30 Jahre Wiedervereinigung

Vereint gesund, demografisch getrennt

Die Wiedervereinigung ist auch im Hinblick auf die Gesundheit der Bürger eine Erfolgsgeschichte. Doch bei der demografischen Entwicklung geht ein Riss durch Deutschland.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Vereint gesund, demografisch getrennt

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Berlin. 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung sind Ost und West in der Vielfalt vereint. Vor allem im Hinblick auf die Lebenserwartung, die Geburtenraten, die Beschäftigungssituation und der Lebenszufriedenheit der Menschen bestehen kaum noch Unterschiede zwischen den „alten“ und „neuen“ Bundesländern.

Ein Gefälle zuungunsten des Ostens dagegen gibt es bei der Überalterung der Bevölkerung, der demografischen Entwicklung sowie bei den Einkommensunterschieden zwischen Frauen und Männern. Zu diesen Ergebnissen kommt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in seiner vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Studie „Vielfalt der Einheit“.

Angeglichene Lebensverhältnisse

Nach dem euphorischen Aufbruch infolge des Mauerfalls und der in den Jahren nach der Wiedervereinigung einsetzenden Ernüchterung haben sich die Lebensverhältnisse in Deutschland weiter angeglichen. Die Arbeitslosigkeit, die die Menschen im Osten der Republik vor allem in den 1990er und 2000er Jahren stark erschütterte, war bis zum Ausbruch der SARS-CoV-2-Pandemie im Frühjahr dieses Jahres kaum mehr ein Thema, zumindest kein spezifisches Problem für Ostdeutschland.

1,94 Kinder bekommen Frauen im Durchschnitt im Jerichower Land im Nordosten Sachsen-Anhalts. Damit sind sie im bundesweiten Vergleich Spitzenreiter. Doch die generelle demografische Entwicklung im Osten sieht anders aus.

Auch mit Blick auf die durchschnittliche Kinderzahl in Deutschland lebender Frauen (1,54), die Bildungserfolge und die Energiewende gibt es kaum mehr Unterschiede zwischen Ost und West.

Allerdings hat sich die demografische Trennlinie zwischen Ost und West weiter verschärft. Ende 2019 lebten 83,2 Millionen Menschen in Deutschland, so viele wie nie zuvor. Seit der Wiedervereinigung ist die Bevölkerung damit um 3,4 Millionen Bundesbürger gewachsen. Während die alten Bundesländer zwischen 1990 und 2019 einen Zuwachs von 5,4 Millionen Menschen verzeichnen konnten, schrumpfte jedoch die Bevölkerung in den fünf ostdeutschen Flächenländern um 2,2 Millionen – das entspricht dem Stand von 1905. Gründe sind vor allem die inzwischen gestoppte Abwanderung vieler Ostdeutscher in den Westen und die stark rückläufigen Geburtenziffern nach der Wende, die sich mittlerweile wieder dem westdeutschen Niveau angeglichen haben.

Einer aktuellen Bevölkerungsprognose des Berlin-Instituts zufolge wird die Bevölkerungszahl in den alten Bundesländern bis 2035 weiter sinken (mit fast 16 Prozent am stärksten in Sachsen-Anhalt), wogegen Großstädte wie Berlin und Hamburg einen enormen Zuwachs erleben werden.

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Der Bevölkerungsschwund im Osten hat seine Ursache vor allem in der Überalterung der dort lebenden Menschen. Dennoch liegen die aktuell geburtenstärksten Regionen vor allem in den ostdeutschen Ländern. Spitzenreiter ist hier das Jerichower Land im Nordosten Sachsen-Anhalts, das mit 1,94 Kindern je Frau Spitzenreiter in Deutschland ist.

Kinderlos in Passau

Den geringsten Nachwuchs verzeichnen westdeutsche Großstädte – Schlusslicht ist die bayerische Universitätsstadt Passau mit durchschnittlich 1,06 Kindern pro Frau. Kinderlos bleiben im Übrigen 22 Prozent der westdeutschen, aber nur 15 Prozent der ostdeutschen Frauen, was vermutlich auf die dort noch immer bessere Betreuungssituation zurückzuführen ist.

Mit der demografischen Entwicklung werden auf Ostdeutschland voraussichtlich größere Probleme zukommen als auf den Westen der Republik. Ende 2017 betrug die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland 3,4 Millionen Menschen. In den „neuen“ Ländern entfielen gut 5000 Pflegebedürftige auf 100.000 Einwohner, in Bayern dagegen waren es nur 3000. Bis zum Jahr 2030 prognostiziert das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung bundesweit insgesamt 4,1 Millionen Pflegebedürftige, wovon der Osten prozentual deutlich höher betroffen sein dürfte als der Westen.

Die Lebenserwartung in West und Ost hat sich dagegen fast angeglichen. Mädchen können sich, egal ob sie in den alten oder neuen Bundesländern geboren sind, auf durchschnittlich 83 Lebensjahre freuen, westdeutsche Jungen werden im Durchschnitt nur noch 1,3 Jahre älter als ihre ostdeutschen Geschlechtsgenossen.

Die Angleichung der Lebenserwartung ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Menschen im Osten der Republik heute gesünder leben als noch zu DDR-Zeiten, in denen der Alkohol- und Nikotin-Konsum stärker ausfiel als in der alten Bundesrepublik. Dennoch sind bei der kardiovaskulären Sterblichkeit weiterhin Differenzen zu beobachten: 2018 gingen im Osten 191 Todesfälle je 100.000 Einwohner auf das Konto von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, im Westen nur 155.

Vorbild beim Infektionsschutz

Wenig überraschend finden sich einige der wichtigsten Risikofaktoren weiterhin häufiger in den „neuen“ Bundesländern: riskanter Alkoholkonsum bei Männern sowie Mangel an Bewegung, Bluthochdruck, Adipositas und Diabetes bei beiden Geschlechtern. Eine Vorbildfunktion haben die Ostdeutschen dagegen in puncto Infektionsschutz, was wohl auf die Impfpflicht in der ehemaligen DDR zurückzuführen ist. Noch heute befürworten 85 Prozent der Ostdeutschen Impfungen, im Westen sind es nur 75 Prozent der Bürger.

Trotz fortbestehender, aber immer geringer werdender materieller Unterschiede zeige der Blick auf die derzeitige Lebenssituation einer breiten Mehrheit in Ost und West, dass die Wiedervereinigung vor allem „eine Erfolgsgeschichte“ sei, fasst Catherina Hinz, Direktorin des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, die Ergebnisse der Studie zusammen. Das spiegelt sich auch im Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), das alljährlich die Lebenszufriedenheit der Deutschen abfragt.

Hier zeigt sich nur noch ein minimaler Unterschied zwischen neuen und alten Ländern. Stärker als die Unterschiede zwischen Ost und West fielen künftig das starke Stadt-Land- und Süd-Nord-Gefälle ins Gewicht, so das Fazit des Berlin-Instituts. Die Politik stehe vor der Herausforderung, einen Ausgleich zwischen wirtschaftsstarken Zentren sowie entlegenen ländlichen Regionen zu schaffen.

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