"Verständnis ist spärlich, Lob nur wie Almosen"

Von Klaus Brath Veröffentlicht:

Die Wirkungsgeschichte so manchen bedeutenden Geistes ist sonderbar. Sigmund Freud ist ein Musterbeispiel dafür. Von seinem im Alter von 43 Jahren veröffentlichten Hauptwerk "Die Traumdeutung" wurden in den ersten sechs Jahren gerade mal 351 Exemplare verkauft.

Freud klagte: "Verständnis ist spärlich, Lob nur wie Almosen." Auf Dauer gesehen fehlte es aber dann doch nicht an positiver Resonanz: Inzwischen, 150 Jahre nach seiner Geburt am 6. Mai 1856, gilt der Wiener Nervenarzt vielen weltweit als der Denker, der das Selbstverständnis des modernen Menschen geprägt hat wie kaum ein anderer vor oder nach ihm.

Und dennoch scheiden sich an Freuds Theorien bis heute die Geister: Der Erforscher des Unbewußten begründete nicht nur Theorie und Behandlungsverfahren der Psychoanalyse, sondern beeinflußte damit die Kultur und das Alltagsbewußtsein mindestens ebenso sehr wie die Medizin - dies bescheinigen selbst seine schärfsten Kritiker.

Chamäleonhafte Pseudowissenschaft?

Doch andererseits sei Freuds Psychoanalyse eine chamäleonhafte Pseudowissenschaft, viele Theorien seien antiquiert, ihre Forschungsmethodik ungeeignet und ihre Therapie ineffizient - daß diese Kritikpunkte vollständig widerlegt sind, glauben wohl nur seine treuesten Anhänger.

Nach der kosmologischen und biologischen Kränkung hat die Psychoanalyse die Menschheit schließlich am empfindlichsten getroffen.      
   

Wie Sigmund Freud selbst seine Bedeutung einschätzte, ist belegt: Die Entwicklung der Wissenschaften habe die Menschheit drei Mal schwer gekränkt: Kopernikus entdeckte, daß die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist. Darwin zeigte der vermeintlichen Krone der Schöpfung deren tierische Herkunft auf.

Nach der kosmologischen (Kopernikus) und biologischen (Darwin) Kränkung habe die Psychoanalyse die Menschheit schließlich am empfindlichsten getroffen, so Freud. Denn sie habe das Bewußtsein entmachtet und erklärt, "daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus".

Freud entwickelte seine psychoanalytische Theorie ständig weiter. Ihre Grundlagen - die Verdrängung seelischer Konflikte, die Instanzenlehre von Ich, Es und Über-Ich, die Propagierung der zentralen Bedeutung von Sexualität und individueller Entwicklungsgeschichte - sie alle erschienen zu Freuds Zeiten revolutionär.

Freud prägte das kollektive Bewußtsein

Heute sind psychoanalytische Denkfiguren wie Penisneid oder der Freudsche Versprecher, ob bewußt oder unbewußt, längst Teil des kollektiven Bewußtseins, Hirnforscher prüfen Freuds Theorien im Experiment - und die psychoanalytische Couch ist ein Symbol der Medizin.

STATIONEN

  • 6.5.1856 Geburt in Freiberg (heute Príbor, Tschechien) als Sohn jüdischer Eltern (Sigmund Freuds Vater war Stoffhändler).
  • 1873 Beginn des Medizinstudiums in Wien, seit 1877 Forschung am Wiener physiologischen Labor von Ernst Brücke.
  • 1882-1885 Anstellung am Allgemeinen Krankenhaus in Wien. Intensive Kokainexperimente.
  • 1885/6 Studienreise nach Paris zu dem Neurologen Jean-Martin Charcot; Konfrontation mit Hysterie und Hypnose.
  • 1886 Eröffnung einer Privatpraxis in Wien; Heirat mit Martha Bernays.
  • 1895 Veröffentlichung der "Studien über Hysterie" (zusammen mit Josef Breuer). Geburt der Tochter Anna, die als Kinderanalytikerin sein Lebenswerk fortsetzt.
  • 1899 Veröffentlichung der auf 1900 vordatierten "Traumdeutung".
  • 1902 Außerordentliche Professur für Neuropathologie an der Universität Wien.
  • 1905 Veröffentlichung von "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie".
  • 1910 Gründung der Internationalen Psycho-analytischen Vereinigung.
  • 1911/1913 Bruch mit Alfred Adler und Carl Gustav Jung, die eigene tiefenpsychologische Richtungen begründen.
  • 1923 Diagnose Mundhöhlenkrebs
  • 1930 Veröffentlichung von "Das Unbehagen in der Kultur"; Goethepreis der Stadt Frankfurt.
  • 1932 Briefwechsel mit Albert Einstein ("Warum Krieg?").
  • 1938 Erzwungene Emigration nach London.
  • 23.9.1939 Tod in London. 

Kein Wunder, daß die Freud-Literatur wieder einmal boomt. Das Spektrum der Neuerscheinungen im Freud-Jahr 2006 reicht von der Fachliteratur über das derzeit modische "Freud-Bashing", bei welchem dem Meister all seine Irrtümer, Fehler und menschlichen Schwächen vorgehalten werden, bis hin zur fast überbordenden Biographik.

Dabei führte Sigmund Freud (mit Ausnahme seiner letzten Lebensjahre) eigentlich ein recht unspektakuläres Leben. Patienten empfangen und schreiben - Freud gilt auch als begnadeter Schriftsteller und Stilist - dies war viele Jahre lang sein Arbeitsalltag.

Schließlich blieb der bedeutende Psychoanalytiker aber auch von Tragik nicht verschont: Nach dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich mußte er 1938 im hohen Alter von 82 Jahren nach London emigrieren. Dort ist der leidenschaftliche Raucher, der wegen eines Mundhöhlenkarzinoms über 30 mal operiert wurde, ein Jahr später - am 23. September 1939 - gestorben: durch eine Überdosis Morphin, in Absprache mit seinem langjährigen Arzt.

Lesen Sie dazu auch: Freuds Couch - Synonym für die Psychoanalyse Freuds Psychoanalyse ist in der Medizin noch immer von Bedeutung Jeder zweite glaubt nicht ans Unbewußte

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