Autismus

Wenn Haare schneiden schmerzt, eine Verbrühung aber nicht

Etwa jeder Hundertste ist von einer Autismus-Spektrum-Störung betroffen. Das erschwert Ärzten die Interaktion mit dem Patienten. Einfache Tricks können weiterhelfen – etwa den Patienten nicht ins volle Wartezimmer zu setzen.

Von Dr. Lamia Özgör Veröffentlicht:
Selbst harmlose Handlungen wie Haare schneiden können bei Personen mit Autismus mit Schmerzen verbunden sein – weil das Gehirn der Betroffenen die Bedeutung des Reizes nicht richtig einordnen kann.

Selbst harmlose Handlungen wie Haare schneiden können bei Personen mit Autismus mit Schmerzen verbunden sein – weil das Gehirn der Betroffenen die Bedeutung des Reizes nicht richtig einordnen kann.

© Max Tactic / stock.adobe.com

Mannheim. Die International Association for the Study of Pain (IASP) und die European Pain Federation (EFIC) haben das Jahr 2019 zum „Global Year Against Pain in the Most Vulnerable“ ausgerufen – zu einem Jahr für Patientengruppen also, die besonderer Beachtung bedürfen. Dazu zählen sicher auch Patienten mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS). Diese Entwicklungsstörung tritt mit einer Prävalenz von etwa 1:100 bis 1,6:100 auf, wobei Männer dreimal häufiger als Frauen betroffen sind.

Das Gehirn filtert nicht richtig

Um zu verstehen, warum Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen in der Praxis besonderer Beachtung bedürfen, hilft ein Blick in das Gehirn der Betroffenen. Autismus sei eine Informationsverarbeitungsstörung, erklärte Björn Ruschinzik, Leiter der Therapiepraxis Autismo in Bochum, beim Deutschen Schmerzkongress in Mannheim.

In unserem Alltag prasseln jeden Augenblick zahlreiche Sinneseindrücke und Informationen auf uns ein. Während ein gesundes Gehirn filtern könne, was davon unwichtig ist und worauf sich das Bewusstsein richten soll, funktioniere dieser Filter bei Autisten nicht. „Die Amygdala ist hypersensitiv. Viel zu viele Informationen werden als wichtig anerkannt.“ Das macht es dem Gehirn schwer zu priorisieren, worauf es fokussieren soll oder wie es einen Reiz bewerten soll.

Daher komme es bei diesen Patienten oft sowohl zu Hyper- als auch Hypoalgesie. „Es ist schon vorgekommen, dass Autisten sich über einen dampfenden Topf auf dem Herd gebeugt haben, weil sie Teller aus einem Schrank darüber holen wollten, und nicht bemerkt haben, wie sie sich verbrühen“, beschrieb Ruschinzik. Andererseits würden auch an sich schmerzlose Situationen – etwa Haare schneiden oder duschen – als schmerzhaft wahrgenommen.

Zudem können viele Menschen mit Autismus nur schwer einordnen und artikulieren, was sie fühlen. Während Nicht-Autisten beispielsweise Magenknurren eindeutig als Hunger benennen können, gelinge das Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen nicht immer. Auch Schmerzen zu lokalisieren, kann für sie zum Problem werden. Daher geben viele etwa an: „Irgendwo zwischen meiner Schulter und der rechten Hand.“

Als Arzt könne man einige Dinge berücksichtigen, um die Kommunikation und Behandlung mit autistischen Patienten zu erleichtern. So sei es sinnvoll, die optischen und akustischen Reize im Warteraum so gut es geht zu reduzieren, schlug Ruschinzik vor: „Wenn die Verwaltungskräfte telefonieren und das Radio läuft, kann das dazu führen, dass die Schmerzwahrnehmung später bei der Behandlung anders wiedergegeben wird, weil der Patient mit Autismus keine Kapazität hatte, sich auf seinen Schmerz zu konzentrieren.“

Wichtig sei auch, dass der Arzt den Patienten nicht etwas fragt, während er ihn gleichzeitig körperlich untersucht. Denn werde der Betroffene von den Worten des Arztes abgelenkt, werde womöglich auch ein starker Schmerzreiz gleichwertig mit der Information verarbeitet: „Der Arzt hat mir eine Frage gestellt.“

Auf bildliche Sprache verzichten

Bei der Kommunikation sollte der Arzt auf eine bildliche Sprache verzichten, weil Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung diese oft nicht verstehen. Konkret bedeute dies, etwa keine Umschreibungen wie „stumpfer Schmerz“ oder „spitzer Schmerz“ zu verwenden. Als Schmerzskalen böten sich solche an, bei denen die Patienten den Schmerz mit ihnen bekannten Empfindungen vergleichen sollten.

Sinnvoll könne auch sein, einen Vertrauten des Patienten als eine Art Dolmetscher einzuschalten, der dessen Schmerzen einschätzen und bei der Kommunikation helfen kann.

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