Flüchtlingsversorgung

Sind wir kulturell darauf vorbereitet?

Die Leitung der Berliner Charité zieht Bilanz nach fünf Monaten erfolgreicher Flüchtlingsversorgung in Eigenregie. Das Fazit: Engagierte Menschen schaffen vieles, aber jetzt braucht es stabile Strukturen und einen medizinischen Dialog der Kulturen.

Philipp Grätzel von GrätzVon Philipp Grätzel von Grätz Veröffentlicht:
Screening einer Flüchtlingsfrau mit Röntgen-Thorax: Routineuntersuchung im Berliner Tuberkulose-Zentrum.

Screening einer Flüchtlingsfrau mit Röntgen-Thorax: Routineuntersuchung im Berliner Tuberkulose-Zentrum.

© Rainer Jensen / dpa

An einem Freitag im vergangenen August hatte die Leitung der Berliner Charité eine Intranet-Umfrage gestartet. Es sollte eruiert werden, wie viele Ärzte sich an der Versorgung von Flüchtlingen beteiligen würden. Nicht gerechnet hatte man dabei mit so einem schnellen Rücklauf: Über das Wochenende meldeten sich 130 Kollegen, viele weitere folgten.

 Wenige Tage später ging in der damals größten Flüchtlingsunterkunft in Spandau die erste Flüchtlingsambulanz in Betrieb. Drei Weitere folgten. Binnen weniger Tage waren alle Dienste bis Weihnachten abgedeckt. Mittlerweile wurden über 12.000 Menschen medizinisch versorgt.

"Wir haben die Politik damals nicht gefragt, ob wir die Ambulanz in Spandau eröffnen dürfen", erinnerte sich der stellvertretende Ärztliche Direktor der Charité, Privatdozent Joachim Seybold beim Deutschen Krebskongress. "Hätten wir es getan, hätte es viel länger gedauert."

Ohne das große, Engagement der Mitarbeiter hätte die Charité nicht leisten können, was sie geleistet hat. Aber natürlich hat persönliches Engagement Grenzen. "Was wir brauchen, sind nachhaltige, stabile Strukturen", betonte Professor Jalid Sehouli, Leiter der Klinik für Gynäkologie am Charité-Campus Virchow-Klinikum.

Diese "Strukturierung" ist in Berlin aktuell in vollem Gang, zumindest in der Akutversorgung. Schon früh stellte die Charité klar, dass die Flüchtlingsversorgung Teil der regulären Arbeits- oder Dienstzeit ist. Seit Januar gibt es jetzt eine feste Besetzung mit neu eingestellten Ärzten.

Der deutliche Rückstau bei der medizinischen Versorgung der Flüchtlinge in Berlin werde abgebaut, so Seybold. Anfang Februar wurden innerhalb einer Woche 1000 unbegleitete Minderjährige durchgeimpft, sodass sie direkt nach den Winterferien auf die Schulen verteilt werden konnten. Und am ersten März starten jetzt auch in Berlin die Erstuntersuchungen für Erwachsene, zunächst 400 am Tag.

Selbsthilfe ist bisher eine Zone ohne Migranten

Nun ist die rein medizinisch-administrative Versorgung der Flüchtlinge das eine. Eine ganz andere Frage ist, wie sich diese Menschen - völlig unabhängig vom Rechtsanspruch - ganz praktisch in die medizinische Versorgung integrieren lassen. Diese Frage stellt sich stärker bei chronischen als bei akuten Erkrankungen, und sie stellt sich natürlich auch bei Krebserkrankungen.

Hat die medizinische Versorgung in Deutschland genug "interkulturelle Kompetenz", wie es Sehouli ausdrückte? Oder ist der verglichen mit anderen Berufen hohe Anteil stationär tätiger Ärzte mit Migrationshintergrund schon alles, was die deutsche medizinische Versorgung an Interkulturalität aufzubieten hat?

Unangenehme Frage. Sehouli sieht in Deutschland noch enormen Nachholbedarf. Er hatte beim Krebskongress eine Umfrage unter 342 Patientinnen mit Migrationshintergrund (keine Flüchtlinge!) im Gepäck, die an Mamma- oder Ovarialkarzinom litten.

Die Ergebnisse sind erschreckend. So seien klinische Studien mit innovativen Medikamenten für Migranten ohne oder nur mit eingeschränkten Sprachkenntnissen verschlossen, so Sehouli, weil es keine Aufklärungs- und Informationsmaterialien in arabischer oder türkischer Sprache gebe.

 Und: Die Krebsselbsthilfe in Deutschland ist mehr oder weniger eine migrationsfreie Zone: "Die Kontakte zwischen Selbsthilfe und Menschen mit Migrationshintergrund sind minimal", so Sehouli. Die Sprecherin einer Selbsthilfegruppe, die sich anschließend zu Wort meldete, konnte das nur bestätigen.

Defizite gebe es auch auf wissenschaftlicher Seite, wie der Medizinethiker Professor Eckhard Nagel von der Universität Bayreuth betonte. Obwohl Deutschland seit Jahren ein bevorzugtes Ziel von Flüchtlingen ist, gebe es praktisch keine wissenschaftlichen Arbeiten zu flüchtlingsmedizinischen Themen, beispielsweise dazu, welche Erkrankungen in welcher Häufigkeit in Abhängigkeit von Herkunftsland und Fluchtweg auftreten.

Krebs kann auch Fluchtursache sein

Der Datenpool der Flüchtlingsambulanzen könnte hier erste Erkenntnisse liefern. Anlässlich des Krebskongresses hat Seybold eine natürlich in keiner Weise repräsentative Datenabfrage zu onkologischer Diagnosen vornehmen lassen. 108 von 1357 seit September stationär versorgten Flüchtlingen hatten Krebsdiagnosen, am häufigsten hämatologische Tumore.

 Da sieben von zehn Flüchtlingen, die einen Asylantrag stellen, unter 30 sind, passt das ins Bild.

Dass Krebs auch eine Fluchtursache sein kann, machte Seybold am Beispiel einer Frau mit Mammakarzinom aus Syrien deutlich. Sie verließ Aleppo, wo sie noch operiert worden war, weil sie die weitere medizinische Versorgung dort nicht gewährleistet sah. Über Land erreichte sie die Türkei, erhielt dort über Weihnachten und Neujahr dreimal Docetaxel, reiste weiter nach Deutschland und wird jetzt im Brustzentrum der Charité versorgt.

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