

Anfangs wurden die neuen Wirkungen eher durch Zufall entdeckt, wie bei Sildenafil. Heute werden die Medikamente dagegen systematisch analysiert, und es wird gezielt nach neuen Wirkungen gesucht.

Darunter befinden sich etwa Tetrazykline zur Therapie neurodegenerativer Erkrankungen wie Morbus Parkinson, das Antirheumatikum Ocrelizumab gegen Multiple Sklerose, das Antimalariamittel Chloroquin zur Krebsbehandlung etwa bei Gliompatienten und das Mittel gegen Bandwürmer Niclosamid zur Bekämpfung von Zikaviren und zur Verhinderung der durch die Viren ausgelösten ZNS-Schäden.

Auch antiinflammatorische Präparate wie Colchicin, Allopurinol und Methotrexat werden bereits in neuer Indikation bei kardiologischen Erkrankungen wie Angina pectoris oder zur Infarktprävention geprüft. Und der Proteasehemmer Nelfinavir gegen HIV wird derzeit bei Patienten mit soliden Tumoren untersucht.

Schließlich prüfen Wissenschaftler das Antidiabetikum Metformin in Kombination mit Cytarabin bei Patienten mit akuter myeloischer Leukämie.

Erste Hinweise für einen Nutzen gibt es bei Gliompatienten. Selbst bei Huntington-Patienten soll Metformin nach erfolgreichen Tierversuchen erprobt werden. Die Liste aller Präparate, die eine neue Chance bekommen sollen, ist weitaus länger.

Künstliche Intelligenz hilft bei der Suche

Seit 2012 suchen das US-Institut NCATS (National Center for Advancing Translational Sciences) und die US-Gesundheitsinstitute NIH systematisch nach weiteren Indikationen für bewährte Präparate.

Sie werden dabei von Partnern aus der Industrie unterstützt wie AstraZeneca, MedImmune, AbbVie, BMS, Eli Lilly, GSK, Janssen, Pfizer und Sanofi.

Bei der Suche hilft künstliche Intelligenz, mit der sich zum Beispiel Wechselwirkungen von Substanzen mit Proteinen vorhersagen lassen; auch lassen sich damit Möglichkeit eines "Repurposing" auf Basis von Genexpressionsdaten überprüfen.

In Deutschland sieht der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) Regulierungsbedarf. In einem Positionspapier zum "Repurposing" fordert der Verband unter anderem, die Verwendung bereits vorhandener Daten für die Arzneimittelzulassung zu erleichtern.

Ebenso sollte es branchenspezifische Programme der Forschung und Entwicklung unter Einbeziehung der Versorgungsforschung geben. Der BPI befürchtet zudem eine unzureichende Honorierung solcher Innovationen, da sie – unabhängig vom therapeutischen Nutzen – automatisch in das Festbetragssystem eingruppiert würden.

Auch auf europäischer Ebene tut sich seit einiger Zeit etwas. Im Dezember will sich die Expertengruppe STAMP (Safe and Timely Access to Medicines for Patients) der Europäischen Kommission – Generaldirektion Gesundheit und Nahrungsmittelsicherheit – erneut der Optimierung regulatorischer Werkzeuge widmen, mit denen sich für Patienten der Zugang zu innovativen Medikamenten erleichtern lässt.

Dabei wird es auch um "Repurposing" gehen. Unter anderem soll eruiert werden, wie sich die Zusammenarbeit mit den pharmazeutischen Herstellern verbessern lässt.

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