HINTERGRUND

Langsam verstehen Forscher, wie eine Schizophrenie entsteht

Von Thomas Müller Veröffentlicht:

Welchen Einfluß haben Gene bei der Entstehung von psychischen Krankheiten? Darüber wird schon lange heftig diskutiert. Inzwischen hat man ein besseres Bild über die genetischen Faktoren, die eine Schizophrenie auslösen können. Demnach trägt jeder Mensch solche Erbanlagen in sich, manche Menschen jedoch besonders viele. Sie sind dann auch besonders gefährdet.

Daß die Erbanlagen auch bei psychischen Krankheiten wichtig sind, das ist schon lange bekannt, auch wie groß ihr Einfluß ist: Ist jemand in der Familie an Schizophrenie erkrankt, liegt das Risiko für andere Familienmitglieder bei etwa zehn Prozent, im Laufe des Lebens ebenfalls zu erkranken.

Und hat ein eineiiger Zwilling eine Schizophrenie, so erkrankt sein Geschwister mit 50prozentiger Wahrscheinlichkeit ebenfalls daran. Doch bislang wußte man sehr wenig über Art und Wirkung der genetischen Faktoren, hat Professor Wolfgang Maier aus Bonn beim Medica-Kongreß in Düsseldorf gesagt.

Infekte im Kindesalter erhöhen die Schizophrenie-Gefahr

Umweltfaktoren, die eine Schizophrenie begünstigen, sind dagegen gut bekannt. Geburtskomplikationen, Drogenkonsum, Infekte im Kindesalter sowie das Leben in einer Großstadt zählen dazu. Jeder dieser bekannten Faktoren erhöht das Lebenszeit-Risiko, an einer Schizophrenie zu erkranken von im Schnitt ein Prozent auf zwei bis vier Prozent. Einen einzelnen Umweltfaktor-Faktor mit einem besonders starken Einfluß scheint es jedoch nicht zu geben.

Ähnlich sieht es nach neuen Erkenntnissen auch bei den genetischen Faktoren aus, sagte Maier. So blieb die Suche nach "dem Schizophrenie-Gen" erfolglos. Die Krankheit lasse sich nicht auf einzelne Gendefekte zurückführen. Stattdessen habe man vor kurzem Gene gefunden, die das Schizophrenie-Risiko erhöhen - und zwar jeweils um einen ähnlichen Prozentsatz wie einzelne Umweltfaktoren.

Da der Einfluß der einzelnen Gene jeweils gering ist, spricht man von Dispositions-Genen. Für fünf Gene sei ein Zusammenhang mit Schizophrenie in Untersuchungen sehr gut belegt worden, bei einigen dieser Gene, etwa den Genen für die Proteine Dysbindin und Neuregulin, hat man auch eine Ahnung, wie sie wirken.

Die Gene vergrößern auch das Risiko für Depressionen

    Jeder trägt Anlagen für Schizophrenie.
   

"Das ist schon mal ein großer Erfolg", so Maier. Schließlich hätten viele Forscher Zweifel gehabt, überhaupt fündig zu werden, da sie Schizophrenie nicht als Krankheit, sondern als Überbegriff für verschiedene Krankheiten mit unterschiedlicher Genese betrachteten. Allerdings wird diese Ansicht von den Gen-Funden nicht widerlegt: Ein Teil der Dispositionsgene für Schizophrenie erhöht auch das Risiko für ganz andere psychische Krankheiten, etwa Depression oder bipolare Störungen. Offenbar sind diese Gene in einer fundamentalen Weise für die psychische Gesundheit wichtig.

Im Gegensatz zu Gendefekten, die Krankheiten wie Huntington Chorea oder familiäre Alzheimer-Erkrankungen auslösen, sind Schizophrenie-Gene bei den Erkrankten jedoch nicht defekt - sie produzieren dieselben funktionsfähigen Proteine wie bei Gesunden. Allerdings wird entweder zuviel oder zuwenig dieser Proteine produziert. Der Grund sind Abweichungen in DNA-Bereichen, die die Genexpression und damit die Protein-Produktion kontrollieren. Solche Abweichungen können weit außerhalb der betroffenen Gene liegen.

Ein Beispiel: Bei einem Teil der Menschen mit Schizophrenie wird etwa ein Viertel weniger Dysbindin produziert als bei Gesunden. Offenbar stört dieser Mangel das Gedächtnis. So fanden Forscher auch bei gesunden Menschen mit der Dysbindin-Variante - ähnlich wie bei Schizophrenie-Kranken - ein schlechtes episodisches Gedächtnis.

Und bei Menschen mit abweichenden Konzentrationen des Gens Neuregulin ist häufig auch das Arbeitsgedächtnis gestört. Sie haben zudem oft ein reduziertes Hippocampus-Volumen - ein Charakteristikum bei vielen Schizophrenie-Kranken. Haben Menschen eine dieser Gen-Variationen, ist das Schizophrenie-Risiko in etwa verdoppelt - mehr jedoch nicht.

Wie soll man sich also die Entstehung einer Schizophrenie erklären? Maier geht davon aus, daß jeder Mensch viele solcher Dispositionsgene in sich trägt, von denen die meisten noch unbekannt sind.

Bei manchen Menschen akkumulieren zufällig sowohl Dispositionsgene als auch Umweltfaktoren. Kommen genug einzelne Faktoren zusammen, wird jemand erkranken.

"Für Anti-Stigma-Kampagnen ist das eine hilfreiche Erklärung", so Maier. "Denn jeder trägt die Anlagen für psychische Erkrankungen in sich. Jeder ist ein Risiko-Träger. Es gibt also keinen Grund, jemand mit Schizophrenie oder einer anderen psychischen Erkrankung auszugrenzen."



STICHWORT

Schizophrenie

Die Inzidenz der Schizophrenie liegt bei 0,03 bis 0,06 Prozent der Bevölkerung, die Lebenszeit-Prävalenz bei etwa 1 Prozent. Frauen erkranken etwas häufiger als Männer. Der Häufigkeitsgipfel bei Frauen liegt zwischen 25 und 34 Jahren, bei Männern zwischen 15 und 24 Jahren. Zwei Prozent aller Erkrankungen kommen bereits in der Kindheit vor. Prognostisch günstig sind ein akuter Beginn und ein auslösendes Ereignisses. (eb)

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