Gesellschaft

Woher kommt der soziale Sprengstoff?

Was verursacht den tief sitzenden Frust in breiten Bevölkerungsschichten? Der Psychologe Stephan Grünewald glaubt, dass sich viele Bürger von den Eliten und vom Staat nicht mehr wertgeschätzt fühlten.

Von Christoph Driessen Veröffentlicht:
Wenn sich Wut ihre Bahn bricht.

Wenn sich Wut ihre Bahn bricht.

© RomoloTavani / Getty Images / iStock

KÖLN. Kleine Anlässe genügen, und die Wut schießt hoch. Viele kennen das Phänomen aus eigenem Erleben. Es wird oft als Beleg für ein nervös gewordenes Land angeführt. Eine Republik, in der sich der Rechtspopulismus einen festen Platz erobert hat und der Ton aggressiver geworden ist.

Der Psychologe Stephan Grünewald, Gründer des Marktforschungsinstituts Rheingold, hat dazu ein Buch geschrieben mit dem Titel „Wie tickt Deutschland?“ Er legt sozusagen ein ganzes Land auf die Couch. Grundlage dafür sind nach seinen Worten Tausende Tiefeninterviews mit Bürgern aus allen Schichten für insgesamt etwa 200 Studien, die sein Institut in den vergangenen Jahren erstellt hat.

Die daraus resultierende Diagnose für den Patienten Deutschland lautet: Es fehlt an gesellschaftlichem Zusammenhalt. Breite Bevölkerungsschichten fühlen sich demnach nicht mehr wertgeschätzt, sondern ausgegrenzt.

 „Sie erleben es so, dass die Eliten naserümpfend auf sie herabgucken, weil sie immer noch Fleisch essen, Alkohol trinken, Zigaretten rauchen, Diesel fahren, Unterschichts-TV gucken, Süßspeisen verzehren und die Finger in der Chipstüte fetten.“

Marode Infrastruktur

Doch nicht nur von den Eliten, auch vom Staat fühlen sich viele Bürger herabgesetzt und abgeschrieben. Grünewald verweist auf den immer teurer werdenden Wohnraum in Ballungsgebieten. „Da erleben ganz normale Menschen fast ein Vertriebenenschicksal, was zum Teil auch die Ressentiments gegen Migranten erklärt.“

Automatisierung und künstliche Intelligenz würden vielfach nicht als Chance begriffen, sondern als Schreckgespenst wahrgenommen – wird man morgen vielleicht schon nicht mehr gebraucht? Den maroden Zustand der öffentlichen Infrastruktur – Stichwort Schultoiletten – erlebe mancher Bürger als persönliche Kränkung, die tägliche Stunde im Stau als temporäre Gefangenschaft.

All das trage dazu bei, dass man sich zunehmend fremd im eigenen Land fühle. Für Ostdeutschland gelte das in besonderem Maße.

„Das, was Deutschland lange Zeit stark gemacht hat: dass die Intellektuellen Partei ergriffen haben für die Schwächeren – das hat sich verkehrt.“ Heute sei aus dem deutschen Solidarprinzip ein Entwertungsprinzip geworden.

„Jetzt grenzen wir uns nicht mehr von anderen Systemen oder Ländern ab, sondern von anderen Bevölkerungsteilen. Das ist sozialer Sprengstoff.“

Umstrittene Eliten-Kritik

Der steckt laut Grünewald auch im Handy. „Das Smartphone ist ein modernes Zepter individueller Macht, das dem Einzelnen verspricht, die Welt im Handstreich beherrschen zu können. Wir können per Fingerwisch das Weltwissen ergoogeln, geschäftliche Transaktionen tätigen oder Liebespartner finden.

Aber mit der Vorstellung, das ganze Leben auf Knopfdruck managen zu können, schwinde die Duldsamkeit und die Akzeptanz für den analogen Alltag, der immer noch mühsam und kleinschrittig ist. „Hier finden wir immer noch Partner, die wir nicht verstehen, oder Chefs, die uns drangsalieren.“

Viele Menschen kippten so ständig aus der digitalen Allmacht in die analoge Ohnmacht. Und auch das erzeuge Wut: „Die Wut ist häufig ein verzweifelter Versuch, erlittene Ohnmacht wieder in Allmacht zurückzuverwandeln.“

Was sagen andere Wissenschaftler zu Grünewalds Thesen? Am umstrittensten ist wohl seine Elitenkritik, denn die kennt man mit anderen Vorzeichen auch von Rechtspopulisten, die sich grundsätzlich zur „Stimme des Volkes“ stilisieren.

Dabei müsse man aber unterscheiden zwischen rechten und linken Eliten, merkt der Protestforscher Dieter Rucht aus Berlin an. „Kritik wird vor allem an linken Eliten geübt. Ihnen wird zum Beispiel vorgeworfen: „Ihr schimpft auf Dieselautos, aber fliegt selbst jedes Jahr in den Urlaub nach Asien.“

Da ist natürlich was dran, aber es geht hier auch darum, Schuld zuzuweisen, um sich mit berechtigten Anliegen gar nicht erst auseinandersetzen zu müssen. Als zentrale Erklärung für den Frust in bestimmten Bevölkerungsschichten ist das auf keinen Fall ausreichend.

Die Spaltung der Gesellschaft komme ganz wesentlich auch aus dem populistischen Lager. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen betrachtet „die Entsolidarisierung der Gesellschaft“ auch als eine der Ursachen für „Die große Gereiztheit“, so der Titel eines seiner Bücher.

Daneben hält er „das Bombardement mit Informationen“ für eines der Hauptprobleme. „Wir sehen alles – und zwar sofort: das Banale, das Berührende und das Bestialische. Privates und Öffentliches, Nahes und Fernes, Emotion und Information verschmelzen.“ Darauf seien Menschen mental nicht vorbereitet. „Daher gilt: Vernetzung verstört. Sie ist eine Tiefenursache der kollektiven Erregung.“(dpa)

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