Migranten

Akutversorgung klappt in der Regel, es hapert bei psychischen Leiden

Bei der Versorgung psychisch kranker Migranten gibt es noch Defizite, so PD Dr. Joachim Seybold, Charité Berlin. Die Klinik bietet zwar eine Anlaufstelle für Betroffene. Es sei aber schwer, Patienten nach einer Kurzintervention in die ambulante Versorgung weiterzuvermitteln.

Von Nicola Siegmund-Schultze Veröffentlicht:
Arzt untersucht Flüchtlingskind in einer Notunterkunft im ehemaligen Flughafen Tempelhof.

Arzt untersucht Flüchtlingskind in einer Notunterkunft im ehemaligen Flughafen Tempelhof.

© Nietfeld/dpa

Als im Herbst 2015 in kurzer Zeit mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kamen, war die Hilfsbereitschaft auch bei Ärzten sowie Krankenschwestern und -pflegern bekanntlich groß. Das erste Krankenhaus, das eine Grundversorgung direkt in den Flüchtlingsunterkünften gewährleistete, war dabei in Berlin die Charité .

An einem Freitag Ende August habe er per Mail klinikintern angefragt, ob Mitarbeiter ehrenamtlich helfen könnten, erinnert sich Privatdozent Dr. Joachim Seybold, Stellvertretender Ärztlicher Direktor der Charité. "Drei Tage später hatte ich 130 Zusagen", berichtete er beim DGIM-Kongress in Mannheim. Mit so viel Resonanz habe er nicht gerechnet. Rasch wurde eine täglich achtstündige medizinische Erstversorgung in den Unterkünften organisiert. Inzwischen seien Ärzte, Schwestern und Pfleger speziell für diese Tätigkeit eingestellt worden.

"Wir sind mit unserem Projekt auf das Robert Koch-Institut (RKI) zugegangen, um einen Kontakt in die Gesundheitspolitik zu haben und, falls erforderlich, unsere Expertise zur Erarbeitung von Leit- oder Richtlinien anzubieten", berichtete Seybold. Inzwischen habe es circa 62.500 Konsultationen in diesem Programm gegeben. Eine gemeinsam mit dem RKI vorgenommene Analyse von 5389 Konsultationen liefere wichtige epidemiologische Daten über die Gesundheitsprobleme von Flüchtlingen.

Nur sechs Mal Verdacht auf Tuberkulose

Danach waren die in Berlin angekommenen Migranten durchschnittlich 20 Jahre alt, vom Neugeborenen bis zum 86-Jährigen. 56 Prozent der Asylsuchenden waren männlich. Zwei Drittel stammten aus dem Nahen und Mittleren Osten. Bei den meisten Konsultationen (87 Prozent) gab es nur eine ärztliche Diagnose, 13 Prozent hatten mindestens zwei oder mehr Diagnosen. "Die überwiegende Zahl von 6160 Diagnosen entsprach dem allgemeinmedizinischen Spektrum", so Seybold. "Knapp zwei Drittel waren Infektionskrankheiten, und davon betrafen 70 Prozent als Akutinfektionen die oberen Atemwege." Zwölf Prozent der Diagnosen waren Gastroenteritis, sieben Prozent akute Bronchitiden oder Pneumonien und die übrigen Haut- oder andere Infektionen. Sechs Diagnosen waren Tuberkulose, Verdacht auf TB oder Zustand nach Tuberkulose.

Bei den nicht-infektiösen Erkrankungen betrafen 26 Prozent den Verdauungstrakt, 21 Prozent die Haut und 12 Prozent das Herz-Kreislauf-System. Würden Flüchtlinge stationär aufgenommen, sei allerdings die vergleichsweise häufige Besiedelung von Migranten mit hochresistenten gramnegativen Erregern ein großes Problem, ebenso mit vancomycinresistenten Enterokokokken. Während die Grundversorgung der Flüchtlinge bei körperlichen Erkrankungen in Berlin im Großen und Ganzen gut funktioniere, gebe es eine deutliche Unterversorgung bei den psychiatrischen Erkrankungen, auch aufgrund von Sprachbarrieren.

Seit Februar 2016 hat die Charité eine Clearingstelle für psychiatrische Erkrankungen eingerichtet. Diese bietet kultursensibel eine diagnostische Einschätzung und gegebenenfalls eine Kurzintervention. Betroffene werden in ambulante Angebote weitervermittelt. Mehr als 3500 Erwachsene, Jugendliche oder Kinder wurden dort behandelt. 95 Prozent hatten eine psychiatrische Diagnose, am häufigsten eine affektive Störung oder eine posttraumatische Belastungs- und Anpassungsstörung, so Seybold.

Dolmetscher-Kosten sind ein Problem

Es gebe Behandler für Erwachsene, darunter einen arabisch sprechenden Arzt, und für Kinder. Fünf bis sechs Sitzungen pro Patient seien in der Clearingstelle möglich, danach aber müsse die Therapie in psychiatrischen Institutsambulanzen oder im niedergelassenen Bereich erfolgen. Eine gute Verständigung sei unerlässlich für die Therapie. "Die Clearingstelle arbeitet kontinuierlich mit Dolmetschern zusammen", so Seybold. Für niedergelassene Fachärzte sei es ein deutlicher Mehraufwand, Dolmetscher zu organisieren, vor allem aber auch, die Kosten-Übernahme für eine Übersetzungstätigkeit zu beantragen. "Die Daten der KV Berlin zeigen eine Ungleichverteilung: Es gibt Praxen, in denen vergleichsweise viele Flüchtlinge behandelt werden, und solche die sehr wenige behandeln. Es wäre viel gewonnen, wenn sich die Belastung etwas angleichen würde."

Eine generelle Gesundheitskarte für Flüchtlinge würde vermutlich den Zeit- und Abrechnungsaufwand für Ärzte vermindern, sagte der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), Professor Ulrich R. Fölsch. Die DGIM werde weiterhin in Gesprächen mit Kommunen und Bezirksregierungen darauf hinwirken, dass Migranten und Flüchtlinge flächendeckend Versicherungskarten erhalten. In sechs Bundesländern sei diese Forderung umgesetzt. Nun müssten die anderen folgen.

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