HINTERGRUND

Sexuelle Übergriffe in der Therapie - immer noch ein Tabuthema

Von Jürgen Stoschek Veröffentlicht:

Sexuelle Übergriffe in der Psychotherapie, Psychiatrie und in der psychologischen Beratung sind häufiger als oft angenommen. In Deutschland müsse jährlich mit mindestens 300 bis 600 sexuellen Übergriffen in diesen Bereichen gerechnet werden, so eine Schätzung des Freiburger Instituts für Psychotraumatologie. Daher hat der Landesverband Bayern im Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten (BVVP) bei seiner Zehn-Jahres-Feier dem Tabuthema ein Symposium gewidmet.

Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge kommt es bei etwa fünf bis zehn Prozent aller Psychotherapeuten im Laufe eines Berufslebens zu grenzverletzendem Verhalten, berichtete der BVVP-Landesverbandsvorsitzende Diplom-Psychologe Benedikt Waldherr.

Etwa ein Drittel dieser Fälle betrifft sexuelle Kontakte während einer laufenden Behandlung. In zwei Dritteln der Fälle lassen die Therapeuten die Behandlung auslaufen oder brechen sie ab, um so strafrechtliche Bestimmungen zu umgehen.

Übergriffe werden als "Romanze" verharmlost

Was gelegentlich als "Romanze" zwischen einem in der Regel männlichen Therapeuten und einer Patientin, die sich in ihren Analytiker "verliebt" hat, verharmlost wird, ist in Wirklichkeit ein schwerer Behandlungsfehler, erläuterte die Münchner Psychoanalytikerin Dr. Veronika Hillebrand vom Verein Ethik in der Psychotherapie.

    Gegen zudringliche Therapeuten wird nur selten ermittelt.
   

Während einer psychotherapeutischen Behandlung entstehe ein besonders intensives, einmaliges und auch intimes Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Therapeut, das zugleich durch ein Machtgefälle zwischen beiden und durch die Abhängigkeit des Patienten vom Therapeuten geprägt ist, erläuterte Hillebrand. Betroffene Patienten seien deshalb oftmals auch nicht in der Lage, ihren Therapeuten wegen eines sexuellen Übergriffs bloßzustellen oder gar bei der Polizei anzuzeigen.

Sexuelle und andere Grenzüberschreitungen führen bei den betroffenen Patienten oft zu einer (Re-)Traumatisierung bis hin zur Suizidgefährdung oder zu somatischen Erkrankungen, deren Ursachen rätselhaft bleiben, berichtete Hillebrand. Ängste, Selbstanklagen oder Beziehungsstörungen können Folgen von sexuellen Übergriffen in der Psychotherapie sein. Oftmals werden weitere psychotherapeutische Behandlungen notwendig.

Private Verabredung kann erstes Warnzeichen sein

Betroffen seien meist Frauen, die im Laufe ihres Lebens "gelernt" haben, daß sie Wünsche erfüllen müssen, um nicht zurückgewiesen zu werden, berichtete die Essener Psychotherapeutin Diplom-Psychologin Monika Holzbecher. Die Täter, die dies rasch erkennen, haben ihre Tat oftmals gezielt geplant, um durch stufenweise Handlungen ans Ziel zu gelangen. Erste Warnzeichen können die Verlegung der Sitzungen auf die letzte Stunde am Abend, die Überschreitung vereinbarter Therapiezeiten und private Verabredungen sein.

Auch wenn sich die Patientin ohne Gegenwehr auf sexuelle Kontakte eingelassen hat, könne von "gegenseitigem Einverständnis" oder gar von "wahrer Liebe" keine Rede sein, betonte Holzbecher, die auch Sprecherin des Ausschusses für ethische Angelegenheiten und Beschwerden der Gesellschaft für Wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie in Köln ist.

Der strafrechtliche Schutz eines Patienten gegenüber dem Therapeuten ist nach Angaben des Juristen Dr. Thomas Gutmann von der Universität München in der Realität begrenzt. "Sexueller Mißbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsverhältnisses" nach Paragraph 174 c Strafgesetzbuch erfasse etwa nicht sexuelle Kontakte nach Beendigung einer Therapie.

Allerdings habe der Therapeut die Pflicht aus dem Behandlungsvertrag, den Therapieerfolg nicht zu gefährden. Wenn ihm ein Verstoß gegen die Berufspflicht zur "nachwirkenden Abstinenz" nachgewiesen wird, könne daraus zivilrechtlich ein Schadenersatzanspruch abgeleitet werden.

Da sich Patienten, die durch sexuelle Grenzüberschreitungen retraumatisiert sind, häufig nicht artikulieren können oder von öffentlichen Einrichtungen nicht ernst genommen werden, gebe es auch nur ganz wenige zivil- und berufsrechtliche Verfahren, berichtete Gutmann.

Gefordert seien deshalb Berufsverbände und insbesondere die Ärzte- und Psychotherapeutenkammern, die die Erfüllung ärztlicher Berufspflichten zu überwachen haben. Durch die Einrichtung etwa von fachlich kompetent besetzten Ombudsstellen müsse retraumatisierten Patienten "über die Artikulationsschwelle" geholfen werden, forderte Gutmann.



FAZIT

In Deutschland muß mit jährlich etwa 300 bis 600 sexuellen Übergriffen in der Psychotherapie gerechnet werden. Wie bei anderen sexuellen Delikten auch ist das Risiko für Frauen, Opfer sexueller Übergriffe zu werden, erheblich höher als für Männer. Die Täter gehen oft planmäßig vor und nutzen das Abhängigkeitsverhältnis aus. Strafrechtlich ist den Tätern schwer beizukommen. Wegen der Gefährdung des Behandlungserfolgs einer Psychotherapie können jedoch auch zivilrechtlich Schadenersatzansprüche geltend gemacht werden.

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