Fehldiagnose

Kachexie führt auf falsche Fährte

Weil wichtige Informationen nicht berücksichtigt werden, setzt die Kachexie einer urologischen Intensivpatientin eine diagnostische Lawine in Gang und produziert irrtümlich eine infauste Diagnose.

Von Beate Schumacher Veröffentlicht:

DALLAS. Die 52-jährige Diabetikerin stellt sich wegen akuter rechtsseitiger Flankenschmerzen im Krankenhaus vor. Sie fällt durch extreme Schwäche und Kachexie auf, Grund ist ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust von fast 15 Kilo in den letzten sechs Monaten. Bei der Frau wird eine aufsteigende Pyelonephritis diagnostiziert, die zunächst empirisch mit Antibiotika behandelt wird. Wegen eines septischen Schocks muss sie am Folgetag in die Intensivstation verlegt werden.

Auf der Suche nach dem Ursprung von Schwäche und Kachexie wird ein breites Spektrum von möglichen Ätiologien von malignen über neuromuskuläre und autoimmune bis zu metabolischen und diätetischen Ursachen in Betracht gezogen. Als Zufallsbefund werden im CT multiple klar begrenzte hypodense Leberläsionen von weniger als 1 cm Durchmesser entdeckt. Hirn-CT und -MRT zeigen stabile Tuberculum-sellae-Meningeome. Wegen einer begleitenden (normozytären) Anämie werden Magen und Darm endoskopisch untersucht, ohne Befund. Auch Tests auf paraneoplastische und Myositis-Antikörper sind negativ. Nervenleitungsuntersuchungen und EMG sind ebenfalls unauffällig. HIV-Test und Pilzkulturen liefern negative Befunde. Die Spiegel von Vitamin B12 und E, Cortisol, TSH und Kreatinkinase sind im Normbereich. Daraufhin wird die Patientin mit der Arbeitsdiagnose "metastasierter Krebs der Leber mit unklarem Primärtumor" auf die Normalstation verlegt.

Dort kommt man recht simpel zur korrekten Diagnose, als man sich intensiver mit der Vorgeschichte der Patientin befasst. Die Frau berichtet, in dem halben Jahr vor dem Krankenhausaufenthalt an schweren Depressionen gelitten zu haben, mit Anhedonie, Unfähigkeit, das Bett zu verlassen, Anorexie und dem Gefühl von Wertlosigkeit. Eine ärztlich verordnete Behandlung mit Venlafaxin hatte sie wegen Mundtrockenheit beendet. Die aufgrund der Diagnose einer wiederkehrenden Major-Depression eingeleitete Behandlung mit Mirtazapin führt bald zu einer Verbesserung von Stimmung, Appetit und Kraft. Für den zunächst erhobenen Verdacht auf Tumormetastasen findet sich auch ein Jahr später keinerlei Evidenz.

Ärzte um Alexandria Chaulk von der Universität in Dallas, die den Fall im American Journal of Medicine (online 25. Dezember 2017) vorstellen, sehen gleich drei Fehlertypen am Werk: "Unwissen, fehlerhafte Datenerhebung und eine falsche Synthese der Befunde haben zu der Fehldiagnose beigetragen." Wissensmängel seien es, hypodense Leberläsionen als wahrscheinliche Metastasen zu interpretieren. Derartige Zufallsbefunde würden bei rund 30 Prozent aller CT-Untersuchungen zutage treten. Dagegen gehöre eine schwere Depression laut Chaulk et al. zu den Top-3-Ursachen von unklarem Gewichtsverlust. Dies wissend, hätten die Ärzte einer solchen Erkrankung bei der Abklärung von vornherein mehr Gewicht geben und daher auch andere Informationen sammeln müssen. Die Autoren vermuten, dass das Setting der Intensivstation die Ärzte dazu verleitet hat, eine maligne Erkrankung anzunehmen und andere Ursachen vorzeitig auszublenden.

Der Fall zeige, wie wichtig "clinical reasoning" sei, um diagnostische Irrtümer und unnötige Untersuchungen zu vermeiden, so die Autoren. Trotz umfassender Aufarbeitung sei der entscheidende diagnostische Test in diesem Fall die Rückkehr zu den Grundlagen der Anamneseerhebung gewesen.

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