Interview

Zweites Röntgenbild entlarvt den Wirbelbruch

"Übersehe nicht die Zeichen eines Wirbelbruchs" lautet die Hauptbotschaft des diesjährigen Welt-Osteoporose-Tages. Bei akuten lokalen, ungeklärten Rückenschmerzen, die länger anhalten, sollte stets auch an osteoporotische Wirbelbrüche gedacht werden, rät die Expertin Dr. Jutta Semler.

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Typisch für Osteoporose-Patienten mit Wirbelkörperbrüchen: Hyperkyphosierung der Brustwirbelsäule.

Typisch für Osteoporose-Patienten mit Wirbelkörperbrüchen: Hyperkyphosierung der Brustwirbelsäule.

© Prof. Klaus Peters

Ärzte Zeitung: Frau Dr. Semler, Wirbelkörperfrakturen sind häufige und zugleich oft dramatische Ereignisse bei Patienten mit Osteoporose...

Dr. Semler: Ja, sie sind bei vielen der Betroffenen mit starken Schmerzen verbunden. Und dann ist da auch die Angst vor der nächsten Fraktur. Mit jedem Wirbelbruch erhöht sich das Risiko für weitere Frakturen. Ein großes Problem ist auch, dass viele Patienten pflegebedürftig werden und in ihrer Lebensqualität eingeschänkt sind.

Und noch etwas gilt es zu bedenken: Bei Patienten mit Rundrückenbildung ist die Ventilation eingeschränkt. Das heißt die Lungenfunktion wird schlechter, und die Patienten sind stärker gefährdet für die Entstehung von Pneumonien. Außerdem knicken die Patienten in der Halswirbelsäule oft ab, wenn sie nach oben schauen, und bekommen daher häufig Kopfschmerzen und Beschwerden im Schulter-Nacken-Bereich.

Berufliche Tätigkeiten: Chefärztin i.R. der Abteilung für Stoffwechselerkrankungen am Immanuel-Krankenhaus in Berlin. Schwerpunkt der Abteilung: Osteologie

Aktuelle Tätigkeiten: seit vielen Jaseit vielen Jahren Vorsitzende vom Kuratorium Knochengesundheit; medizinische Direktorin des Immanuel Women's Health Center - Zentrum für Prävention und Gesundheitsförderung in Berlin

Ärzte Zeitung: Im Praxis- und Klinikalltag werden Wirbelfrakturen häufig übersehen. Wie kommt das?

Semler: Ein wesentlicher Grund ist, dass bei Patienten, die stürzen oder einfach nur vom Stuhl rutschen, also ein Niedrig-Energie-Trauma haben und daraufhin Rückenschmerzen bekommen, häufig nicht an eine Osteoporose gedacht wird, oder bei der ersten aktuellen Röntgenaufnahme direkt nach dem Trauma eine Wirbelfraktur nicht selten übersehen wird. Denn aufgrund der Flüssigkeitsansammlung ist der Wirbelkörper noch nicht so stark zusammengesackt. Das lässt sich übrigens gut im MRT erkennen. Wenn also ein Patient nach einem Trauma anhaltende, lokale Schmerzen hat, sollte man zumeist nach etwa 14 Tagen ein zweites Mal röntgen, um zu erkennen, ob nicht doch eine Fraktur vorhanden ist.

Ärzte Zeitung: Nicht allen Wirbelkörperfrakturen geht ein traumatisches Ereignis voraus...

Semler: Wirbelkörper können auch spontan brechen. An eine Osteoporose sollte daher immer auch gedacht werden, wenn ein Patient akute, lokale, ungeklärte Rückenschmerzen hat, die mindestens sechs Wochen andauern. Bei solchen Patienten ist es ratsam, nach Riskofaktoren für Osteoporose zu schauen.

Ist ein solcher Risikofaktor vorhanden, zum Beispiel eine länger als drei Monate dauernde orale Kortisontherapie, Rauchen oder Untergewicht (BMI unter 20), sollte eine Röntgenuntersuchung vorgenommen werden. Wichtig ist dabei, dass die Qualität stimmt, dass also exakt der schmerzhafte Bereich der Wirbelsäule durch gezielte Zentrierung dargestellt wird. Ist tatsächlich eine Fraktur vorhanden, ist eine Knochendichtemessung und gegebenenfalls ergänzende Laboruntersuchung zur weiteren Abklärung indiziert.

Ärzte Zeitung: Verdacht auf Osteoporose-bedingte Wirbelkörperbrüche besteht ja auch bei einem deutlichen Verlust an Körpergröße seit dem 25. Lebensjahr...

Semler: Patienten mit einer Höhenminderung seit dem jungen Erwachsenenalter sind in der Tat verdächtig, und es ist daher eine Osteoporose-Basisuntersuchung einschließlich Knochendichtemessung sinnvoll. Aber wir sind mittlerweile vorsichtiger geworden mit diesem Parameter. So liegt bei Patienten mit Wirbelbrüchen ersten Grades vielleicht noch keine Abnahme der Körpergröße um 4 bis 5 cm vor.

Aber dennoch ist auch bei solchen Patienten eine Osteoporose-Diagnostik indiziert, um gegebenenfalls rechtzeitig mit einer Fraktur-Prophylaxe beginnen zu können.

Ärzte Zeitung: Bei welchen Risikofaktoren ist eine Osteoporose-Diagnostik sinnvoll, um noch möglichst vor der ersten Fraktur mit der Prophylaxe starten zu können?

Semler: Dabei sollten wir uns im wesentlichen nach der aktuellen S3-Leitlinie des Dachverbands Osteologie (DVO) richten. Danach wird eine Osteoporose-Diagnostik jetzt etwa auch für Frauen mit Brustkrebs empfohlen, die eine Therapie mit einem Aromatasehemmer erhalten. Im Einzelfall kann das auch bei jüngeren Patientinnen sinnvoll sein. Auch Raucherinnen ab 50 Jahren und Raucher ab 60 Jahren sollten aufgrund ihres hohen Frakturrisikos auf Osteoporose hin untersucht werden. Kontrollmessungen der Knochendichtemessung sind bei Patienten nur mit Risikofaktoren allerdings frühestens nach zwei Jahren zu empfehlen.

Ärzte Zeitung: Welche Allgemeinmaßnahmen zur Frakturprophylaxe empfehlen sie bei Patienten mit Risikofaktoren für eine Osteoporose?

Semler: Auch hierbei ist die DVO-Leitlinie eine große Hilfe für den Praxisalltag. Demnach sollte zur generellen Osteoporose- und Frakturprophylaxe eine Zufuhr von 1000 mg Kalzium täglich mit der Nahrung erreicht werden. Der Kalziumbedarf lässt sich schon zu einem großen Teil über die Nahrung decken.

So werden über einen Teller mit Salat und Joghurt-Dressing, der mit Nüssen und einer guten Portion Kräutern angereichert ist, etwa 300 mg Kalzium aufgenommen. Auch kalziumreiche Mineralwässer sind eine gute Quelle und der tägliche Verzehr von zwei Scheiben Hartkäse oder eines Glases Milch. Wird die empfohlene Menge über die Nahrung nicht erreicht, sollte eine Supplementierung erfolgen. Die Gesamtzufuhr aus Nahrungskalzium und Supplementen sollte jedoch 1500 mg nicht überschreiten. Besonders wichtig für die Knochengesundheit ist auch eine ausreichende Versorgung mit Vitamin D. Das schafft man meist nicht über die Nahrung und auch nicht immer über Sonnenlichtexposition (mindestens 30 Minuten täglich).

Mit einer Supplementation ist man auf der sicheren Seite: Mindestens 1000 IE (800 bis 2000 IE) sollte man pro Tag oral einnehmen. Auch regelmäßige körperliche Aktivität schützt die Knochen. Geeignet sind etwa Walking, Wandern oder Jogging. Es muss nicht unbedingt Krafttraining sein. Und noch etwas wird jetzt empfohlen: Eine ausreichende Versorgung mit Folsäure und Vitamin B12, eventuell auch über Supplemente.

Die Fragen stellte Ingrid Kreutz

Lesen Sie dazu auch: Auf jede fünfte Fraktur folgt ohne Arznei rasch die nächste Nur für Fachkreise: Frakturprophylaxe: oral, subkutan oder intravenös Test hilft, Risiko für Osteoporose einzuschätzen

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