HINTERGRUND

Süchtig nach Spielen in virtuellen Welten - eine Ambulanz will Jugendlichen helfen

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Jugendlicher am Computer: Viele Online-Spieler sitzen bis zu 16 Stunden pro Tag vor dem Bildschirm.

Jugendlicher am Computer: Viele Online-Spieler sitzen bis zu 16 Stunden pro Tag vor dem Bildschirm.

© Foto: dpa

Christine und Christoph Hirte haben seit einem Jahr keinen Kontakt mehr zu ihrem 23-jährigen Sohn. "Wir haben ihn ans Internet verloren", sagt der Vater. Dabei fing alles ganz harmlos an.

Als so genannter Beta-Tester des Online-Rollenspiels "World of Warcraft" verdiente ihr Sohn neben seinem Studium ein bisschen Geld dazu. Doch nach und nach zog er sich von allem anderen zurück, vernachlässigte seine Freunde und auch seine Eltern, die von seiner Sucht nichts ahnten. Auch als er ein Urlaubssemester einlegen wollte, wurden sie nicht stutzig. Erst als die Hausverwaltung aufgrund eines Wasserrohrbruchs eine Wohnungsbegehung anordnete, brach die Fassade. Die Wohnung des jungen Mannes war voller Müll und Ungeziefer, er hatte sie Monate lang nicht mehr verlassen. Als die Hirtes das ganze Ausmaß der Abhängigkeit erfuhren und ihrem Sohn eine Therapie nahe legten, stand er einfach auf und ging. Seine letzten Worte: "Ohne Internet kann ich nicht sein."

"Das reale Leben findet nicht im Computer statt"

Von der Ohnmacht eines Vaters, dessen Sohn in die Tiefen des Internets abtaucht und in dieser Parallelwelt unauffindbar bleibt, erzählte Christoph Hirte aus Anlass der Eröffnung der bundesweit einmaligen Computerspielsucht-Ambulanz am Klinikum der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz (die "Ärzte Zeitung" berichtete). Hirte und seine Frau begannen zu recherchieren und fanden viele Opfer und Angehörige, die Ähnliches zu berichten hatten. Daher gründete das Mainzer Ehepaar die Elterninitiative www.rollenspielsucht.deund hofft, "dass auch unser Sohn irgendwann erkennt: Das reale Leben findet nicht im Computer statt".

An der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Mainz befassen sich Ärzte und Psychologen seit Jahren mit exzessivem Computerspielverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. "Bei uns häufen sich die Anfragen von Eltern und Betroffenen, die Hilfe suchen", sagt Klinik-Direktor Professor Manfred E. Beutel. Dabei geht es vor allem um die rasante Ausbreitung von Online-Rollenspielen wie "World of Warcraft", "EverQuest" und "Final Fantasy", auch Massively Multiplayer Online Role-Playing Games, MMORPG, genannt. Allein beim Online-Portal "World of Warcraft" sind weltweit über zehn Millionen Mitspieler registriert. Mit dem Abtauchen in die Parallelwelt, dem persönlichen Aufgehen in die virtuelle Spielfigur des Avatars geht der Realitätssinn vieler Kinder und Jugendlichen zunehmend verloren.

Die Folge: Immer mehr Mitspieler sitzen zehn, zwölf, manchmal bis zu 16 Stunden täglich vor dem Computer und opfern der virtuellen ihre wirkliche Existenz. Ein Krankheitsbild Computerspielsucht ist international zwar noch nicht einheitlich definiert, doch lassen sich nach Auffassung der Mainzer Suchtexperten die Kriterien für Abhängigkeitserkrankungen nach ICD-10 auch auf exzessives Computerspielen anwenden. Hierzu zählen:

  • das unwiderstehliche Verlangen, am Computer zu spielen,
  • die verminderte Kontrollfähigkeit hinsichtlich Beginn, Beendigung und Dauer des Computerspielens,
  • Entzugserscheinungen (Nervosität, Unruhe, Schlafstörungen) bei verhinderter Computernutzung,
  • der Nachweis einer Toleranzentwicklung (Steigerung der Häufigkeit oder Intensität/Dauer des Computerspielens),
  • fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen und
  • ein anhaltendes exzessives Computerspielen trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen (zum Beispiel Übermüdung, Leistungsabfall in der Schule, auch Mangelernährung).

Für den deutschsprachigen Raum gibt es bislang noch keine wissenschaftlich fundierte Datenbasis zu Epidemiologie, Ätiologie, Diagnostik und Therapie dieses Symptomkomplexes, aber einzelne Studien, die Aspekte des Problems beleuchten.

Gefährdet sind vor allem Jungen

So hat die Interdisziplinäre Suchtforschungsgruppe der Berliner Charité anhand eines standardisierten Fragebogens das Computerspielverhalten von 323 Berliner Grundschülern der 6. Klassen untersucht und kam zu dem Ergebnis, dass 9,3 Prozent der 11- bis 14-Jährigen die festgelegten Kriterien für exzessives Computerspielverhalten vollständig erfüllten.

Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KNF) kam in einer groß angelegten Studie unter 16 000 Neuntklässlern zu dem Ergebnis, dass 3,6 Prozent der Jugendlichen internetsuchtgefährdet und 1,5 Prozent internetsüchtig sind (wir berichteten). Und in Mainz geht man nach der Auswertung eigener Erfahrungen davon aus, dass zwischen sechs und neun Prozent jener Jugendlichen, die aktiv, das heißt zwei bis dreimal pro Woche, Computer spielen, die Kriterien einer Abhängigkeit erfüllen: Betroffen seien etwa zwei bis drei Prozent eines Jahrgangs. Gefährdet sind vor allem Jungen, nach Erkenntnissen der Mainzer Forscher beträgt ihr Anteil an den Computerspielsüchtigen 85 Prozent.

STICHWORT

Ambulanz für Spielsucht in Mainz

Die Ambulanz für Spielsucht ist eine Einrichtung der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universität Mainz. Initiatorin ist die kürzlich gestorbene Suchtexpertin Professor Sabine M. Grüsser-Sinopoli, nach der die Ambulanz auch benannt wurde.

Die von Klinikdirektor Professor Manfred E. Beutel und Diplom-Psychologe Klaus Wölfling geleitete Ambulanz bietet von Montag bis Freitag zwischen 12 und 17 Uhr eine anonyme und kostenlose telefonische Beratung für Betroffene und deren Angehörige (Hotline 0180-1529529, 3,9 Cent pro Minute). Darüber hinaus finden ambulante Gruppentherapien für Erwachsene, die unter Pathologischem Glücksspiel leiden, sowie für Kinder und Jugendliche, die unter Computerspiel- oder Internetsucht leiden, statt.

Die Therapie folgt einem verhaltenstherapeutischen Konzept unter Einbeziehung interaktioneller Beziehungsgestaltung. Ziel ist nicht die völlig Abstinenz, aber die Reduzierung der Spielzeit und deren Kontrolle. (Smi)

Ambulanz für Spielsucht, Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Duesbergweg 6, 5. Stock, 55128 Mainz, Tel.: 0 61 31 / 3 92 48 07, E-Mail: kontakt@verhaltenssucht.de, Internet: www.verhaltenssucht.de

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