Europäischer Gesundheitskongress

Innovative Versorgungsformen: Regionale Budgets können ein Motor sein

In Valencia tragen die Regionalregierungen die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung vor Ort. In seiner radikalen Form wäre das Modell auf Deutschland aber wohl kaum übertragbar, heißt es beim Europäischen Gesundheitskongress.

Michaela SchneiderVon Michaela Schneider Veröffentlicht:
Regionale Budgets können ein Instrument sein, um Gesundheitsregionen zu stärken: Professor Dr. Franz Benstetter, Prodekan der Fakultät für Angewandte Gesundheits- und Sozialwissenschaften an der Technischen Hochschule Rosenheim.

Regionale Budgets können ein Instrument sein, um Gesundheitsregionen zu stärken: Professor Dr. Franz Benstetter, Prodekan der Fakultät für Angewandte Gesundheits- und Sozialwissenschaften an der Technischen Hochschule Rosenheim.

© Michaela Schneider

München. Im spanischen Valencia beschloss man schon im Jahr 2002: Die 17 Regionalregierungen werden künftig mit einem regionalen, aus Steuern finanzierten Budget ausgestattet und tragen fortan die finanzielle und administrative Verantwortung für die regionale Gesundheitsversorgung. Das System hat Bestand bis heute.

Die stationären Leistungen und damit einhergehend die medizinischen und operativen Kosten sanken in Folge, Wartezeiten reduzierten sich. Gleichzeitig hat sich die Patientenzufriedenheit erhöht.

Beim Europäischen Gesundheitskongress in München zog Professor Dr. Franz Benstetter, Prodekan der Fakultät für Angewandte Gesundheits- und Sozialwissenschaften an der Technischen Hochschule Rosenheim, das Beispiel in einem Impulsvortrag heran, um zu zeigen: Regionale Budgets können dabei helfen, Gesundheitsregionen zu stärken.

Im aktuellen Koalitionsvertrag der Ampel sind Gesundheitsregionen erwähnt. Dort heißt es wörtlich: „Zudem erhöhen wir die Attraktivität von bevölkerungsbezogenen Versorgungsverträgen (Gesundheitsregionen) und weiten den gesetzlichen Spielraum für Verträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern aus, um innovative Versorgungsformen zu stärken.“

Ein sogenanntes Capitation-Modell mit regionalem Gesundheitsbudget wie im Falle Valencias würde weiter reichen: Im radikalen Fall würde es eine Abkehr von der Einzelleistungsvergütung pro Patient und Leistung bedeuten hin zu einer stark pauschalierten Form der Vergütung, die nicht am Behandlungsfall, sondern am Versicherten ansetzt.

Patienten stimmen mit den Füßen ab

Als Chancen nannte Benstetter Anreize zur Verbesserung von Qualität und Wirtschaftlichkeit, die am Bedarf und nicht an Sektorengrenzen orientierte Organisation der Leistungserbringungen, die Belohnung von Prävention und Koordination sowie eine regionale Gestaltungsfreiheit.

Dem stellte er als Herausforderung eine ausgewogene Verteilung der finanziellen Risiken zwischen Leistungserbringern und Kostenträgern und eine starke Ausgestaltung der Qualitätsanreize gegenüber, um exzessive Kostenvermeidungsstrategien zu unterbinden.

Wie sieht dies in der Praxis in Valencia aus? Vorneweg stimmen Patienten mit den Füßen ab, basierend auf dem Prinzip „Money follows the patient“, das fördert den Qualitätswettbewerb zwischen den Regionen. Außerdem können durch hohe medizinische Qualität Zusatzeinnahmen erzielt werden. Und: Die Qualitätsmessung wird stetig weiterentwickelt.

Das Modell funktioniert laut dem Prodekan, weil zum einen die Regionalregierung professionell unterstützt wird und zum anderen, weil auch die Bewohner der entsprechenden Regionen das Modell akzeptieren, wenn Zugang, Qualität und staatliche Aufsicht sichergestellt sind. Als weitere Treiber für Effizienz- und Qualitätseffekte nannte Benstetter digitale Technologien und Kommunikation, Skalenerträge und Fixkostendegression durch eine Zentralisierung im stationären Bereich.

System in Deutschland krankt

„Corona war wie ein Katalysator, der gezeigt hat: Wir müssen darüber nachdenken, wie wir das Gesundheitssystem in Zukunft vielleicht anders gestalten können“, sagt der Gesundheitsökonom – und legte eine lange Liste an Herausforderungen vor: den finanziellen Druck und die Diskussion um eine Rationierung, die Fallzahlenfokussierung, regionale Kostenunterschiede, unterschiedliche Vorhaltekosten, Disparitäten im Zugang zur Versorgung, rigide Sektorengrenzen, die hohe Regulierungsdichte und den großen Kontrollaufwand.

Mit der Pandemie kamen weitere Schwierigkeiten wie der Fachkräftemangel ein erwarteter wie unerwarteter Fallzahlenrückgang und etwa auch die Freihaltepauschalen dazu. Kurzum: Das stationäre Gesundheitssystem in Deutschland krankt. Zu einer radikalen Kehrtwende hin zu einem Capitation-Modell wird es in näherer Zukunft dennoch kaum kommen, darüber herrschte auf dem Podium Einigkeit. Aber: Benstetter appellierte, aus internationalen Erfahrungen zu lernen und hierzulande Dinge schrittweise „einfach mal auszuprobieren.“ Es gebe nicht das perfekte Vergütungssystem.

„Hohes Maß an Autonomie für Regionen“

„Wer, wenn nicht die Region, soll über deren Bedürfnisse entscheiden? Ich glaube, dass ein hohes Maß an Autonomie in die Region muss“, ermutigte auch Dr. Max von Holleben, kaufmännischer Leiter des RoMed Klinikums Rosenheim, zum Umdenken. Strukturthemen sollten auf Bundesebene geformt und dieser Rahmen dann auf Landesebene gefüllt werden, regte Dr. Irmgard Stippler, Vorstandsvorsitzende der AOK Bayern, an – und sprach sich dafür aus, flexibler zu schauen, „was brauch‘ ich stationär, was brauch‘ ich ambulant“.

„Versorgung findet immer in der Region statt, deshalb bietet es sich an, Neues dort auszuprobieren“, sagte auch Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK Gesundheit. Man könne aber aus dem deutschen Gesundheitsweisen kein regionalisiertes Gesundheitswesen machen, dafür seien die Strukturen hierzulande zu komplex vernetzt. Capitation-Ansätze als Weiterentwicklung von Selektivverträgen könnten für Deutschland allerdings interessant sein.

Schweizer Modell scheiterte – und erlebt eine Renaissance

In dieses Bild passten auch die Erfahrungen der Schweiz, die Dr. Konstantin Beck, Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Luzern, schilderte. Dort hatten regionale Budgets zwischen 1997 und 2007 eine relevante Rolle gespielt, allerdings basierend auf dreifacher Freiwilligkeit für Versicherer, Versicherte und Ärzte.

Zwar konnten erhebliche Effizienzgewinne nachgewiesen werden, das Unbehagen mit Blick auf die hohe Risiko-Situation führte aber am Ende zum Rückbau der Budgets und zu deren Scheitern. Mittlerweile aber denkt man in der Schweiz über eine verbesserte Wiederauflage nach: Mittels einer Rückversicherung der Hochrisikofälle könnte, so die Idee, das Risiko der Capitation-Nehmer gezielt dosiert werden.

Und wie stehen hierzulande die Chancen, die Politik für Veränderungen zu gewinnen? „Nie war die Zeit für Veränderungen so günstig wie heute. Die Politik wird eher in Erklärungsnot kommen, wenn sie nichts tut“, so der hoffnungsvolle Ausblick von Michael Kilb, Vorstand Gesundheit Dianoneo, ein gemeinnütziges Gesundheits- und Sozialunternehmen, mit 200 Einrichtungen in Bayern, Baden-Württemberg und Polen.

Auch wenn ihm dabei das Herz blute: Er sehe derzeit keine politische Mehrheit für großformatige Reformen, hielt Martin Degenhardt, Geschäftsführer Freie Allianz der Länder KVen (FALK), entgegen. Er appellierte deshalb, „den Rechtsrahmen, den wir haben, zu nutzen und kleine regionale Veränderungen hinzubekommen“.

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