Raumfahrerstudie

Wie sich das Gehirn im Weltraum verändert

Jeder dritte Astronaut, der von einer Langzeitmission aus dem Weltall zurückkehrt, hat Gleichgewichts- und Sehstörungen. Forscher haben nun entdeckt: Das Gehirn von Raumfahrern hat sich an mehreren Stellen verändert.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Völlig losgelöst von der Erde schwebt der Raumfahrer völlig schwerelos.

Völlig losgelöst von der Erde schwebt der Raumfahrer völlig schwerelos.

© ibreakstock / stock.adobe.com

Das Wichtigste in Kürze

Frage: Wie wirkt sich ein Raumflug auf die Wasserverteilung und die weiße Substanz im Gehirn aus?

Antwort: Eine Studie mit 15 Raumfahren deutet auf Verschiebungen des extrazellulären Wassers im Gehirn sowie auf Schäden in bestimmten Fasern.

Bedeutung: Ein langer Aufenthalt in der Schwerelosigkeit könnte dem Gehirn schaden.

Einschränkung: Die klinische Bedeutung der Befunde bleibt ebenso unklar wie deren Persistenz nach der Rückkehr zur Erde.

GAINESVILLE. Drehbuchautoren für Science-Fiction-Filme haben offenbar vieles richtig gemacht. So wurden Invasoren vom Mars häufig mit übergroßen Hydrozephalus-artigen Köpfen dargestellt („Krieg der Welten“, „Mars Attacks“), waren aber letztlich doch nicht intelligent genug, um die Menschheit zu besiegen.

Das, glaubt man aktuellen Humanstudien, könnte durchaus an den Folgen eines langen Weltraumfluges liegen. Denn auch Menschen würden nach einem Flug zum Mars mit ähnlich aufgequollen Köpfen auf dem roten Planeten umhertorkeln, wäre ihr Schädel nur dehnbar genug. Und ob sie dort noch alle Sinne beisammen hätten, ist ebenfalls zu bezweifeln.

So scheint sich das Gehirn in der Schwerelosigkeit stärker zu verändern als bislang angenommen. Dabei erweitern sich nicht nur die Ventrikel zu einem Weltraum-Wasserkopf (Hydrocephalus associated with long-term spaceflight, HALS), es kommt auch zu Volumenänderungen der grauen Substanz und zu Störungen der weißen Substanz, etwa im Kleinhirn.

Diese könnten Balanceprobleme der Astronauten nach der Rückkehr erklären. Möglicherweise lassen sich auch Sehprobleme wie das raumfahrtbedingte neurookuläre Syndrom auf eine axonale Schädigung zurückführen, spekulieren Physiologen und Kinesiologen um Dr. Jessica Lee aus Gainesville in Florida.

Hirnscans bei 15 Raumfahrern

Die Forscher konnten für ihre Untersuchung 15 Raumfahrer gewinnen – zwölf Männer und drei Frauen. Etwa die Hälfte hatte Langzeitmissionen mit im Schnitt 170 Tagen Dauer auf der internationalen Raumstation absolviert, die übrigen lediglich kürzere Shuttleflüge mit im Mittel 13 Tagen (JAMA Neurol 2019, doi.org/10.1001/jamaneurol.2018.4882).

Alle hatte ihr Gehirn vor sowie unmittelbar nach einer Mission per Diffusions-MRT durchleuchten lassen. Die Forscher konnten auf diese Weise die Verteilung des freien, extrazellulären Wassers überprüfen, ebenso die Integrität einzelner Faserbahnen. Als Kontrollgruppe wählten sie Luftwaffenpiloten, die noch nicht im All waren.

Kurz nach der Rückkehr zur Erde wurden die Raumfahrer Balancetests unterzogen, wobei sich bei den meisten deutliche Schwierigkeiten nachweisen ließen, diese hingen allerdings kaum von der Dauer des Weltraumaufenthalts ab.

Nach der Rückkehr ebenfalls verändert fanden die Forscher die Verteilung des freien Wassers: Im Frontal-, Temporal- und Okzipitallappen war der Wasserpegel gestiegen, dagegen meldeten die Scheitelregionen und posterioren Strukturen Verluste.

Am besten lassen sich die Veränderungen damit erklären, dass unter Schwerelosigkeit mehr Wasser in den Kopf strömt und dass sich das Gehirn innerhalb des Schädels nach „oben“ bzw. distal bewegt.

Mikrostrukturelle Schäden in Faserbahnen

Die Diffusionsbildgebung registrierte nach dem Raumflug eine reduzierte fraktionale Anisotropie (FA) in diversen Faserbahnen, etwa Assoziationsfasern, frontookzipitalen und kortikospinalen Bahnen sowie in Kleinhirnstiel.

Solche Veränderungen deuten auf mikrostrukturelle Schäden in Strukturen, die für den Gleichgewichtssinn, die Bewegungskontrolle und die räumlich-visuelle Verarbeitung wichtig sind, geben die Forscher um Lee zu bedenken.

Die Flüssigkeitsverschiebungen würden im Wesentlichen denen entsprechen, die auch in Versuchen bei Freiwilligen beobachtet worden waren, die man lange Zeit mit dem Kopf nach unten fixiert hatte. Hierbei wurden jedoch keine Veränderungen der FA und anderer Diffusionsparameter bemerkt.

Interessanterweise waren sowohl die Unterschiede bei der Wasserverteilung als auch der FA vor und nach dem Flug bei erfahrenen Raumfahrern weniger stark ausgeprägt als bei Weltraumnovizen. Möglicherweise führten häufige Raumflüge zu einer dauerhaften Reorganisation des Gehirns, schreiben die Forscher.

Wie relevant solche Veränderungen klinisch sind, bleibt unklar. Das Team um Lee vermutet jedoch, dass Balanceprobleme und Sehstörungen, wie sie bei jedem dritten Astronauten auf Langzeitmissionen auftreten, durch Schäden in der weißen Substanz erklärbar seien.

Offen ist zudem, ob sich die Veränderungen nach der Rückkehr zur Erde langsam wieder zurückbilden, dazu müssten die Hirnscans bei den Raumfahrern zu späteren Zeitpunkten wiederholt werden.

Wie kommt es zu den Veränderungen?

Spekulativ bleibt auch, wie es zu den Veränderungen der weißen und teilweise auch grauen Substanz kommt.

Forscher um Dr. Donna Roberts von der Universität in Charleston, South Carolina, vermuten in einem Blickpunkt zur Publikation, dass die mit dem Verlust der Gravitation einhergehende Flüssigkeitsverschiebung zu einer mechanischen Deformierung von Hirnstrukturen führt, welche die axonalen Schäden erklären könnten.

Gleichzeitig würden damit die Liquorhomöostase gestört und ein Weltraum-Wasserkopf begünstigt. Ob ein solcher Wasserkopf wiederum die weiße Substanz schädige oder eine eher gutartige Anpassung an die Schwerelosigkeit darstelle, müsse noch weiter erforscht werden.

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