Ex-Süchtige auf dem Biohof

Clean mit Kühen und Käse

Auf dem Hofgut Fleckenbühl in Oberhessen wird die Sucht mit Arbeit, Bioprodukten und harten, unmissverständlichen Regeln bekämpft: Im ersten halben Jahr gibt es keinen Kontakt zur Familie - und einen Fernseher erst nach fünf Jahren.

Von Gesa Coordes Veröffentlicht:
Hofkäser Reynaldo Lopez bei der Arbeit. Nach vielen vergeblichen Entgiftungen kam er nach Fleckenbühl - und begann ein neues Leben ohne Drogen.

Hofkäser Reynaldo Lopez bei der Arbeit. Nach vielen vergeblichen Entgiftungen kam er nach Fleckenbühl - und begann ein neues Leben ohne Drogen.

© Wegst

SCHÖNSTADT. Im Käsekeller des Hofguts Fleckenbühl in Schönstadt bei Marburg riecht es streng. 500 Laibe reifen auf den Holzgestellen.

Reynaldo Lopez mag den Geruch. Auch die feuchte Kühle des Jahrhunderte alten Gewölbekellers macht ihm nichts aus. Geschickt greift er sich den Bockshornkäse, um ihn abzubürsten und mit einem Kräutersud einzureiben.

Jeden Tag wendet, schmiert und bürstet der ausgebildete Hofkäser Hunderte von Käselaiben auf diese Weise: "Die Kunst des Kellermeisters besteht darin, zu gucken, was der Käse braucht", sagt Reynaldo Lopez. Regelmäßig erringen die Käsespezialitäten des Suchthilfehofs Preise.

Jetzt wird auch Reynaldo Lopez bekannt. Der 32-Jährige gehört zu den 17 ehemals Süchtigen, die sich an einer hessenweiten Plakataktion der Fleckenbühler beteiligen.

Unter dem Titel "Das kannst du auch" wirbt er mit seinem Konterfei in Drogenberatungen, Gesundheitsämtern und im Internet für cleanes Leben: "Damit möchte ich anderen Mut machen, mit den Drogen aufzuhören", sagt Lopez.

Viele Therapien waren vergeblich

Seit mehr als vier Jahren ist der aus Ostdeutschland und Lateinamerika stammende Reynaldo clean. In die Sucht rutschte er während seiner Ausbildung zum Galvaniseur: "Erst habe ich mich mit Alkohol benebelt. Am Ende war es nur noch Rum."

Warum er zur Flasche griff, kann er schwer erklären: "Ich habe mich nirgendwo wirklich zuhause gefühlt", sagt er. Nach vielen Entgiftungen und vergeblichen Therapien landete er im September 2008 in Fleckenbühl.

Sein ebenfalls alkoholkranker Zwillingsbruder kam nicht mit. Er starb im vergangenen Jahr an den Folgen der Sucht: "Der Alkohol hat ihn aufgefressen", sagt Reynaldo.

Auf dem biologisch-dynamisch bewirtschafteten Demeterhof Fleckenbühl arbeiten fast ausschließlich ehemals Süchtige. "Niemand kann einem Drogensüchtigen besser erklären, wie man drogenfrei leben kann, als ein Drogensüchtiger, der es geschafft hat", sagt Uwe Weimar, der Betriebsleiter für Feldwirtschaft.

Sechs Monate völlig abgeschirmt

Der 47-Jährige, der seit 13 Jahren auf dem Hofgut lebt, kam nach einer Cannabis-Psychose nach Schönstadt. Etwa ein Drittel der 120 Bewohner sind Alkoholiker. Zwei Drittel nahmen Heroin, Kokain, Pillen oder galten als Mehrfachabhängige.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Suchthilfeeinrichtungen wird jeder Hilfesuchende in Fleckenbühl sofort aufgenommen. Es gibt keine Wartelisten. Es werden auch keine Kostenübernahmebescheinigungen verlangt.

Drogen, Alkohol, Medikamente, Gewalt und Tabak sind jedoch tabu. Selbst Zucker gibt es nur für Besucher. Wer mit einer Zigarette auf dem Hof erwischt wird, muss sofort gehen.

Zudem werden Neuankömmlinge sechs Monate lang völlig von der Außenwelt - einschließlich der Eltern - abgeschirmt.

Ein Fernseher auf dem Zimmer ist erst nach fünf Jahren möglich. "Das muss man mögen", sagt Weimar: "Aber für viele sind wir die letzte Chance vor dem Tod."

Viele Bioläden kaufen Hofprodukte

Vor allem in der Anfangszeit werden die Süchtigen mit Arbeit, Clubs, Sport, Spaziergängen und therapeutischen Gesprächsgruppen von morgens bis abends beschäftigt. "Nur die Sonntage sind schwierig", sagt Uwe Weimar.

Er hält die Arbeit in der Landwirtschaft für besonders geeignet, um von den Drogen wegzukommen. "Das erdet", sagt er.

Auf den Äckern wachsen Weizen, Roggen, Dinkel, Gerste und Hafer. Daraus werden Brot und Brötchen, mit denen das Klinikum Höchst und Bioläden in ganz Hessen beliefert werden.

770 Milchkühe, 50 Jungrinder und 30 Milchziegen gibt es auf dem Demonstrationsbetrieb für ökologischen Landbau. "Wenn jemand Verantwortung für ein Tier übernimmt, lernt er auch, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen", sagt Weimar.

Auf den Käse - 30 000 Kilo pro Jahr und mehr als 20 Sorten - ist die Hofgemeinschaft stolz. Er geht an 75 Lebensmittelmärkte, Geschäfte und Feinschmeckerrestaurants aus ganz Hessen.

Reynaldo Lopez will nächstes Jahr aus der Lebensgemeinschaft ausziehen. Auf den Käsereien der schwäbischen Alb will er sein Glück versuchen.

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Kommentare
Wolfgang Ebinger 08.07.201308:49 Uhr

Jaja, die schwierigen Sonntage ...

"Nur die Sonntage sind schwierig", sagt Uwe Weimar.

Wer verstanden hat, dass der Mensch aus Geist, Seele und Leib besteht, dem ist klar, dass die Sonntage schwierig sind, denn wochentags werden eben nur Geist und Leib gefordert. Wo aber bleibt die "Nahrung" für die Seele?

Der Kirchenvater Aurelius Augustinus hinterließ in seinen durchaus lesenswerten "Bekenntnissen" bereits vor über 1600 Jahren den bekannten Spruch "... und ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir (Gott)."

Wie wäre es, den "schwierigen Sonntag" dazu zu nutzen, um der Seele Nahrung zu geben und dabei zu der Ruhe zu finden, die allein die tiefsten Bedürfnisse unserer menschlichen Existenz zufriedenstellen kann - bei Gott. Diesen Kontakt muss man allerdings herstellen WOLLEN. Nur wer SUCHT, der wird finden. Die Übereinstimmung in der Schreibweise offenbart vielleicht etwas von dieser Sehn-sucht der Seele, die ihren (fatalen) Ausweg in der Drogen-sucht sucht.

Es ist von Herzen nur zu wünschen, dass jeder Suchende ein Findender wird. Dann sind die Sonntage auch nicht mehr so "schwierig".

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