Ein Turm voller Leben über Marburgs Dächern

Ein ungewöhnliches Kulturzentrum an einem ungewöhnlichen Ort: Das Café im Marburger Spiegelslustturm bietet Theater, Konzerte und Lesungen. Der Betreiber-Verein hat 15 Arbeitsplätze für psychisch Kranke geschaffen. Dafür erhält der Verein den "Walter-Picard-Preis".

Von Gesa Coordes Veröffentlicht:
Der Spiegelslustturm in Marburg ist zur Kulturstätte geworden. Mit einem gebührenpflichtigen Anruf lässt sich das Herz am Turm erleuchten. © coo

Der Spiegelslustturm in Marburg ist zur Kulturstätte geworden. Mit einem gebührenpflichtigen Anruf lässt sich das Herz am Turm erleuchten. © coo

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MARBURG. Das Turm-Café auf Marburgs höchstem Punkt ist klein: Ausflügler drängen sich an sechs liebevoll dekorierten Holztischen. In der Ecke bollert ein Holzofen. Mitarbeiterin Nadine Sturm empfiehlt Donauwelle und Rübli, einen Möhren-Nuss-Kuchen. Draußen, auf dem Platz vor dem Spiegelslustturm, bewundern Wanderer die weite Aussicht über Marburg.

Jetzt erhält der Betreiber des Turm-Cafés eine ungewöhnliche Auszeichnung: Am Mittwoch wird der Verein "Mobilo" mit dem Walter-Picard-Preis des Landeswohlfahrtsverbandes geehrt. Der Grund: Mobilo hat mit dem Turm-Café nicht nur 15 Arbeitsplätze für psychisch Kranke und seelisch Behinderte geschaffen. Er hat das Café in der Turmstube auch zu einem ungewöhnlichen Kulturzentrum in Marburg gemacht: Jedes Wochenende gibt es Theater, Kabarett, Konzerte, Diskussionen oder Lesungen auf einer winzigen Bühne.

Mitarbeiterin Nadine Sturm ist bereits seit der Eröffnung des Cafés dabei. Die 37-Jährige mag die Arbeit sehr: "Es ist interessant, so viele Leute kennen zu lernen", sagt sie. Beim Start im März 2005 ging es Mobilo vor allem darum, Arbeitsplätze für psychisch Kranke einzurichten. Die Stadt suchte einen Pächter für das lange geschlossene Turm-Café. Seitdem können Wanderer endlich wieder auf den 120 Jahre alten Kaiser-Wilhelm-Turm steigen, der bei den Marburgern Spiegelslustturm heißt.

"Wir hätten uns damals nicht träumen lassen, dass sich das Café so gut entwickelt", sagt die zweite Vorsitzende des Vereins Mobilo, Carin Götzfried. In der Tat ist das Ausflugsziel so beliebt geworden, dass der Verein mit immer weniger Zuschüssen auskommt: Schulklassen klettern nicht nur die 167 Stufen bis zur Aussichtsplattform hinauf, sie bestellen auch Waffeln und Kakao in Massen. Wanderer mögen die Rindswurst-Spezialität nach einem Frankfurter Rezept von 1890 - schließlich wurde der Turm zeitgleich gebaut. Bis zum Sommer ist das Café jedes Wochenende für eine Feier gebucht. Zudem geben sich immer mehr Paare im Ambiente der Kaiser-Zeit das Ja-Wort. Rund 60 Mal wurde im vergangenen Jahr im Spiegelslustturm geheiratet.

Um ein wenig mehr Platz zu schaffen, ist nun ein Wintergarten angebaut worden. Aktuell wird das Zimmer unterhalb von der Aussichtsplattform für kleine Kulturveranstaltungen hergerichtet. Möglich ist das alles natürlich nur mit viel ehrenamtlicher Arbeit. Die Mitglieder springen ein, wenn eine Mitarbeiterin im Service ausfällt. Sie organisieren das Kulturprogramm mit mehr als 50 Veranstaltungen pro Jahr.

Schwierigkeiten mit dem Personal gibt es kaum, sagt Geschäftsführerin Andrea Buchenauer: "Sie haben sich das Know-how angeeignet." Nadine Sturm merkt sich die Bestellungen allerdings nicht im Kopf. Sie schreibt sie lieber auf. "Manchmal muss man vielleicht ein bisschen länger warten", räumt Lutz Götzfried von Mobilo ein. Entscheidend sei jedoch, dass sich die Mitarbeiter nicht als "gescheiterte Bittsteller" fühlen müssten. Weil der Dienstplan im normalen Café-Betrieb keine Betreuung vorsieht, arbeiten die Mitarbeiterinnen sehr selbstständig - allerdings auch an den flauen Wochentagen immer zu zweit. Das Café ist 364 Tage im Jahr geöffnet - nur Heiligabend ist die Tür verschlossen.

Dass im Turm psychisch Kranke bedienen, merkt man schon, urteilt eine Besucherin: "Aber das ist ja gerade das Sympathische."

Das Turm-Café ist täglich von 13 bis 19 Uhr sowie am Wochenende ab 11 Uhr geöffnet. Infos: www.mobilo-ev.de

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