Impfen

Grundimmunisierung bleibt für jedes zweite Kind ein unerreichtes Ziel

Aus Anlass der Weltimpfwoche weist UNICEF auf die Gefahren eines defizitären Impfstatus von Kindern hin. Das soziale Destabilisierungspotenzial einer ungeschützten jungen Generation ist dabei enorm.

Matthias WallenfelsVon Matthias Wallenfels Veröffentlicht:
Von Taliban nicht gerne gesehen: Eine Impfhelferin impft in Kandahar gegen Polio.

Von Taliban nicht gerne gesehen: Eine Impfhelferin impft in Kandahar gegen Polio.

© Photoshot/dpa

Masern, Polio oder auch Tetanus haben das Potenzial, krisengebeutelte Länder weiter zu destabilisieren und sie damit noch tiefer ins Chaos zu stürzen. Nicht zuletzt mit dem Ziel, dieses geopolitisch bedrohliche Szenario möglichst nicht wahrwerden zu lassen, steht die gegenwärtige Weltimpfwoche unter dem Motto "Protected Togehter. #VaccinesWork". Denn Impfungen sind ein Schlüssel zu stabileren Gesellschaften – und damit auch Staaten. Denn physische und mentale Gesundheit ist eine essenzielle Voraussetzung, Bildungsangebote gezielt für ein Arbeitsleben zu nutzen – und damit das Fundament für eine prosperierende Gesellschaft zu legen.

Nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks UNICEF sterben jährlich aber immer noch schätzungsweise 1,5 Millionen Kinder unter fünf Jahren weltweit an Krankheiten, vor denen sie durch verfügbare Impfungen geschützt gewesen wären. Jedes vierte Kleinkind stürbe weltweit an Pneumonie, Masern oder Durchfallerkrankungen. Ein Großteil der Ansteckungen hätte, wie UNICEF anlässlich der Weltimpfwoche betont, durch Impfungen vermieden werden können.

Die Crux dabei: Während sich in Deutschland und anderen Industrieländern vor allem intellektuelle Impfgegner bewusst dagegen entscheiden, ihre Kinder impfen zu lassen – so dass in der Folge gesundheitspolitische Debatten über einen Impfzwang geführt werden –, tragen die Entwicklungs- und Schwellenländer die Hauptlast der gefährlichen Krankheiten. UNICEF und viele Hilfsorganisationen versuchen, mit für sie teils lebensgefährlichen Aktionen möglichst vielen Kindern eine Grundimmunisierung zukommen zu lassen.

Knackpunkte sind in vielen Regionen der kulturelle Kontext und das traditionelle Medizinverständnis, die als hohe Hürden für die Hilfsorganisationen gelten. So kommt es gerade in ärmeren Ländern mit stark fundamental religiösen Tendenzen immer wieder zu tödlichen Angriffen auf freiwillige Impfhelfer – exemplarisch hierfür stehen die Taliban in Afghanistan.

Oft Desinteresse an belastbaren Strukturen

Doch nicht nur die religiöse Komponente ist eine große Klippe, die umschifft werden muss, sollen möglichst viele Kinder weltweit den nötigen Impfschutz genießen. In vielen laizistischen Ländern herrschen oft desaströse und defizitäre Strukturen im Gesundheitswesen vor, in die die Bevölkerung zudem kein Vertrauen hat – wie die jüngste Ebola-Epidemie in Westafrika offenbarte.

Weitere Imponderabilien auf dem Weg zum Aufbau funktionierender Gesundheitswesen inklusive kostenfreier Impfmöglichkeiten stellen korrupte, kleptokratisch-nepotistische Clanstrukturen in Regierung und Wirtschaft dar, die nicht vordringlich am Wohlergehen ihrer Bevölkerung interessiert sind.

Auch UNICEF weist auf die Problematik hin: Das Kinderhilfswerk schätzt, dass zwei Drittel der nicht geimpften Kinder in einem Konfliktland oder fragilen Staat ohne funktionierendes Gesundheitssystem leben – verbunden mit dem Hinweis auf Syrien.

In dem nahöstlichen Staat herrscht seit sieben Jahren Bürgerkrieg, der Fall von Aleppo im Dezember 2016 demonstrierte mit Beschuss von Krankenhäusern und medizinischem Personal wie auch ehrenamtlichen Krisenhelfern, wie menschenverachtend und marodierend die einzelnen Bürgerkriegsparteien ihre Ziele verfolgen.

Syrien verdeutlicht aber auch, wie wichtig Impfungen sind. Polio galt dort als eradiziert, 2013 sind erstmals wieder Fälle aufgetreten, weil im Bürgerkrieg vielerorts das Gesundheitssystem zusammengebrochen ist und Routineimpfungen nicht mehr überall stattfanden.

Deutschland und Europa keineswegs außen vor

Die Poliofälle in Syrien verdeutlichen aber auch die potenzielle internationale Dimension eines defizitären Impfstatus. Durch die bürgerkriegsbedingte Migration nach Europa besteht auch auf dem alten Kontinent eine potenzielle Ansteckungsgefahr.

Deutschland dürfte hier gut gewappnet sein, da in den Erstaufnahmestellen auch der Impfstatus erhoben und bei Defiziten vakziniert wird. Basierend auf den Daten des Robert Koch-Institut "geht durch den Zuzug von Asylsuchenden und Flüchtlingen keine relevant erhöhte Infektionsgefährdung der allgemeinen Bevölkerung aus", wie es in einer Antwort der Bundesregierung Mitte April auf eine kleine Anfrage der AfD-Fraktion zur "Entwicklung mehrerer Krankheiten in Deutschland" heißt.

Dass das deutsche Modell vorbildlich ist, wird bei einem Blick nach Bangladesch klar. Dort kam es im vergangenen Jahr in einem Flüchtlingscamp für Angehörige der Rohingya aus Myanmar zu einem Cholera-Ausbruch, was zu einer Blitz-Impfaktion von UNO und UNICEF mit der Verimpfung von 900.000 Vakzinedosen führte.

Es ist zwar nur ein kleiner Trost, aber immerhin hat UNICEF nach eigener Aussage im Zeitraum 2000 bis 2016 rund 1,9 Milliarden Kinder weltweit immunisiert. Allein im Jahr 2016 seien rund 2,5 Milliarden Impfdosen für rund 100 Länder bereitgestellt und damit 45 Prozent aller Kinder weltweit mit Impfstoffen versorgt worden – bei weniger als umgerechnet 70 Cent pro Dosis Fünffach-Impfstoff.

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