Gesundheitswesen

Die Gratwanderung mit Big Data

Big Data-Technologien machen gesundheitsbezogene Datenozeane zugänglich. Das kann die Medizin enorm voranbringen - wenn der Rahmen stimmt.

Philipp Grätzel von GrätzVon Philipp Grätzel von Grätz Veröffentlicht:

HEIDELBERG. In dem vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg koordinierten, deutschlandweit an 55 kinderonkologischen Zentren stattfindenden INFORM-Projekt wird derzeit bei etwa 150 Kindern pro Jahr mit Rezidiven einer Tumorerkrankung das komplette Tumorgenom sequenziert.

Eine Software ergänzt das um klinische Daten, gleicht alles mit diversen Forschungsdatenbanken und der jeweils aktuellen Fachliteratur ab und generiert daraus konkrete Therapieempfehlungen.

Was in der Kinderonkologie erprobt wird, ist medizinische BigData-Analytik in Aktion: Große Mengen an Informationen unterschiedlicher Datenquellen werden gemeinsam analysiert.

Am Ende entscheidet der Arzt, was er daraus macht und ob er die Vorschläge der Algorithmen für relevant erachtet. In diesem Punkt unterscheidet sich die Big-Data-Analytik nicht von anderer Diagnostik.

Hilfe bei Therapieentscheidung

Big-Data-Technologien können bei Therapieentscheidungen helfen, sie können aber auch dem klinisch forschenden Arzt unmittelbar zur Hand gehen.

Professor Hans-Ulrich Prokosch vom Universitätsklinikum Erlangen berichtete kürzlich bei der E-Health Week in Riga davon, wie in Erlangen klinische Daten und molekulare Daten aus Biobanken in einer gesicherten Datenbank zusammengeführt werden.

Klinische Forscher können sich jetzt an den Rechner setzen, eine Software aufrufen und nach Patienten mit bestimmten klinischen und molekularen Charakteristika suchen. "Das kann bei der Planung klinischer Studien extrem hilfreich sein", so Prokosch.

Bisher war der Aufwand dafür so hoch, dass es kaum gemacht wurde. Abfragen hatten wochenlange Bearbeitungszeiten.

Das ist vorbei: "Die Ärzte haben uns gebeten, sie mit den Daten spielen zu lassen. Das geht jetzt."

Man kann bei medizinischen Big-Data-Szenarien viele Perspektiven einnehmen. In den USA schwer en vogue ist das Population Health Management. Dabei führen Health Maintenance Organisationen (HMO) ihre Datenbanken zusammen und korrelieren medizinische mit sozialen oder geografischen Daten.

Königsdisziplin ist die prädiktive Analytik, die versucht vorherzusagen, welche Individuen oder Familien ein hohes Risiko für Erkrankungen, Klinikeinweisungen oder Kindesmissbrauch haben.

Daten wecken Begehrlichkeiten

Der Gedanke, für solche Szenarien auch Daten zu nutzen, die Bürger selbst mit Hilfe diverser Geräte aufzeichnen, liegt nahe. Und es gibt HMO, die das bereits anbieten. Hier werden dann aber auch die Schwierigkeiten ganz besonders deutlich.

Rabatte von Versicherungen für Menschen, die bestimmte Präventionsbemühungen digital dokumentieren, haben es auch in Deutschland schon in die Tageszeitungen geschafft. In Ländern wie Südafrika, Großbritannien und den USA gibt es so etwas bereits.

Das Problem ist klar: "Der Prämienvorteil des einen ist der Prämiennachteil des anderen", wie es die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Christiane Woopen, in der vergangenen Woche bei der Jahrestagung des Rates formulierte.

Datensicherheit ist natürlich auch Thema. Große Datenmengen wecken große Begehrlichkeiten. Das müssen gar keine kriminellen Arbeitgeber sein. Relevanter ist Datenklau. Schon heute werden medizinische Datensätze auf dem Schwarzmarkt gehehlt. Das Geschäftsmodell? Prominente herausfischen und sie erpressen.

Es gibt aber auch grundsätzlichere Bedenken, etwa jene, ob es wirklich wünschenswert ist, in einer Gesellschaft zu leben, die Gesundheit und nicht ein etwas weniger eindimensional gefasstes Wohl des Einzelnen als höchstes Gut betrachtet.

Was hier auch hinein spielt, ist die Frage, wie zuverlässig Aussagen, die auf Big-Data-Analytik beruhen, überhaupt sein können. Korrelation ist nicht Kausalität, das wird oft betont.

Aber erst das konkrete Beispiel macht das wirklich greifbar: Wollen wir ein digitales Frühwarnsystem für Kindesmissbrauch, wenn der Preis dafür ist, dass eine weit größere Zahl an Familien unberechtigt unter Generalverdacht gestellt wird?

Schritt in Richtung "europäische digitale Union"

Überlegungen dieser Art führen zu der Frage, ob und wie "Big-Data" staatlich reguliert werden sollte. Frank Rieger vom Chaos Computer Club wandte sich auf der Jahrestagung des Deutschen Ethikrats gegen eine Technikregulierung und plädierte stattdessen für eine Wertdebatte. Die könnte zum Beispiel in einer konkreten, strafrechtlich fundierten Anti-Diskriminierungs-Gesetzgebung münden.

Der Vorteil einer solchen "technologieagnostischen" (Rieger) Regulierung ist, dass die Techniken selbst weiterentwickelt und genutzt werden könnten, ohne sie auszubremsen.

Wie wichtig das ist, verdeutlichte der EU-Kommissar für Digitalwirtschaft Günther Oettinger: Technik lasse sich nicht aufhalten, sondern nur gestalten.

Und wenn Europa nicht wolle, dass die Gestaltung ausschließlich merkantilen Interessen folge, dann müsse es in diesem Markt selbst aktiver werden und nicht nur Autos, sondern auch digitale Produkte und nicht zuletzt Werte exportieren. Oettinger plädierte für eine europäische Digitalstrategie.

Nur wenn die EU bei der Regulierung einheitlich agiere, könne sie jene Marktmacht aufbauen, die in der digitalen Ökonomie nötig ist, um wirklich Einfluss zu nehmen und den oft gehörten Satz mit Leben zu erfüllen, der besagt, dass, wer "bei uns" Geld verdiene, sich an "unsere" Regeln halten müsse.

"Das Landesdatenschutzgesetz von Baden-Württemberg wird bei Facebook weder gelesen noch übersetzt noch archiviert noch befolgt", so Oettinger, und er klang nicht so, als ob er dafür kein Verständnis hätte.

Ein zentraler Schritt in Richtung einer "europäischen digitalen Union" ist für Oettinger die Umsetzung der seit zwei Jahren im Europarat auf Eis liegenden und nicht zuletzt für den Gesundheitssektor und für medizinische Big-Data-Anwendungen relevanten europäischen Datenschutzgrundverordnung.

Sie wird auch von Deutschland blockiert. Aber europäische Einheitlichkeit bedeutet immer, dass jeder Abstriche machen muss. Nochmal Oettinger: "Wenn andere es nicht befolgen, hat das deutsche Datenschutzrecht nur sehr eingeschränkten Wert."

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