Faszination Ekel

Wenn Op-Videos zum Hype werden

Die einen drücken wie am Fließband Pickel aus, die anderen operieren an offenen Herzen und Hirnen – und viele Internetnutzer gucken zu. Experten erklären, was die Faszination ausmacht.

Veröffentlicht:
Internetnutzer schauen vermehrt Videoclips von Operationen.

Internetnutzer schauen vermehrt Videoclips von Operationen.

© Inomed Deutschland

MÜNCHEN. Jeden Abend vor dem Schlafengehen liegen Wesley Billings und seine Frau, beide in den 60ern, im Bett und gucken sich Videos von Sandra Lee auf YouTube an. Die Dermatologin drückt Pickel aus und entfernt Mitesser oder anderes mithilfe medizinischer Werkzeuge. Man könnte es im Detail beschreiben – es ist genauso eitrig und blutig, wie man es sich vorstellt. Die Billings relaxen dabei, so schreibt er es auf der Videoplattform. Lee nennt sich dort – gemäß dem, was sie tut – Dr. Pimple Popper und hat rund drei Millionen Abonnenten.

Anderes soziales Netzwerk, ähnliches Phänomen: Auf Instagram kursieren Fotos und Videos von medizinischen Eingriffen – teils mit der Ästhetik eines Werbeprospekts. Aufgeschnittene Hirne, Operationen am offenen Herzen und klaffende Brüche sind dort genauso zu sehen wie Videos von Beinamputationen.

Nichts für schwache Nerven

Manche Bilder sind nichts für schwache Nerven und Mägen, sodass sogar vor "sensiblen Inhalten" gewarnt wird, die einige als störend empfinden könnten. User müssen bewusst auf "anzeigen" klicken, damit sie das Material zu sehen bekommen. Fast 130 000 Abonnenten hat der Account "themedicalmentors", auf rund 1,8 Millionen kommt "medicaltalks".

Was fasziniert Menschen daran? Aus Expertensicht gibt es dafür unterschiedliche Gründe. Zum einen ist es der Ekel, wie Dagmar Unz von der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt sagt. "Emotionen haben Schutzfunktionen. Ekel wird hervorgerufen bei Dingen, die krank machen, wie Kot, Leichen oder Eiter", sagt die Professorin unter anderem für Medienpsychologie. Sich damit aus einer sicheren Situation heraus zu befassen, sei Prävention: "Wir beschäftigen uns mit potenziellen Gefahren, um vorbereitet zu sein."

Die Faszination für Ekel sei dabei etwas sehr Altes, sagt Unz. Früher hätten Theatermacher das Publikum schocken können, wenn die Schauspieler nackt mit Blut verschmiert auf der Bühne standen. "Damit die Funktion heute erfüllt wird, brauchen Sie etwas Neues", sagt sie.

Die ekligsten Dinge der Welt

Ekel spiele im Alltag immer wieder eine Rolle. So gebe es Bücher über die ekligsten Dinge der Welt. Und auch Horrorfilme funktionierten als Tabubruch oder Mutprobe: Wie lange kann ich Angst und Ekel aushalten?

Parallelen zum Gruselfilm zieht auch Professor Peter Falkai, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum der Uni München. Es gehe ein Stück weit um Voyeurismus und Angeregtheit. Je nachdem wie empathisch der Betrachter sei, könne er Nähe schaffen und mitleiden, Nervenkitzel spüren oder in einer Art Opferrolle das Gefühl bekommen, ausgeliefert zu sein. "Empathische Menschen spüren in dem Moment auch den Schmerz", sagt der frühere Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde. Bei weniger empathischen Menschen sei die Lust am Betrachten ausschlaggebend.

An sich hält der Mediziner die im Internet gehypten Aufnahmen für harmlos: "Das sieht halt so aus." Sicherlich zeigten viele der Bilder und Videos Extremsituationen und seien eigentlich für den medizinischen Gebrauch. Doch schon Leonardo da Vinci habe sehr detailliert anatomische Tatsachen gezeichnet. Und jeder Medizinstudent kenne den "Atlas der Anatomie" mit Darstellungen von Schädeln und aufgeklappten Herzen.

Daher sei auch entscheidend, in welchem kulturellen Kontext die Aufnahmen gesichtet werden: "Ich kann hierüber aufklären: Medizin ist was Rationales, Operationen sind durchgeplant", sagt Falkai. Auch Arztserien im Fernsehen wie "Emergency Room" und "Dr. House" seien da wunderbare Werbung. "Die reißen den Schleier der Angst ab und zeigen, dass da vernünftig gearbeitet wird." Das könne letztlich dazu führen, dass sich der Patient weniger vor dem nächsten Arztbesuch fürchtet.

So sind die Darstellungen auf den Instagram-Accounts meist mit vielen Informationen über die Krankheit, Art und Verlauf des Eingriffs gespickt. Darunter entspinnen sich manchmal Diskussionen mit Hunderten von Kommentaren. (dpa)

Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema

Berufsbedingte Schäden

Wenn Musikmachen Muskeln, Sehnen und Gelenke krank macht

Das könnte Sie auch interessieren
Glasglobus und Stethoskop, eingebettet in grünes Laub, als Symbol für Umweltgesundheit und ökologisch-medizinisches Bewusstsein

© AspctStyle / Generiert mit KI / stock.adobe.com

Klimawandel und Gesundheitswesen

Klimaschutz und Gesundheit: Herausforderungen und Lösungen

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein MRT verbraucht viel Energie, auch die Datenspeicherung ist energieintensiv.

© Marijan Murat / dpa / picture alliance

Klimawandel und Gesundheitswesen

Forderungen nach Verhaltensänderungen und Verhältnisprävention

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

© Frankfurter Forum für gesellschafts- und gesundheitspolitische Grundsatzfragen e. V.

Das Frankfurter Forum stellt sich vor

Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Der Gesundheitsdialog

© Janssen-Cilag GmbH

J&J Open House

Der Gesundheitsdialog

Kooperation | In Kooperation mit: Johnson & Johnson Innovative Medicine (Janssen-Cilag GmbH)
Impulse für den medizinischen Fortschritt: Welches Mindset braucht Deutschland?

© Springer Medizin

Johnson & Johnson Open House-Veranstaltung am 26. Juni 2025 beim Hauptstadtkongress

Impulse für den medizinischen Fortschritt: Welches Mindset braucht Deutschland?

Kooperation | In Kooperation mit: Johnson & Johnson Innovative Medicine (Janssen-Cilag GmbH)
J&J Open House beim Hauptstadtkongress

© [M] Springer Medizin Verlag

Video zur Veranstaltung

J&J Open House beim Hauptstadtkongress

Kooperation | In Kooperation mit: Johnson & Johnson Innovative Medicine (Janssen-Cilag GmbH)
Kommentare
Sonderberichte zum Thema
Detailansicht eines Windrades: Bringt eine ökologisch nachhaltige Geldanlage auch gute Rendite? Anleger sollten auf jeden Fall genau hinschauen.

© Himmelssturm / stock.adobe.com

Verantwortungsbewusstes Investment

„Nachhaltig – das heißt nicht, weniger Rendite bei der Geldanlage!“

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: der Deutschen Apotheker- und Ärztebank (apoBank)
Leitliniengerechte Therapie mit DiGA

© Paolese / stock.adobe.com (Model mit Symbolcharakter)

Neuer Therapieansatz bei erektiler Dysfunktion

Leitliniengerechte Therapie mit DiGA

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Kranus Health GmbH, München
Protest vor dem Bundestag: Die Aktionsgruppe „NichtGenesen“ positionierte im Juli auf dem Gelände vor dem Reichstagsgebäude Rollstühle und machte darauf aufmerksam, dass es in Deutschland über drei Millionen Menschen gebe, dievon einem Post-COVID-Syndrom oder Post-Vac betroffen sind.

© picture alliance / Panama Pictures | Christoph Hardt

Symposium in Berlin

Post-COVID: Das Rätsel für Ärzte und Forscher

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: vfa und Paul-Martini-Stiftung
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Jetzt neu jeden Montag: Der Newsletter „Allgemeinmedizin“ mit praxisnahen Berichten, Tipps und relevanten Neuigkeiten aus dem Spektrum der internistischen und hausärztlichen Medizin.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Krebs in Deutschland

Bei zwei Krebsarten nahm die Sterblichkeit am stärksten ab

Lesetipps
Die Luftbelastung in Innenräumen mit Reinigungsprodukten betrifft jede Person. Sie beeinflusst unsere Lungenfunktion, und das lebenslang. Diese Gefahr wird unterschätzt. So die Meinung einer Pneumologin aus Italien.

© natali_mis / stock.adobe.com

Verschmutzte Luft

Was Reinigungsmittel in der Lunge anrichten können