Wann wird Musik als belebend und wann als beruhigend erlebt?

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Von Wenzel Müller

Ein Kinofilm ohne unterlegte Musik? Undenkbar. Die Filmmusik stimuliert erst richtig unsere Gefühle, fördert Gänsehaut bei spannenden Szenen und Tränen bei rührseligen.

Auch zu Hause haben wir manchmal Lust, bestimmte Musikstücke aufzulegen, von denen wir genau wissen, daß sie spezielle Emotionen leicht auslösen können, von belebend bis beruhigend - die Bandbreite ist groß. Jeder kennt wohl aus eigener Erfahrung die Macht der Musik, und mit diesem Potential arbeiten auch Musiktherapeuten gerade in Kliniken.

Wirksamkeitsnachweis der Musiktherapie

Doch welche Musikrichtung wirkt nun genau wie, und warum eigentlich? In dieser Frage besteht noch große Unsicherheit. Im Zuge des allgemeinen Medizin-Trends in Richtung Evidenzkontrolle wird jetzt allerdings auch von der Musiktherapie immer mehr ein Wirksamkeitsnachweis verlangt.

In Österreich hat sich seit letztem Jahr eine interdisziplinäre Forschungsgruppe zu dem Bereich "Musik - Kunst - Medizin" etabliert, die unter anderem auch regelmäßig Fachleute zu Vorträgen ins Wiener Herbert von Karajan Centrum einlädt, so zuletzt Professor Hans-Ullrich Balzer, der zu dem Thema "Musiktherapie und Chronobiologie" sprach.

Das Karajan Centrum ist als Veranstaltungsort nicht zufällig gewählt, war es doch immer ein großes persönliches Anliegen des Maestros, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über die Musikwirkung zu erlangen, und zu diesem Zweck stellte er sich auch öfter selbst als Testperson für medizinische Versuche zur Verfügung.

Musikrezeption wird differenziert untersucht

Damals, vor dreißig Jahren, wurden vor allem Atmungs- und EKG-Messungen gemacht - Fotos zeigen, wie Herbert von Karajan im Interesse der Wissenschaft mit Elektroden an der Stirn und barfuß dirigierte. Balzer präsentierte diese Dokumentaraufnahmen, um weiter auszuführen, daß die Untersuchungsmethoden heute sehr viel differenzierter sind.

Inzwischen können die sympathischen und parasympathischen, die kognitiven und emotionalen Anteile bei der Musikrezeption ermittelt werden, und genau diese Untersuchungen wurden von ihm als Leiter des 2001 gegründeten Forschungsnetzes "Mensch und Musik" am Mozarteum Salzburg regelmäßig gemacht.

Balzer ist Physiker, aber schon lange im Medizinbereich tätig. Bis 1994 arbeitete er in der Neuropathophysiologie an der Charité in Berlin, leitete erst das Schlaflabor, dann das Institut für Streßforschung. Sein jüngster Forschungsgegenstand sind nun also die schönen Künste, zu denen er, vor allem mit Hilfe der Mathematik, die von der Wissenschaft geforderten harten Fakten" finden möchte.

Musik ist für Balzer "eine durch den Menschen kreativ erzeugte und interpretierte Form der Natur". Denn wie in der Musik, so finde man genauso in biologischen Systemen rhythmische Prozesse, beim Menschen etwa den Wechsel von Wachen und Schlafen, von Aktivität und Entspannung, von Systole und Diastole und, auf einer noch feineren periodischen Ebene, von Depolarisation und Repolarisation der Zellmembran. Ja, zeitlich strukturierte Vorgänge seien überhaupt ein universales Prinzip in der Natur.

Neurotiker mögen Richard Wagner oder Free Jazz

Balzer spricht hier als Chronobiologe, als Vertreter jenes Wissenschaftszweiges, der die Zeitordnung unseres Lebens untersucht und in ihr ein bestimmendes Element sieht. Dieser Ansatz sei in unserer bislang vor allem auf anatomische Strukturen fixierten Medizin noch relativ neu, aber er sei ein sehr produktiver, da er das Ganze im Blick habe, so Balzer.

Chronobiologische Messungen können zeigen, ob sich der Rhythmus der Musik mit dem der Körperfunktionen von der Testperson deckt, ist das der Fall, stellt sich über die Synchronisation eine Harmonie ein und die Musik wird als angenehm empfunden.

Für Balzer ist es daher auch kein Wunder, daß Richard Wagner oder auch Free Jazz nur von wenigen Menschen goutiert wird, und zwar auffallenderweise vor allem von jenen mit einer neurotischen Anlage. Hier wie dort, nämlich in der Musik wie in der psychischen Struktur dieser Personen, zeigten sich chaotische Phänomene, ist seine Theorie.

Marschmusik sollte die Wirklichkeit vergessen lassen

In der Therapie wird versucht, über musikalische Rhythmen zu einer Harmonisierung der körperlichen beizutragen, je nach Person oder Krankheitszustand wird dazu mal mehr ein aktivierender, mal mehr ein beruhigender Impuls gegeben.

Junge Leute schaffen es, sich mit hämmernder Techno-Musik geradewegs in einen Trance-Zustand zu versetzen. Nach Ansicht von Balzer hatte früher die Marschmusik, obwohl eine völlig andere Musikform, eine ganz ähnliche Funktion zu erfüllen, nämlich die Soldaten die rauhe Wirklichkeit vergessen zu lassen.

Musik kann dann geradewegs gefährlich sein, wenn sie zu einem Wirklichkeitsverlust beiträgt. Doch wenn sie zu einem leichten Schwebezustand führt, leiste sie gute und wertvolle Arbeit, von der nicht zuletzt auch Ärzte profitieren könnten: Ein entspannter Zustand sei, so Balzer, eine der wichtigsten Voraussetzungen für einen gelungenen Kontakt zum Patienten.

Informationen zum Forschungsnetz Mensch + Musik: http://www.mensch-und-musik.at/index.html

Infos zum Herbert von Karajan Centrum in Wien: http://www.karajan.org/de/centrum/index.asp

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