„EvidenzUpdate“-Podcast

Drei Themen, die uns 2022 bewegt haben – und wie wir mit Krisen umgehen

Ein Jahr neigt sich dem Ende, ein neues beginnt. Im „EvidenzUpdate“ blicken wir auf drei Ereignisse und Themen zurück und überlegen, was davon bleibt. Und wir denken über unseren Umgang mit Krisen nach.

Prof. Dr. med. Martin SchererVon Prof. Dr. med. Martin Scherer und Denis NößlerDenis Nößler Veröffentlicht:
EvidenzUpdate mit DEGAM-Präsident Martin Scherer

EvidenzUpdate mit DEGAM-Präsident Martin Scherer

© [M] sth | Scherer: Tabea Marten

2022 war in der Wahrnehmung vieler ein Krisenjahr, nicht nur weil es das dritte Jahr der Corona-Pandemie war, die für etliche Beobachter jetzt vorbei sein dürfte, sondern auch wegen Russlands Krieg in der Ukraine. In dieser Episode vom „EvidenzUpdate“-Podcast blicken wir auf drei Aspekte, die uns dieses Jahr bewegt haben. Passend dazu haben wir ein neues Stück Evidenz zu Molnupiravir, das wir besprechen.

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Vor allem aber sprechen wir über Krisen, über unsere Wahrnehmung, unseren Umgang damit und darüber, was Medizin dem entgegensetzen kann.

Allen Hörerinnen und Hörern wünschen wir einen guten Rutsch und einen möglichst gesunden Start ins neue Jahr und viel Zuversicht für 2023. Wir hören uns in der 1. Kalenderwoche im neuen Jahr wieder. (Dauer: 45:55 Minuten)

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Schreiben Sie uns: evidenzupdate@springer.com

Quellen

  1. Butler CC, Hobbs FDR, Gbinigie OA, et al. Molnupiravir plus usual care versus usual care alone as early treatment for adults with COVID-19 at increased risk of adverse outcomes (PANORAMIC): an open-label, platform-adaptive randomised controlled trial. Lancet Published Online First: 2022. doi:10.1016/s0140-6736(22)02597-1

Transkript

Nößler: Das dritte Pandemiejahr geht vorüber. Und mit ihm wohl auch die Pandemie, jedenfalls in einigen Regionen vielleicht hierzulande. Was aber bleibt von dem Jahr 2022? Das besprechen wir im Jahresrückblick. Und damit herzlich willkommen zu einer neuen Episode vom EvidenzUpdate-Podcast. Wir, das sind ...

Scherer: Martin Scherer.

Nößler: Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der DEGAM und Direktor des Instituts und Poliklinik für Allgemeinmedizin am UKE in Hamburg. Und hier am Mikrofon ist Denis Nößler, Chefredakteur der Ärzte Zeitung aus dem Haus Springer Medizin. Moin, Herr Scherer, hallo.

Scherer: Guten Morgen, Herr Nößler.

Nößler: Guten Morgen. Wenn ich das verraten darf, wir zeichnen nach Weihnachten auf. Sind Sie mit Ihrer Familie gerade bei der Familie im Weihnachtsurlaub? Wie geht es Ihnen denn?

Scherer: Danke schön, es geht uns gut. Stimmungsmäßig auf jeden Fall. Gesundheitsmäßig ein bisschen durchwachsen. Man ist sich selber misstrauisch gegenüber Symptomen oder beim Anflug von Symptomen. Und hier und da hustet und schnupft es. Aber ich glaube, es ist in allen Familien so.

Nößler: Erkältungswelle geht ja durchaus durch. Versetzen Sie sich doch mal bitte, Herr Scherer, ein Jahr zurück, exakt 365 Tage. Wenn Sie Weihnachten 2022, also das jetzige Weihnachten, mit dem von vor einem Jahr vergleichen, was ist heute anders für Sie?

Scherer: Es ist sicherlich die Besorgnis hinsichtlich der allgemeinen Weltlage größer geworden. Natürlich auch die Wachsamkeit gegenüber der eigenen Befindlichkeit, die Pandemie steuert laut WHO dem Ende entgegen. Einige in Deutschland erklären sie gerade für beendet. Aber wir hatten es in unserer letzten Episode, maßgebend ist die WHO, die den Public Health Emergency of International Concern noch nicht aufgehoben hat, was mit Blick auf China auch verständlich ist. Hierzulande jedenfalls ist das Versorgungsgefühl ein endemisches. Der Coronadruck ist durch eine Erregermischung verursachten Versorgungslage gewichen. Und wenn Sie mich nach dem Vergleich fragen zum letzten Jahr, dann war das Händegeben bei Weihnachtsfeiern noch nicht en vogue, es ist jetzt auch noch nicht so richtig. Aber es gibt doch eine gewisse Heterogenität von Begegnungsformen, bei der Körperkontakt zumindest eine Option ist.

Nößler: Das haben Sie schön gesagt. Eine Heterogenität, wo Körperkontakt zumindest eine Option ist.

Scherer: Es gibt ja dieses klassische Handgemenge. Der eine hält die Hand hin, der andere hält die Faust hin. Und irgendwie findet es sich dann.

Nößler: Und manchmal traut man sich dann doch, auch sich wieder in die Arme zu fallen. Das gibt es ja auch wieder. Okay. Die Heterogenität des Körperkontaktes, das ist ja ein Ausblick schon für das kommende Jahr.

Scherer: Moment! Stopp! Die Heterogenität von Begegnungsformen.

Nößler: Verzeihung. Das war jetzt wieder so eine journalistisch unzulässige Verkürzung. Also, die Heterogenität von Begegnungsformen. Heißt tatsächlich, so höre ich das raus, dass wir in diesem Jahr, wenn ich transkribiere, ein Stück weit wieder Richtung neue Normalität gekommen sind.

Scherer: Das kann man sicher so sagen, wobei diese neue Normalität sich so neu vielleicht gar nicht anfühlt. Aber das können wir vielleicht noch herausarbeiten.

Nößler: Wir hatten in den letzten beiden Jahren auch jeweils einen Jahresrückblick gemacht. Wir hatten das dann oftmals so ein bisschen auch chronologisch gemacht. Ich glaube, 2020 sind wir einfach mal die Monate durchgegangen und haben da einzelne Stichpunkte herausgearbeitet. Heute wollen wir es ein bisschen weniger chronologisch machen, haben wir uns vorgenommen. Sondern eher metaphysisch uns diesem Jahr retrospektiv noch mal nähern und so ein bisschen herausarbeiten, was bleibt. Vielleicht versuchen wir es mal so: Wenn ich Sie jetzt frage nach drei Stichworten, die Ihnen in Erinnerung bleiben, welche wären das?

Scherer: Wenn Sie mich jetzt ganz spontan fragen, dann würde ich sagen: Ukraine, Ampel, Katar. Also nicht zu verwechseln mit Ampel-Katar, sondern Ampel und Katar, die WM. Zur Ampel kann man sagen, dass die Politik in diesem Jahr ein erheblich schwierigeres Geschäft war, schwieriger als die Jahre zuvor, mit sich ständig ändernden Bedingungen und Informationslagen. Und deshalb – das ist jetzt meine ganz persönliche Meinung – haben die in der Politik Tätigen auch einen gewissen Bonus verdient. Aber wir sind ja hier in einem EvidenzUpdate-Podcast und wahrscheinlich wollten Sie von mir so Sachen hören wie Omikron, Paxlovid und die Verbindung zwischen Medizin, Wissenschaft und Politik. Was dann aber fünf Stichworte wären.

Nößler: Das macht gar nichts, wir können auch 20 Stichworte machen. Was ich interessant fand, dass Sie Katar nennen. Das hatte ich schon wieder komplett aus dem Gedächtnis. Ich erinnere mich zwar an ein großartiges Fußballweltmeisterschaftsfinale, aber hätten Sie mich gefragt, Katar wäre mir niemals in den Sinn gekommen. Interessant.

Scherer: Diese WM wird sicher in die Geschichte der WMs als Negativbeispiel eingehen.

Nößler: Wenngleich teilweise fußballerisch doch sehr ansehnlich. Also, wir wollen aber nicht über Katar reden – oder etwa doch?

Scherer: Nein.

Nößler: Bleiben wir einmal bei den vielleicht eher wissenschaftlich medizinischen Themen, die Sie jetzt angeboten haben, als Letztes. Was war dabei – Omikron ...

Scherer: Paxlovid und das Verhältnis von Medizin, Wissenschaft und Politik.

Nößler: Dann bleiben wir jetzt bei diesen drei Stichpunkten. Gehen wir sie mal durch. Omikron, das ist die Variante des Jahres. Wenn wir überlegen, Herr Scherer, 12 Monate retour, in Erinnerung war noch Delta irgendwie, das war die dominierende Variante im Jahr davor. Und ich kann mich nicht mehr so richtig erinnern, wie es am Jahresanfang war, ich war mir jedenfalls nicht sicher, was ich davon halten soll von dieser Pandemie. Konnten wir im Januar schon wissen, dass es so ausgeht, wie es jetzt ausgegangen ist?

Scherer: Das konnte niemand wissen, man konnte es nur hoffen. Die Angst vor Omikron war sehr groß. Es hat sich früh abgezeichnet, dass die Verläufe gut zu handhaben waren. Man wusste aber nicht, was im Herbst und Winter kommt. Und zu 100 Prozent wissen wir immer noch nicht, was sich weiterentwickelt. Aber es ist ein gutes Szenario, was da abgelaufen ist.

Nößler: Im Sommer gab es durchaus Auguren, die meinten, da könne noch eine Killervariante kommen.

Scherer: Ja, das Wort habe ich auch gehört und gelesen.

Nößler: Das haben Sie auch gehört. Es ist nicht gekommen, das kann man jetzt an dem Punkt schon mal sagen. Und tatsächlich wurde just über Weihnachten dann auch von mehreren Leuten mitgeteilt, dass wir Richtung Endemie uns bewegen. Aber Sie haben schon die WHO zitiert, die das offiziell noch nicht so sieht.

Scherer: Das ist richtig. Und ich habe auch nicht den Eindruck, dass irgendwo auf der Welt darauf gewartet wird, wann wir in Deutschland das Ende der Pandemie erklären. Da gibt es große Heterogenitäten. Stellen Sie sich vor, was die Menschen in China dazu sagen, wenn wir jetzt offiziell das Ende der Pandemie erklären oder die WHO das tut, was sie noch nicht getan hat. In anderen Ländern wurde schon im Frühjahr auf Eigenverantwortung gesetzt, schauen Sie nach Großbritannien, im Nachhinein nicht ohne Erfolg. Aber das war eine Gratwanderung, die hatten wir eben in den letzten drei Jahren die ganze Zeit, nämlich die Gratwanderung zwischen Eigenverantwortung und Verordnung – das ist eins der Pandemiethemen. Da gab es Meinungsunterschiede bei uns, in den Fachgesellschaften, in der öffentlichen Debatte, Unterschiede in Europa. Und letztlich muss man auch sagen, es gibt da einfach auch kulturelle Unterschiede, wie Gesellschaften mit Eigenverantwortung versus Verordnung oder staatlichen Maßnahmen, staatlichen Eingriffen in das private Tun umgehen.

Nößler: Ausgeschlossen ist nicht Richtung EvidenzUpdate, da haben wir in den nächsten Monaten und Jahren noch Zeit, dass sich doch vielleicht die einen oder anderen Leute wirklich mit Abstand dann in ein paar Jahren noch mal hinsetzen und die Dinge noch mal im Detail analysieren und man dann vielleicht das eine oder andere auch noch mal herausfindet. Das können wir aber heute noch nicht machen.

Scherer: Das können wir noch nicht machen. Es wäre gut, wenn man da eine Datengrundlage für hat. Aber gefühlt dauert es Jahrzehnte, das aufzuarbeiten, was die letzten drei Jahre passiert ist.

Nößler: Das ist Omikron. Das zweite Stichwort war Paxlovid. Ich vermute mal, dass Sie Paxlovid jetzt nicht ausschließlich dieses eine Arzneimittel meinen, sondern eher so als Gattungsbegriff.

Scherer: Paxlovid war schon das Medikament, das man von Überschriften von Print- oder auch digitalen Medien am häufigsten lesen konnte.

Nößler: Genau. Quasi schon der Vorzeigekandidat einer Covid-19-Arznei. Herr Scherer, 2021 wird wahrscheinlich in der Erinnerung, wenn wir über die Pandemie reden, das Jahr des Impfens sein. 2022 ist dann tatsächlich vielleicht eher das Jahr von Covid-19-Arzneien, die auf einmal eine Relevanz bekommen haben, hier halt jetzt tatsächlich Paxlovid. Und die Schlagzeilen, die Sie ansprechen, die haben vor allem auf Twitter stattgefunden. Also dass zum Beispiel Bundesminister, beispielsweise auch im Finanzministerium, tatsächlich mitteilen, dass sie dieses Arzneimittel nehmen und man dann noch mal genau nachschaut, für wen ist es denn eigentlich empfohlen. Und da werden so ein bisschen medizinische Indikationen vorgegeben. Sie erinnern sich an das große Gespräch, das wir hatten mit Daniel Kalanovic dazu. Ich glaube, das war im April, nicht wahr?

Scherer: Ja, so um den Dreh rum, es kann auch März gewesen sein.

Nößler: Wir können es noch mal verlinken. Ein sehr informatives Gespräch, wie ich nach wie vor finde. Und da haben Sie beide Jahre ein Case-Finding gemacht und gemeinsam kritisch überlegt, wem nützt das. Und dann kommen solche Twitter-Meldungen, die die medizinische Entscheidungsfindung irgendwie beeinflussen. Was bleibt davon?

Scherer: Was bleibt davon? Was wir erlebt haben, das war natürlich eine Politisierung von Medizin. Gleichzeitig lag und liegt immer noch auf der Politik die Verantwortung, für Sicherheit in unklaren Zeiten zu sorgen. Und insgesamt ist auch der Rechtfertigungsdruck größer geworden. Das sind Beobachtungen, die habe ich persönlich auch gemacht. Tendenziell muss man sich stärker rechtfertigen, wenn man Verantwortung trägt. Da können wir vielleicht noch mal gesondert überlegen, woran das liegen könnte. Aber das hängt natürlich mit der Politisierung von Medizin zusammen. Wenn man eine vermeintlich mögliche Maßnahme nicht getroffen hat und es wird schlimm, dann wird man natürlich gefragt, warum habt ihr den Sommer verschlafen, warum habt ihr das Frühjahr verschlafen. Das ist auch etwas, was dann sehr schnell und sehr scharf den politisch Handelnden entgegengeworfen wird. Insofern, es ist eine Frage der Indikation. Wer welches Medikament kriegt, ist allein eine Entscheidung zwischen Ärzten und Patienten im Rahmen der partizipativen Entscheidungsfindung. Am Anfang steht die Indikationsstellung, dann die Aufklärung und dann die gemeinsame Entscheidung. Genauso ist es beim Impfen. Es ist immer eine ärztlich-patientenseitige Entscheidung. Und so muss es auch bleiben.

Nößler: Dennoch sind ja die Wogen wirklich hochgegangen. Also das bleibt ja auch in Erinnerung. Gerade auch auf Social Media, wo das dann immer ganz schnell geht und jetzt auch nicht wirklich ausdifferenziert besprochen werden kann, wo dann große Schwankungsbreiten sind zwischen den bösen Ärztinnen und Ärzten, die impfen, und den anderen bösen Ärztinnen und Ärzten, die Paxlovid nicht verordnen wollen. Also dem war man ja ausgesetzt, dem Rechtfertigungsdruck – Sie nannten es so.

Scherer: Da blutet dem Versorgungsforscher auch das Herz. Weil solche Aussagen über Versorgungsqualität, dass von dem oder jenem Medikament zu wenig verordnet wurde – solche Aussagen in der Versorgungsforschung machen, bedarf wirklich sehr ausdifferenzierte, sehr systematisch und gut ausgearbeitete Ansätze. Bis wir durch eine Studie sagen können, da stimmt die Versorgungsqualität nicht, hier gibt es groß angelegte Standardunterschreitungen – das sind im Grunde genommen jahrelange Forschungsbemühungen, bevor man zu so einer Aussage überhaupt kommen kann, die dann auch wissenschaftlich untermauert ist. Man müsste ja theoretisch Mäuschen spielen in den Konsultationen. Also die Verordnungsraten sind ja nichts anderes als eine Verkettung von vielen Einzelfallentscheidungen zwischen Ärzten und Patienten. Dann müsste man eigentlich in jeder dieser Konsultationen Mäuschen spielen und dann zählen, wie oft hätte Paxlovid eigentlich gegeben werden müssen oder wo war Paxlovid indiziert und wurde es aber nicht gegeben. Und so eine Studie konnten wir natürlich nicht machen. Die braucht sehr viel Vorbereitung, dauert lange, ist sehr aufwändig. Und ohne dass es solche Studien gab, gab es aber genug Leute, die ganz genau wussten, hier waren die Hausärztinnen und Hausärzte mal wieder nicht mutig genug.

Nößler: Schlecht informiert.

Scherer: Hier waren sie schlecht informiert, hier haben sie mal wieder ein schönes neues Medikament nicht rechtzeitig und in ausreichender Zahl gegeben. Das mag hier und da natürlich auch der Fall gewesen sein. Und es nahmen die Verordnungsraten dann auch zu. Aber ich würde doch gerne auch plädieren wollen für diese Seriosität von Versorgungsbeschreibungen und für die Seriosität von Versorgungsbewertungen. Das ist eine eigene Wissenschaftsdisziplin. Da kann man nicht einfach den Stab über die Handelnden brechen und sagen, die Medizin ist gut oder schlecht, die Hausärztinnen und Hausärzte machen es richtig oder falsch – nein, dafür gibt es die Versorgungsforschung.

Nößler: Herrlich. Ich habe mir gerade vorgestellt, Herr Scherer, wenn Sie das in der Twitter-Antwort jetzt formuliert hätten – das ist ja gar nicht möglich, so ruhig und differenziert zu sagen: Moment, wir müssen Versorgungssituation beschreiben –, das wäre in dieser gelassenen Differenziertheit, wie Sie es jetzt gerade gesagt haben – Podcast ist ja ein gutes Format für so was – auf Social Media gar nicht möglich, so in Diskurs zu treten.

Scherer: Deshalb mache ich auch tausendmal lieber Podcast mit Ihnen, als zu twittern.

Nößler: Gut. Vielleicht für 2023, das Mastodon-Jahr, das werden wir dann in 12 Monaten sehen. Bleiben wir noch kurz bei der pharmazeutischen Intervention. Jetzt haben wir über Paxlovid gesprochen, die Vorzeigearznei gegen Covid-19. Es gab natürlich auch einige andere. Und jetzt passt es natürlich im EvidenzUpdate recht gut, dass just zu dieser Episode vor zwei, drei Tagen – es muss um Weihnachten gewesen sein, kurz vor Weihnachten – eine Arbeit publiziert wurde zu Lagevrio. Das ist Molnupiravir. Das ist ein RCT, nicht wahr?

Scherer: Das ist ein RCT, eine große Studie aus dem Vereinigten Königreich, Molnupiravir hat bei Geimpften nicht gut funktioniert. Ich will nicht sagen, das wussten wir vorher. Aber wir wussten vorher schon, dass Paxlovid sicherlich das bessere Medikament ist oder das wirksamere Medikament, sagen wir es mal so. Und das Molnupiravir sowieso auch sehr mit Vorsicht zu genießen war und ist aufgrund der Teratogenität und der Mutagenität.

Nößler: Also würde man wahrscheinlich eher als Reservearznei dann klassifizieren.

Scherer: Genau.

Nößler: Also, wir haben Evidenz aus einem großen RCT aus dem UK. Ich glaube, der lief sogar bis Anfang des Jahres, also bis in die Omikron-Welle mit hinein.

Scherer: Ja.

Nößler: Dass es bei Geimpften kaum Ergebnis auf harte Endpunkte wie Tod und Hospitalisierung hat. Das packt man in die Shownotes rein, Herr Scherer, nicht wahr?

Scherer: Kann man bei Bedarf dann gerne nachlesen.

Nößler: Gut. Hatten wir diskutiert. Herr Scherer, was war das dritte Stichwort? Wir hatten Omikron, wir hatten Paxlovid und Sie hatten ein drittes, eher wissenschaftliches Stichwort.

Scherer: Omikron, Paxlovid und das Verhältnis von Medizin, Wissenschaft und Politik. Da haben wir schon ein bisschen was zu gesagt. Aber es geht natürlich auch um Wissensvermittlung und schon auch um Leitlinien. Denn die Frage ist ja, wie haben wir als Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin versucht, Orientierung zu geben in den letzten Monaten und wo kann es da eigentlich hingehen. Das wäre vielleicht dann etwas für den Jahresausblick. Aber vielleicht können wir da die Leitlinien noch mal in den Rückblick mit reinnehmen.

Nößler: Das ist jetzt der DEGAM-Werbeblock. Ist es eine S2-Leitlinie mittlerweile zu SARS-CoV-2?

Scherer: Sie ist gestartet mit über 20 Updates. Also sie ist gestartet als eine S1-Handlungsempfehlung und wurde dann upgegraded zu einer S2-E-Leitlinie.

Nößler: Also eine evidenzbasierte Leitlinie.

Scherer: Ja.

Nößler: Nicht Konsens, das wäre dann die K. Über 20 Updates haben Ihre Kolleginnen und Kollegen da gemacht. Das klingt nach richtig viel Arbeit.

Scherer: Das war sehr viel Arbeit. Und großes Kompliment an die Leitliniengruppe, die das gemacht hat, und an die ständige Leitlinienkommission, jetzt die SLQ, nicht mehr die SLK, sondern die SLQ, die Sektion Leitlinien und Qualitätsförderung. Das war das Thema Living Guidelines, Rapid Guidelines. Aber auch hier müssen wir uns fragen, wie lange gehen wir da noch auf diese Einzelinfektionen und bauen es vielleicht doch lieber generisch aus, im Sinne einer ARE-Leitlinie, also einer allgemeinen Infektsymptomleitlinie, um die Vielzahl unterschiedlicher Erreger dann einfach auch abzubilden. Dass man es generisch aufbaut und eine Patientenversion macht, in der dann drinsteht, wie verhalte ich mich bei Infektsymptomen und dann auch ein Algorithmus für die Ärztinnen und Ärzte anbietet.

Nößler: Das ist ja ein spannender Punkt, den Sie ansprechen. Das Primat der Familienmedizin ist ja, symptomorientiert zu arbeiten. Und die DEGAM hat ja auch eine Hustenleitlinie beispielsweise. Und da ist eigentlich so eine erregerspezifische Leitlinie zunächst einmal ein Fremdkörper für das Selbstverständnis der Allgemeinmedizin, oder?

Scherer: Genau. Wir haben das auch im letzten EvidenzUpdate ausführlich besprochen. Ich weiß nicht, ob es an Weihnachten lag oder an was anderem. Dieses EvidenzUpdate ist jetzt nicht so dermaßen eingeschlagen in der Rezeption. Sie können das vielleicht anhand der Hörerzahlen widerlegen – müssen wir jetzt auch nicht tun. Aber vielleicht kann man da noch mal reinhören. Da haben wir das ausführlich besprochen, wie es eigentlich ist. Gehe ich die Sache generisch an oder braucht man vielleicht künftig Biomarker oder müssen wir versuchen, einzelne Erreger zu identifizieren. Und als Generalist bin ich da nach wie vor auf dem generischen Gleis.

Nößler: Ist durchaus absehbar für die Zukunft, dass das Thema SARS-CoV-2 Teil eher dieser symptomorientierten Leitlinie werden kann.

Scherer: Ja. Ohne den Entscheidungen bei uns vorzugreifen, aber ich denke, dass das der Weg ist.

Nößler: Also es gibt eine Sektion für das Thema Leitlinien – wurde in Greifswald bei der Jahrestagung auch neu gewählt –, da gehört das hin und da sitzen dann Ihre Kolleginnen und Kollegen, die sich um dieses Thema kümmern. Und dann haben wir da wahrscheinlich schon ein mögliches Thema, das man im kommenden Jahr mal bearbeiten könnte. Das nehmen wir uns mal auf unsere Ideenliste mit drauf. Herr Scherer, drei wissenschaftliche Aspekte hatten wir. Wir hatten das Thema Omikron, Paxlovid, alles auch immer in der Kombination Politik und Wissenschaft, in dem Fall dann auch für medizinische Wissenschaft, wie funktioniert das gut zusammen. Das sind so drei Dinge. Und Ukraine war, glaube ich, das erste Schlagwort, das Sie brachten, das Jahr 2022 als ein sehr anspruchsvolles Jahr. Wir hatten in der letzten Episode schon so ein bisschen den Boden für unseren Jahresrückblick gelegt. Da haben wir auch das Thema Krise besprochen. Und da haben Sie, ich glaube, Wikipedia zitiert, was eine Krise eigentlich ist. Wenn man jetzt in den letzten Wochen das mal alles so zusammenfasst an Schlagzeilen, was man so gesehen hat, dann sieht man, dass die Kinder- und Jugendmedizin in der Krise ist. Wir haben eine Influenzakrise, eine RSV-Krise, das mit den Arzneimitteln und Lieferengpässen, das ist eigentlich auch eine Krise. DRG sind eine Krise und Investoren in der ambulanten Medizin – oder die schicken die ambulante Medizin in die Krise. Und natürlich Ukraine, der Krieg, den wollen wir nicht vergessen. Also man könnte tatsächlich alles irgendwie so unter diesem Krisenmotto zusammenknüpfen in diesem Jahr. Und noch mal rekapituliert: Ist die Welt mehr in der Krise, als es vor der Pandemie war vor drei Jahren?

Scherer: Es wird zweifellos mehr von Krisen geredet. Und dann muss man immer schauen, ob es sich um Krisen handelt. Die Flüchtlingsströme haben zugenommen, die Versorgungslage in ärmeren Ländern hat sich verschlechtert durch die Störung von Lieferketten. Die Andeutung, man könnte zu Atomwaffen greifen, das sind alles Dinge, die schlimmer geworden sind und die sicherlich etwas Krisenhaftes haben. Im Hintergrund eine undurchsichtige chinesische Politik, sowohl was die Gesundheit angeht als auch was die mehr oder weniger versteckten Ansprüche auf den Weltmärkten angeht. Ich will jetzt mein Terrain nicht so weit verlassen. Aber krisenhaft sind sicher die ausgelösten Versorgungsengpässe. Krisenhaft sind sicher die wirtschaftlichen Auswirkungen des Ukrainekrieges. Dabei sind die direkten Umweltschäden des Krieges noch nicht mal mit eingerechnet. Krisenhaft sind schon jetzt die Folgen des Klimawandels mit Extremwetterereignissen, mit Hitze, mit Dürre, mit Wasserknappheit, mit Existenzbedrohung und auch jetzt schon mit Existenzvernichtung. Eine Krise, die sich verstärken wird. Die Schwierigkeiten, über die wir geschrieben haben, als wir unsere Forschungsanträge der frühen 2000er verfasst haben – wissen Sie, was da das Hauptthema war, wovon wir immer so schrieben, womit wir begründet haben, dass chronische Krankheiten das Thema der Zukunft sein werden?

Nößler: War es ein Versorgungsengpass in Form von Fachpersonal?

Scherer: Ich gebe Ihnen mal einen kleinen Tipp. Ein Tannenbaum wird zu einem Pilz.

Nößler: Sie sprechen in Rätseln, Herr Scherer. Ein Tannenbaum wird zu einem Pilz?

Scherer: Oder eine Pyramide wird zu einem Pilz.

Nößler: Natürlich, der demografische Wandel.

Scherer: Es war der demografische Wandel. In den frühen 2000ern war der demografische Wandel das Thema überhaupt, verglichen mit den Themen, die wir jetzt haben, ein fast harmlos anmutendes Thema. Warum bringe ich den demografischen Wandel? Weil wir mittendrin sind in der alternden Gesellschaft, was gut ist. Alternde Gesellschaft heißt ja, dass die Lebenserwartung steigt und zunimmt. Aber das hat natürlich Implikationen für Vulnerabilität – wir hatten das in der Pandemie – und es hat Implikationen für Hitzethemen, für eben diese Extremwetterereignisse, für hitzebedingte Gesundheitsstörungen. Ja, es gibt Krisen, es gibt die Klimakrise und es wird nächsten Sommer und in den Sommern danach sicher immer wieder ein Problem werden mit der Hitze und den älteren Leuten.

Nößler: Ich erinnere mich an die Definition, die Sie in der letzten Episode zum Krisenbegriff zitiert hatten, nämlich dass Krise genau genommen eigentlich ein eher kurzzeitiges Phänomen ist, das zu einem Wandel führt, egal in welche Richtung. Und wenn ich jetzt an das Beispiel Klima denke, die Krise schlechthin – es wird immer von der Klimakrise gesprochen –, davon abgesehen, wenn das so weitergeht, der Planet für viele Lebewesen unbewohnbar wird, inklusive der Menschen, da ist der Krisenbegriff nicht so richtig angebracht. Das ist eher eine Katastrophe, oder?

Scherer: Der Krisenbegriff ist zwangsläufig unscharf, weil es sich um eine Entwicklung auf dem Scheitelpunkt handelt. Es kann in die eine oder in die andere Richtung gehen. Und eine exakte Krisenbestimmung würde voraussetzen, dass man einen exakten Eindruck von den möglichen katastrophalen Szenarien hat, aber auch von den Möglichkeiten, die Krise zu bewältigen. Es geht entschieden zu langsam. Und Katastrophen gibt es schon jetzt. Aber es lässt sich schwer vorhersagen. Was wir aber genau wissen, ist, dass es ein Thema für die Medizin ist, dass wir uns in der Medizin zunehmend damit beschäftigen. Wir sind da ja auch dran. Wir haben eine Leitlinie „Hitzebedingte Gesundheitsstörung“ gemacht. Es gibt mehrere Forschungsprojekte dazu. Wir widmen uns dem Thema in hoher Intensität.

Nößler: Das ist insofern natürlich interessant, diese ganzen Beispiele, die Sie gerade gebracht haben, Herr Scherer, das klingt dann schon so ein bisschen danach – oder eigentlich kommt man zwangsläufig zu der Feststellung, wenn man sich das mal so nebeneinander alles legt, dass man sagt, das ganze Leben beinhaltet zig Krisen, fast schon wie eine Kette. Immer wieder diese kleinen Wendemanöver, Wendepunkte, wo man irgendwie auch selbst intervenieren muss, wo andere intervenieren. Gehört das nicht schlicht dazu, das auch mal so zu verstehen, dass Krisen vielleicht eine Bedingung sind?

Scherer: Ja. Krisen sind Anregungen zum Lernen, Krisen gehören zum Menschsein dazu, nicht nur zum Menschsein, die ganze Evolution hat sozusagen als Thema Survival of the Fittest. Das bedeutet, dass unfitte Merkmale im Laufe der Zeit rausselektiert wurden. Das lief nicht ohne Krise ab. Also ich spreche jetzt über den evolutionären Kontext.

Nößler: Es sind ja auch Arten ausgestorben, das ist ja auch Teil des Wandels.

Scherer: Das ist Teil des Wandels. Das sind auch krisenhafte Zustände. Und Evolution geht nicht ohne Krise. Aber wir sind jetzt beim Menschen. Krisen gehören zum Menschsein dazu. Und entgegen vieler Annahmen, vielleicht auch entgegen vieler kognitiver Konversationsmechanismen verfügen wir nicht über unsere Lebenszeit, wir haben nicht 100 Prozent Einfluss auf unsere Gesundheit. Wir haben keinen Einfluss auf die Sozialisation, die wir erhalten, in die sozialen Umstände, in die wir hineingeboren werden, die historischen Umstände, in denen wir uns bewegen sind nicht vorhersehbar, das Leben ist riskant. Und die Frage ist dann, ob man Bedrohung erkennt und wie man darauf reagiert.

Nößler: Krass. Wir verfügen nicht über unsere Lebenszeit – das ist eine irre Annahme, die wir haben.

Scherer: Ja. Vielleicht ist es auch eine Verdrängungsleistung, die uns überlebensfähig macht. Man kann sich das auch nicht immer vergegenwärtigen.

Nößler: Interessant. Wenn ich an Krise denke – bleiben wir ein bisschen medizinisch, vielleicht auch psychologisch –, dann kommt eine Krise, egal woher sie kommt, sie kommt einem vor wie Hilflosigkeit. Man weiß in dem Moment nicht, was tun. Und das kann mich auch in Form schwerer Krankheit treffen, die ich nicht beeinflussen kann. Und jetzt könnte man dann sagen: Mein Gott, sei zuversichtlich, auch wenn du nicht restlos über deine Lebenszeit verfügen kannst, wenn Leben immer ein Risiko ist. Die Frage, die sich dann natürlich stellt, ist: Woher ziehe ich denn in einer Krisensituation die Zuversicht, die ich brauche?

Scherer: Wir können es uns als erwachsene Person leisten, pessimistisch zu sein. Aber wir haben die Aufgabe, den Nachwachsenden gegenüber Optimismus zu zeigen. Warum? Weil Pessimismus entwicklungshemmend ist. Wenn ich zu pessimistisch bin, kann es sein, dass ich mir keine Ziele mehr setze, dass mir Beziehungen egal sind und dass dann einfach auch die Gefahrenseite der Krise dominant wird. Ihre Frage zielte ja auch ein bisschen darauf, was man konkret tun kann. Also dass wir uns viel mehr auf die Dinge konzentrieren, auf die wir unmittelbaren Einfluss haben, irgendwas in meinem persönlichen Kontext ist immer möglich, was ich tun kann. Dass ich versuche, meine sozialen Netzwerke in Ordnung zu bringen. Das sagt sich so einfach. Aber wenn es jedem gelänge, dann hätten wir über einen Ketteneffekt wahrscheinlich auch weniger gesellschaftliche Probleme. Das nur am Rande. Und dass man sich an politischen Entscheidungen beteiligt, dass man die Möglichkeiten zur partizipativen Demokratie auch ausschöpft. Und im Ergebnis, dass wir dann es wirklich schaffen, nicht nur Objekt, sondern Subjekt der Geschichte zu sein.

Nößler: Das sollte ja eigentlich auch die Stärke des Menschen sein, eben Subjekt sein zu können, nicht nur Objekt – jedenfalls meint er das immer und sagt, das würde ihn determinieren. Noch mal vom Medizinischen kurz weggeschaut, das Thema Klimawandel – Sie hatten es erwähnt – erlebt man ja als komplette Machtlosigkeit. Die Vorstellung, ich könne etwas ändern, die ist ja völlig absurd, als einer von 8 Milliarden Menschen. Es gibt dann im Diskurs regelmäßig diesen Fingerzeig auf andere: Ja, die emittieren ja noch viel mehr CO2 als wir. Und dann entsteht ja so eine merkwürdige Verweigerungsspirale, müsste man fast schon sagen. Aber das, was Sie meinen, heißt, wirkmächtig bin ich in dem, wo ich hinlangen kann. Das heißt, wenn ich mal einen Kilometer weniger Auto fahre, habe ich schon was getan.

Scherer: Ja. Und ein schönes Beispiel ist KLUG, die machen das wunderbar, unsere Freundinnen und Freunde von der Initiative Klimawandel und Gesundheit, die machen das ganz ohne Zeigefinger und ganz ohne schlechte Laune. Das klingt jetzt vielleicht erst mal ein bisschen paradox, aber so ist es. Also ein grünes Leben kann auch Freude machen. Und das Stichwort dabei ist Co-Benefits, also dass ich in meinem kleinen Bereich versuche, durch Verhaltensweisen, die einerseits gesundheitsfördernd sind, vielleicht dann auch den einen oder anderen Co-Benefit mitzunehmen, mit positiver Stimmung und mit Leichtigkeit, sofern ich das hinkriege.

Nößler: Also positiv. Sie haben eben gesagt – das fand ich total interessant –, dass wir Erwachsene uns es leisten können, hin und wieder pessimistisch zu sein. Mag sein. Aber es geht tatsächlich zunächst um die positive Stimmung.

Scherer: Ja. Und die Kraft, sich Ziele zu setzen und die Motivation, sich Ziele zu setzen. Ich glaube nicht, dass der Pessimismus jetzt gerade der Turbolader der Leistung ist. Oder die Motivation ist der Turbolader der Leistung. Und für die Motivation brauche ich einen gewissen Grundoptimismus. Ich will jetzt irgendwie nicht ins Faseln kommen oder ins Schwafeln. Aber ich finde es ganz wichtig, wenn wir uns über Resilienz im Kleinen und im Großen Gedanken machen.

Nößler: Herr Scherer, man darf zum Jahresende auch mal ein bisschen pathetisch sein. Und man darf auch tatsächlich über Resilienz reden, das ist erlaubt.

Scherer: Dann stellen Sie mir doch mal eine pathetische Frage zur Resilienz.

Nößler: Wie schaffen wir es, dass unsere Gesellschaft im nächsten Jahr ein Stück weit resilienter wird? Das wäre so eine ganz pathetische Frage.

Scherer: Oha. Das Gute ist ja, dass die Gesellschaft aus vielen Individuen besteht. Und ich fange es mal individuell an. Ich handhabe es bei mir selber so und spreche auch manchmal mit Patientinnen und Patienten darüber. Ich weiß nicht, wie Sie das machen, wenn man morgens die Augen aufschlägt, dann ist der erste Eindruck, aha, ich bin noch da, ich lebe noch. Dann orientiert man sich so ein bisschen und dann nach ein paar Sekunden kommt schon so der Blick auf den Tag, Wochenende, muss ich arbeiten, wie spät ist es. Und nach ein paar Momenten überlege ich mir, gibt es heute irgendwas, worauf ich mich freue. Und das ist das, was ich auch gerne, wenn es sich so ergibt, mal in einer Konsultation bespreche, was sind die Dinge, auf die man sich freut, was bedeutet für mich ein ausgewogenes Leben. Die einen stärken sich durch Kunst und Kultur oder Literatur, die anderen, die lieben den Sport. Wieder andere ziehen Energie durch die Aufklärung und Information über aktuelle Situationen. Andere stärken sich über die Religion, finden da ganz viel Trost und Zuversicht. Sie haben mich nach der Gesellschaft gefragt. Natürlich bleibt das, was Individuen tun nicht ohne Einfluss auf die Gesellschaft. Und die Politik und die Medien haben die Aufgabe, Zuversicht zu vermitteln, zumindest im Hinblick auf naheliegende Ziele. Man muss denen jetzt nicht sagen, wir schaffen das, man kann es auch anders machen.

Nößler: Aber man darf natürlich mit aller Freude auch gegenseitig Erwartungen formulieren. Und ich habe gerade eine Erwartung mitgenommen. Nun bin ich ja Medienschaffender und stehe quasi für einen Gattungsbegriff als einzelner kleiner Mensch hier am Mikrofon. Aber die Erwartung, die ich zum Beispiel jetzt gehört habe: Seid mal ein bisschen fröhlicher, liebe Medien, verbreitet manchmal ein bisschen mehr Zuversicht. Es gibt ja so schöne Formate wie die gute Nachricht des Tages.

Scherer: Ich glaube, das wäre mir zu einfach. Ich glaube, es geht hier nicht allein um gute Laune. Es würde schon mal helfen, wenn man nicht den Eindruck hätte, bei den naheliegenden Zielen kommen wir eh nicht vorwärts. Und die, die da am Ruder sitzen, die sind sowieso nicht geeignet. Und dieses Überkritische, Übernegative, wenn man das etwas reduzieren würde, dann hätte auch der eine oder andere positive Gedanke, die eine oder andere Aufbruchsstimmung wieder eine Chance. Aber das ist eine ganz individuelle Sicht ohne Anspruch auf Repräsentativität. Also nicht falsch verstehen, Herr Nößler. Also es ist jetzt nicht so gemeint, dass man nicht kritisieren darf. Aber wir hatten es schon häufiger. Wir haben eine große Gereiztheit in unseren Debatten und gleichzeitig haben wir aber in Deutschland auch eine gewisse Sehnsucht nach Konsens. Und es muss gar nicht zwangsläufig einen Konsens geben, aber was es auch nicht geben sollte, das ist eine Cliquenbildung der Gleichgesinnung. Das macht dann noch mehr Fragmentierung und Partikularisierung. Wir müssen mehr miteinander reden, auch unter denen, die unterschiedlicher Meinungen sind. Es darf nicht so sein, dass jeder in seiner Blase oder in seiner Gruppe bleibt. Das ist nicht gut. Und das hatten wir bei Corona doch sehr oft. Das ist es eben, was den Zusammenhalt nicht fördert. Da müssen wir wieder in so eine neue Debattenkultur kommen und ein bisschen toleranter sein gegenüber unterschiedlichen Meinungen.

Nößler: Debatte, das ist ja – vielleicht lag es auch an der Pandemie, wo man sich zumindest einige Zeit nicht so gut begegnen konnte und wo man irgendwie aus der Ferne miteinander reden musste. Jetzt mal so als Metapher, dass man mehr über- als miteinander gesprochen hat und am Ende daraus vielleicht eher ein unilaterales Schlagzeilengewitter entstanden ist, statt über die Dinge, die mit Schlagzeilen transportiert werden, einfach sich auszutauschen, sich zu verständigen.

Scherer: Das kam sicher erschwerend hinzu. Die Gespräche laufen im Face-to-Face-Kontakt oder bei Präsenz natürlich anders ab.

Nößler: Definitiv. Um zum Ende noch mal so Richtung Medizin zu kommen, die deutsche Ärzteschaft – nur so nebenbei – ist ganz hoffnungsfroh, dass es vielleicht erstmals wieder möglich ist seit 2020, einen Neujahrsempfang zu machen. Das ist ja auch in der Regel ein Ort, wo auf einmal Leute miteinander gut ins Gespräch kommen, abends bei einem Glas Rotwein, die sich sonst im Fernsehen oder im Radio eher angehen. Aber um noch mal auf die Medizin zu kommen, Stichwort Resilienz, Stichwort, wie können wir uns helfen, Krisen nicht als ausweglos zu erkennen. Es wird ja hin und wieder gesagt, insbesondere Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte sind ein Stück weit auch sozialer Kitt und mit ihrem Beruf, den sie ausüben, machen sie etwas sehr Soziales und können da in irgendeiner Form auch helfen, resilienzfördernd zu sein. Mal Hand aufs Herz, Herr Scherer, ist das nicht eine Erwartung, die kaum zu erfüllen ist?

Scherer: Ich glaube, das wäre ein veraltetes Konzept, jetzt nur auf Diagnose und Handwerk zu setzen. Es geht schon auch in der Medizin um Beziehung, gerade in der hausärztlichen Medizin geht es um die Beziehung als Teil des Heilungsprozesses. Und nicht zuletzt haben wir in der Ausbildung der jungen Ärztinnen und Ärzte kommunikationsbasierte Curricular als wesentlichen Bestandteil auch hervorgehoben. Die primärärztliche Versorgung lebt von der Offenheit, die lebt von der Akzeptanz, vom direkten Kontakt und vom Austausch mit allen Bevölkerungsgruppen. Das kann ein resilienzförderndes Element sein, würde ich schon sagen. Also dass wir auch in der hausärztlichen Medizin zum sozialen Kitt in der Gesellschaft beitragen, jeden Tag.

Nößler: Dann formuliere ich die Erwartung um. Okay, es ist ein Beitrag, ich kann aber nicht erwarten, dass ich meine Probleme in der Praxis ablade und dann ist da jemand, der wird sie schon lösen. Das geht nicht. Kann mir helfen dabei.

Scherer: Er kann helfen, er kann innerhalb des Sozialraum-Mappings der Hilfsdienste, der ehrenamtlichen Angebote kann er/sie vermitteln. Aber völlig klar, welche Hausärztin und welcher Hausarzt ist nicht erst mal auch überwältigt, wenn innerhalb von 10 Minuten die Last eines ganzen Schicksals einer ganzen Familie auf den Tisch kommt. Viele Familien haben auch ein unsagbares Leid zu bewältigen. Das sind lange Prozesse. Das sind Prozesse der Begleitung. Man muss dann gucken, wie man das zeitlich und im Praxisalltag unterbringt. Und viele machen das dann so, dass sie dann noch mal ein Gespräch vertragen, noch mal an den Rand einer Sprechstunde legen. Aber klar, die Kraft des oder der Einzelnen, die ist da reduziert. Aber ich glaube, institutionell gesehen ist die hausärztliche Praxis ein Ort, in dem all das Platz hat. Und deshalb trägt die hausärztliche Praxis auch zur sozialen Sicherheit in unserem Land bei, neben den vielen Themen der primärärztlichen Versorgung, der Prävention, der Gesundheitsversorgung, der Akutversorgung, der Versorgung chronisch Kranker. Punkt.

Nößler: Die Politik hat ja gerade das Thema Einsamkeit auch über Weihnachten mal wieder für sich entdeckt und thematisiert das und will da was tun. Wer weiß, es gibt da noch so ein Gesetzeswerk, das wartet seit – eigentlich ein Verordnungswerkt – etlichen Jahren auf seine Vollendung, die Novelle der ärztlichen Approbationsordnung. Schauen wir mal, vielleicht kommt da ja im 1. Quartal was. Da ist das ja auch ein Teil davon.

Scherer: Auf jeden Fall etwas, was wir im Auge behalten.

Nößler: Das und vieles andere, Herr Scherer, werden wir im Auge behalten. Wir sind am Ende unseres Rückblicks. Sollen wir einen Ausblick wagen?

Scherer: Wir können den Ausblick auf den Ausblick wagen.

Nößler: Das wäre jetzt der Cliffhanger, der Ausblick auf den Ausblick im neuen Jahr.

Scherer: So ist es. Was hat das neue Jahr hinsichtlich der EvidenzUpdates zu bieten?

Nößler: Das heißt, wir schauen in der nächsten Episode, was wir uns im nächsten Jahr vornehmen wollen und wir schauen, was das nächste Jahr in Sachen Evidenz bringt.

Scherer: So ungefähr.

Nößler: Okay. Ja, dann werden wir das so machen. Herr Scherer, vielen Dank für diesen Rückblick.

Scherer: Danke Ihnen.

Nößler: Kommen Sie gut rein, gesund. Rutschen Sie – naja, eher nicht. Feiern Sie schön, bleiben Sie fröhlich. Und dann hören wir uns wieder im nächsten Jahr.

Scherer: Und Danke den vielen Zuhörerinnen und Zuhörern, die uns immer noch die Stange halten.

Nößler: Und den Zuhörerinnen und Zuhörern wünschen wir natürlich auch nur das Beste für das neue Jahr, nicht wahr?

Scherer: Alles Gute. Bis im Januar. Tschüss.

Nößler: Tschüss.

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