Unklare Schmerzen, unklare Anämie

Hämoglobinopathien werden durch Migration häufiger

Genetisch bedingte Bluterkrankungen waren in Deutschland früher selten. Aufgrund der Flüchtlingsbewegung wird eine entsprechende Differenzialdiagnostik bei Anämie immer häufiger notwendig.

Von Nicola Siegmund-Schultze Veröffentlicht:

Der 17-jährige Patient aus Ghana wird mit Oberbauchschmerzen und Ulcus cruris ins Universitätsklinikum HamburgEppendorf eingewiesen. Die Laboruntersuchung des Bluts ergibt einen Hämoglobinwert von 9,6 g/dl und eine etwas erhöhte Retikulozytenkonzentration, das Bilirubin ist erhöht, Entzündungsparameter sind normal. Eine Dopplersonografie der Beingefäße zeigt keine Auffälligkeiten, aber die Milz ist im Ultraschall des Abdomens inhomogen, die Mark-Rinden-Differenzierung der Niere verwaschen, es wird eine Cholelithiasis diagnostiziert. Ein Abstrich aus der Wunde enthält Staphylococcus aureus.

Hämoglobin- und DNA-Analyse ergeben schließlich die Diagnose: eine homozygote Form der Sichelzellerkrankung kombiniert mit einer a-Thalassämie. Es besteht eine Autosplenektomie, also ein kompletter Funktionsverlust des Organs. Behandelt wird mit vorübergehender Antibiose und Immobilisierung, dann partiellen Austauschtransfusionen alle vier Wochen. Der Patient erhält Nitrospray, das er bei akuten Schmerzzuständen auf die Umgebung der Wunde sprüht. Dadurch erweitern sich die Blutgefäße um die Wunde herum, der Schmerz löst sich.

Dr. Regine Grosse, Oberärztin an der Klinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, stellte die Kasuistik beim Internistenkongress in Mannheim vor. "Zwar ist Eisenmangel noch immer die häufigste Ursache für eine Anämie, aber Ärzte müssen bei Migranten mit Anämie in der Differenzialdiagnostik auch an erbliche Formen von Hämoglobinopathien denken", sagte Grosse.

Screening auf Sichelzellanämie sinnvoll

Genetisch determinierte Hämoglobinopathien und Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel (G6PDH) seien in Deutschland keine Seltenheit mehr. 17,1 Millionen Menschen hätten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes einen Migrationshintergrund und damit circa 20 Prozent der Bevölkerung, in Hamburg sei es fast die Hälfte der Einwohner unter 18 Jahren. "In Regionen und Städten mit hohem Zuwanderungsanteil wäre ein Neugeborenen-Screening auf Sichelzellanämie sinnvoll", sagte Grosse. Auf Thalassämien lasse sich nicht screenen. "Auch gesunde schwangere Frauen können Anlageträgerinnen sein, dies sollte bei entsprechender Herkunft und/oder positiver Familienanamnese abgeklärt werden."

Unklare Schmerzzustände und Paresen bei Anämie, Hämolyse, Gefäßverschlüsse, Ikterus, Sehstörungen, Vergrößerung von Milz und Leber, Autosplenektomie, Ulcus cruris – all dies könne bei Patienten aus Ländern mit erhöhter Prävalenz erblicher Bluterkrankungen wie dem Nahen und Mittleren Osten oder Afrika auf eine genetische Ursache hindeuten. Ärzte im stationären und im niedergelassenen Bereich müssten sich vermehrt auf diese früher seltenen Erkrankungen einstellen. Die Sichelzellanämie sei eine Multiorganerkrankung.

Hämoglobin ist ein tetrameres Protein, das aus jeweils zwei a- und zwei ß-Globin.Ketten besteht. Bei der a-Thalassämie (arabischer Raum) ist die Synthese des a-Globins vermindert, bei der ß-Thalassämie (türkischer Raum) die des ß-Globins und bei der Sichelzellerkrankung (HbS) ist die Hämoglobinsynthese aufgrund einer Mutation im ß-Globin-Gen verändert.

Vor Transfusion EDTA-Blut entnehmen

"Wenn Patienten mit solchen Erkrankungen transfundiert werden müssen, ist es wichtig, vor der Transfusion ein Röhrchen mit EDTA-Blut zu entnehmen für den Fall, dass eine Hämoglobinanalyse indiziert sein sollte", sagte Grosse. "Wenn der Patient transfundiert ist, sind solche Untersuchungen nicht mehr möglich." Genetische Analysen können bei einer HbS-Diagnostik dann angezeigt sein, wenn es Verdacht gebe auf eine Kombination mit a- oder ß-Thalassämien.

Bei heterozygoten ß-Thalassämien besteht häufig eine milde, mikrozytäre Anämie – eine wichtige Differenzialdiagnose zur Eisenmangelanämie (Internist 2016; 57: 444-451). Ein Blutbild mit Retikulozytenzahl, Serumferritin und -haptoglobin ermöglicht, die Erkrankung auf Basis einer relativ hohen Erythrozytenzahl und einer leichten Retikulozytose von der Eisenmangelanämie zu unterscheiden.

Homozygote ß-Thalassämien sind sehr schwere Erkrankungen. Sie erfordern regelmäßige Bluttransfusionen mit gleichzeitiger Chelattherapie, um Eisenüberladung zu vermeiden. Bei Migranten, die keinen Anspruch auf volle Übernahme von in Deutschland üblichen medizinischen Leistungen haben, sei die Beantragung solch kostenintensiver Therapien oft ausgesprochen mühsam, so die Erfahrung von Ärzten, die beim Symposium mitdiskutierten. Die einzige kurative Therapie für schwere Formen von Thalassämie oder Sichelzellanämie seien allogene Stammzelltransplantationen, erläuterte Grosse. Solange Migranten keinen vollen Anspruch auf Leistungen aus dem Gesundheitssystem haben und die Sozialämter zum Beispiel ihre medizinische Versorgung finanzierten, würden Stammzelltransplantationen praktisch nicht durchgeführt.

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