Impfschutz gegen eine Grippepandemie wird dringend benötigt

Von Heikki Peltola, David Fedson, Robert Booy und Heinz-J. Schmitt

Veröffentlicht:

Es ist zu befürchten, daß wir über kurz oder lang auf eine neue globale Influenza-Pandemie zusteuern. Historiker schätzen, daß im Rahmen der berüchtigten Influenza-Pandemie von 1918 rund 50 bis 100 Millionen Menschen starben - hauptsächlich Kinder und junge Erwachsene. Seitdem ist die Weltbevölkerung auf das Dreifache angewachsen. Heute könnte eine solche Pandemie demnach 150 bis 300 Millionen Todesfälle verursachen.

Das entspricht der Gesamtzahl an Menschen, die im 20. Jahrhundert durch Kriege und verbrecherische Regime ums Leben kamen. Sie würden jedoch nicht innerhalb von 100 Jahren sterben, sondern innerhalb von ein bis zwei Jahren. Medikamente gegen das Virus können das Problem alleine nicht lösen.

Jährlich werden 300 Millionen Dosen Grippevakzine verimpft

Während der Pandemie von 1918 war noch kein Influenza-Impfstoff verfügbar, und auch während der Pandemie von 1968 wurde nur sehr wenig Impfstoff eingesetzt. Heute ist die Situation grundsätzlich anders. Weltweit nähert sich der Einsatz von Influenza-Impfstoffen der Marke von 300 Millionen Dosen pro Jahr. Allerdings werden 90 Prozent davon in nur neun Industrieländern hergestellt, in denen wenig mehr als ein Zehntel der Weltbevölkerung lebt.

Was also muß getan werden, wenn die Welt angemessen mit Impfstoff versorgt werden soll, um der nächsten Pandemie Paroli bieten zu können? Aktuelle Influenza-Impfstoffe enthalten drei verschiedene Influenza-Virus-Stämme.

Der Impfstoff, der die nächste Pandemie eindämmen soll, wird hingegen nur gegen das eine, die Pandemie verursachende Virus gerichtet sein. Die benötigte Menge an abgetötetem Virus pro Impfdosis könnte durch ein Adjuvans, wie es bereits in Kinderimpfstoffen eingesetzt wird, um das vier- bis achtfache verringert werden. Dies machte es theoretisch möglich, mehr als drei bis sechs Milliarden Dosen Pandemie-Impfstoff herzustellen.

Keine Vogelgrippe-Vakzine zur Massenproduktion verfügbar

Trotz erhöhter Besorgnis wurde seit 1997 bis heute noch kein Impfstoff gegen die sogenannte Vogelgrippe für eine Massen-Produktion entwickelt. Der Grund: Vogel-Influenza-Viren lassen sich nicht adäquat in Hühnereiern anzüchten. Im Februar 2003 isolierten Virologen erstmals ein Vogelgrippe-Virus von einem Patienten in Hongkong, das diese Situation änderte.

Mit Hilfe der reversen Genetik stellten sie ein verändertes, in seiner Struktur genau bekanntes Virus her, das für die Impfstoffproduktion auf Hühnerei-Basis geeignet ist. Sie hatten dafür nur einige Wochen gebraucht. Derzeit wiederholen sie dieses Verfahren mit einem Virus, das kürzlich in Vietnam isoliert wurde.

Dem Einsatz dieser neuen Impf-Viren steht jedoch einiges im Wege: Die Patente am Verfahren liegen bei einem amerikanischen Impfstoffhersteller sowie bei mindestens zwei akademischen Institutionen. Wenn ein anderer Hersteller ein mittels Gentechnik entstandenes Virus nutzen möchte, muß er also Lizenzgebühren zahlen. Für einen einzelnen Hersteller wird es aber sehr schwierig sein, mit einer Vielzahl von Patenthaltern in Verhandlungen zu treten.

Auch stehen Kartellbestimmungen gemeinsamer Verhandlungen aller Impfstoffhersteller entgegen. Um solche Verhandlungen dennoch zu ermöglichen, sollte daher eine international anerkannte Institution einen Pool für alle Patenthalter aufbauen. Ebenso wird ein Pool benötigt, der alle Patentnutzer - eben die Impfstoffhersteller - vertritt. Bevor dies nicht in Angriff genommen wird, bleiben die Hersteller zurückhaltend.

Pandemie-Impfstoff erfordert genetisch manipulierte Viren

Patente sind aber nicht die einzige Schwierigkeit. Zulassungsbehörden werden wahrscheinlich geprüft haben wollen, ob der mit Gentechnik erzeugte Impfstoff sicher ist. Sie könnten auch darauf bestehen, daß die Impfstoff-Produktionsstätten umgerüstet werden. Das kostet viel Geld und verteuert den Impfstoff, er wäre für viele Länder nicht mehr bezahlbar.

Zwar hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kürzlich eine grundsätzlich positive Risikoeinschätzung abgegeben. Aber einzelne Interessengruppen werden gegen die Herstellung und Anwendung "genetisch manipulierter Organismen" intervenieren. Wissenschaftler und Politiker werden sich mit diesen Bedenken auseinandersetzen müssen - das kostet wertvolle Zeit.

Es würde den Prozeß unbedingt voranbringen, wenn die mittels Gentechnik hergestellten Viren bald schon in die "normale", jährliche Produktion von Influenza-Impfstoffen integriert würden. Hätte die reverse Genetik bereits in diesem Jahr als Standardverfahren zur Impfstoffherstellung zur Verfügung gestanden, müßten wir uns nicht mit einem Impfstoff ohne den weit verbreiteten Fujiuan-Stamm begnügen.

Wie sollte ein Pandemie-Impfstoff gerecht verteilt werden?

Wir müssen uns rasch der globalen Zulassung dieser Impfstoffe widmen, Empfehlungen ausarbeiten, wer geimpft werden soll, Gelder für die Lieferkosten aufbringen und die rechtliche Zuständigkeit im Falle unerwünschter Arzneimittelwirkungen klären. Multinationale, von der öffentlichen Hand getragene, klinische Studien mit Versuchsimpfstoffen werden notwendig sein, um zu lernen, wie ein solcher Pandemie-Impfstoff zu produzieren und anzuwenden ist.

Wir müssen auch klären, wie Länder ohne eigene Produktion Pandemie-Impfstoff von solchen Ländern erhalten können, deren politische Führung die heimische Produktion für die eigene Bevölkerung beschlagnahmt - so geschehen 1976, als die Vereinigten Staaten von der Schweine-Influenza bedroht wurde.

Es ist insgesamt unabdingbar, daß die WHO für ihr Influenza-Programm erheblich mehr Gelder erhält. Die Kosten für die Verhinderung oder auch nur für eine erfolgreiche Eindämmung einer Influenza-Pandemie würden nur einen kleinen Bruchteil der Mittel ausmachen, die aktuell im Kampf gegen den Terrorismus eingesetzt werden. Die Wahrscheinlichkeit, daß es in einer der kommenden Influenza-Saison zu einer Pandemie kommt, ist ausgesprochen hoch. Wir würden gut daran tun, uns jetzt darauf vorzubereiten.

Die Autoren sind Mitglieder des in ternationalen "Summits of Independent European Vaccination Experts" (Sieve), einer Einrichtung der Stiftung Präventive Pädiatrie an der Universität Mainz. Sieve verfaßt unabhängige Expertisen zu Fragen des Impfens. Übersetzung von Heike Thiesemann-Reith, erschienen im Forum der "FAZ" vom 11.2.2004.

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