Demenz-Therapie

Martas letzter Tanz - eine Alzheimerpatientin erobert Youtube

„Schwanensee“-Musik weckt Erinnerungen bei einer spanischer Alzheimer-Patientin. Daraus ist ein emotionales Internet-Video entstanden, das derzeit viral geht.

Manuel MeyerVon Manuel Meyer Veröffentlicht:
Die Musik weckte bei Marta Gonzalez offenbar Erinnerungen an ihre Zeit als professionelle Ballett-Tänzerin.

Die Musik weckte bei Marta Gonzalez offenbar Erinnerungen an ihre Zeit als professionelle Ballett-Tänzerin.

© Asociatión Música para Despertar

Valencia. Die alte Frau im Rollstuhl trägt eine schwarz-weiß gestreifte Bluse mit einer lilafarbenen Ansteckblume und Perlenarmband. Ihr Gesicht ist eingefallen. Sie wirkt gebrechlich. Marta González leidet an Alzheimer, kann sich nur noch an wenige Dinge erinnern. Ihr Blick wirkt verloren. Ein Pfleger des Seniorenheims Muro de Alcoy bei Alicante setzt der betagten Spanierin Kopfhörer auf. Tschaikowskis „Schwanensee“ ertönt. Mit einer Handbewegung gibt Marta dem Pfleger zu verstehen, dass er die Lautstärke höher drehen soll. Er küsst ihre Hand und überlässt sie der Musik.

Es geschieht etwas. Die zuvor so leblose Frau beginnt plötzlich, mit den Händen die Musik zu begleiten. Dann bewegt sie die Arme, schließlich den ganzen Oberkörper im Rhythmus der Musik. Es wirkt, als hauche die Musik der alten Damen regelrecht wieder Leben ein. Sie taucht tief in die Klangfolge ein. Anhand ihrer Bewegungen kann man förmlich erahnen, wie die greise Frau im Kopf Tanzschritte, Sprünge und Flügelschwünge Revue passieren lässt.

Einst professionelle Tänzerin

Tatsächlich war Marta González früher professionelle Balletttänzerin. Tschaikowskis „Schwanensee“ gehört zum Standardrepertoire klassischer Ballettkompanien. Das Video, das derzeit in Spanien auf Twitter und Youtube viral geht, wurde bereits im Oktober 2019 kurz aufgenommen. Marta González starb im Frühsommer in ihrem Altenheim an COVID-19. Erst jetzt wurde das kurze Video der gemeinnützigen Charity-Organisation „Asociación Musica para Despertar“ (Vereinigung Musik zum Erwachen) zugespielt, die nicht lange zögerte, es zu veröffentlichen, um mit dem herzergreifenden Film auf die Bedeutung musikalischer Therapieansätze bei der Betreuung von Demenzpatienten aufmerksam zu machen. Auch viele spanische Promis wie Hollywoodstar Antonio Banderas posteten das Video auf ihren sozialen Medien, um bei der Verbreitung zu helfen.

Zunächst hieß es, Marta soll 1967 als Primaballerina am New York City Ballet getanzt haben, was sich als falsch herausstellte. Auch handelte es sich bei den historischen Tanzaufnahmen, die in das Video eingebaut wurden, nicht um Marta, sondern um die berühmte russische Primaballerina Ulyana Lopatkina vom St. Petersburger Mariinsky-Ballett. Die Stiftung „Musica para despertar“ entschuldigte sich bereits für den Fake. Man habe über keine Tanzaufnahmen von González verfügt.

Leichte Schummeleien schaden dem Erfolg nicht

Dennoch habe man nun herausgefunden, dass Marta in New York sogar ihre eigene Ballettkompanie namens „Rosamunda“ in den 1960er Jahren hatte. Dass Martas Biografie aufgebauscht wurde, ist zwar nicht in Ordnung. Die Rechnung, internationale Medienaufmerksamkeit auf musikalische Therapieansätze für Demenz-Patienten zu erlangen, ging aber auf. Eine Musiktherapie kann das Gedächtnis nicht wiederbringen. Aber sie kann ein Wohlbefinden, ein Gefühl der Vertrautheit auslösen und auch einige Erinnerungen wecken.

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Dass Musik auf viele Menschen mit Demenz einen positiven Einfluss hat, ist aus der musiktherapeutischen Praxis schon länger bekannt. Forscher des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften fanden durch Hirnscans heraus, dass sich das Langzeit-Musikgedächtnis in der Großhirnrinde befindet, wo Informationen oft noch lange intakt bleiben, auch wenn das Gedächtnis schon stark beeinträchtigt ist.

Musik hat erhebliches therapeutisches Potential

So können Demenzkranke sich oft keine neuen Melodien einprägen, sich aber wohl an die Klänge ihrer Jugend erinnern. Viele können sie sogar noch auf Instrumenten spielen. Dabei helfen Kopfhörer den Betroffenen, sich auf die Musik zu konzentrieren. Die meisten haben sonst Schwierigkeiten, Melodien und Umgebungsgeräusche zu unterscheiden. Musik ist eine Sprache, die Menschen auf der ganzen Welt berührt. Deshalb ist das therapeutische Potenzial von musikalischen Behandlungen auf das emotionale Wohlergehen generell unumstritten und vielversprechend.

Vor Jahren konnte auch der Musikwissenschaftler und Psychologe im Arbeitsbereich Altersmedizin der Frankfurter Goethe-Universität Arthur Schall wissenschaftlich belegen, dass sich die nonverbale Kommunikationsfähigkeit, das Wohlbefinden und der emotionale Ausdruck demenzkranker Menschen während einer Musiktherapie signifikant verbessern. Das emotionale Video von Martas letztem Tanz ist der berührende Beweis dafür.

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