EvidenzUpdate-Podcast

Die NVL Chronische KHK unter Beschuss – was steckt hinter der Kritik?

Ende März werfen drei Fachgesellschaften bei der NVL KHK hin. Sie üben deutliche Kritik an der Leitlinie. Was steckt hinter der Kritik? Wir schauen uns die Argumente und Quellen hinter den 8 Punkten im EvidenzUpdate-Podcast genauer an.

Prof. Dr. med. Martin SchererVon Prof. Dr. med. Martin Scherer und Denis NößlerDenis Nößler Veröffentlicht:

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Immer noch NVL und schon wieder Kritik: Im März sind drei wichtige Fachgesellschaften aus dem Herausgeberkreis der Nationalen VersorgungsLeitlinie Chronische KHK zurückgetreten. Ende März haben die drei – Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK), Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) und Deutsche Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation von Herz-Kreislauf-Erkrankungen (DGPR) – acht Kritikpunkte an der S3-Leitlinie publiziert. Die aktuelle Version 7 der Leitlinie war erst im August 2024 veröffentlicht worden, an dem Update haben die drei Fachgesellschaften mitgearbeitet. Den Rückzug aus der NVL bezeichnet die DGK selbst als „bisher beispiellosen Vorgang“. Die Kritiker sehen durch die NVL „potenziell die Patientensicherheit gefährdet“. Vor allem stoßen sich die drei medizinischen Fachgesellschaften daran, dass aus ihrer Sicht „aktuelle wissenschaftliche Evidenz bei mehreren entscheidenden Aspekten nicht berücksichtigt“ wurde.

Wir schauen uns die Kritik in dieser Episode vom EvidenzUpdate genauer an. Im ersten, hier publizierten Teil besprechen wir die Quellen und Argumente der Kritiker. In einem zweiten Teil des Gespräch, der in den kommenden Tagen veröffentlicht wird, denken wir über die „Metaphysik der Leitliniengenese“ nach und über einen inklusiven wissenschaftlichen Diskurs.

Spoiler für diese Episode: Der Rückzug der Fachgesellschaften aus der NVL markiert keinen Bruch, sondern eine Chance: für wissenschaftlichen Diskurs, methodische Klärung und kollegialen Austausch. Die Kritik der DGK benennt wichtige Punkte – etwa zur Berücksichtigung moderner PCI-Techniken, zur Rolle der Zielwertstrategie oder zur Symptomatik bei Frauen. Die NVL wiederum bietet differenzierte, evidenzbasierte und bewusst offene Empfehlungen, die die Versorgungsrealität im hausärztlichen Alltag abbilden. Ein Zwischenfazit: Unterschiedliche Perspektiven sind kein Hindernis, sondern Grundlage guter Medizin – wenn man sie transparent macht und miteinander ins Gespräch bringt. Scherer: „Wir brauchen keine Dogmen – sondern methodische Transparenz, die auch unterschiedliche Blickwinkel sichtbar macht.“

🔍 Die Kritikpunkte im Einzelnen

1. 🧠 PCI vs. Bypass – Klinische Entscheidung, keine Glaubensfrage

Kardiologische Kritik: Die NVL stütze sich zu stark auf ältere Studien mit teils selektiven Patientengruppen (z. B. SYNTAX, SOS) und bevorzuge damit unangemessen die Bypass-Op. Modernere Verfahren der PCI (z. B. FFR, neuere DES, IVUS) seien unzureichend berücksichtigt.

Die NVL sagt: Die Evidenzlage wird differenziert dargestellt, Limitationen offen benannt. Auch neue Daten (z. B. ISCHEMIA, Head-IPD-Metaanalyse) sind eingeflossen.

🗣️ Scherer: „Das Entscheidende ist: Es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern um risikoadaptierte, individuell abwägbare Optionen.“ 🧩

Essenz: Beide Verfahren haben ihre Berechtigung – die NVL versucht, Kriterien zur Auswahl zu liefern, nicht die PCI abzuwerten.

2. 🩺 Myokardrevaskularisation: Prognosevorteil oder nicht?

Kardiologische Sicht: Invasive Strategien verbessern laut aktueller Studien (z. B. ISCHEMIA-EXTEND) die kardiovaskuläre Mortalität – diese Effekte würden in der NVL zu wenig gewichtet.

Die NVL sagt: Auch diese Studien werden berücksichtigt – allerdings mit dem Hinweis auf die fehlende Verblindung und uneindeutige Gesamtmortalitätsdaten.

🗣️ Scherer: „Die NVL reflektiert die Daten und entscheidet sich bewusst für eine offene Empfehlung – genau das schafft Spielraum für klinische Urteilsbildung.“

3. 🧾 Aufklärung vor Angio: Zuviel verlangt?

Kardiologische Kritik: Die NVL-Entscheidungshilfe zur Bypass-Op könnte Patient:innen verunsichern, bevor überhaupt klar ist, ob eine Op notwendig wird.

NVL-Haltung: Es geht um informierte, antizipative Entscheidungsfindung – gerade in Fällen, in denen eine komplexe 2- oder 3-Gefäßerkrankung wahrscheinlich ist.

🗣️ Scherer: „Partizipation braucht Information. Und die NVL traut den Patient:innen zu, mit Unsicherheit umgehen zu können – gemeinsam mit ihren Ärzt:innen.“

4. 💊 Lipidtherapie: Zielwert oder Festdosis?

Kardiologische Position: Nur eine Zielwertstrategie (LDL < 55 mg/dl bzw. 1,4 mmol/l) sei evidenzbasiert – die Festdosisstrategie stehe im Widerspruch zur internationalen Leitlinienlage.

NVL-Perspektive: Beide Strategien haben ihre Evidenzbasis – die eine in der breiten Primärversorgung (Festdosis), die andere bei Hochrisikopatient:innen (TTT).

🗣️ Scherer: „Die Zielwertstrategie ist wichtig – aber ihre flächendeckende Anwendung muss auch wirtschaftlich, praktisch und ethisch verantwortbar sein.“

5. 🧬 Kombitherapie mit Ezetimib & Bempedoinsäure

Kardiologische Forderung: Diese sollten als Kombinationspartner, nicht nur als Ersatz, klar empfohlen werden.

Antwort der NVL: Ezetimib: ja, bei Hochrisiko oder Nicht-Erreichen des Zielwerts. Bempedoinsäure: aktuell keine starke Empfehlung – noch fehlen Langzeitdaten.

🗣️ Scherer: „Innovation ja – aber mit evidenzgestütztem Sicherheitsabstand. Und idealerweise: im Rahmen wissensgenerierender Versorgung.“

6. 👵 Statintherapie ab 75?

Kardiologische Kritik: Die NVL ziehe eine Altersgrenze und liefere „dichotome“ Empfehlungen – dabei seien auch ältere Menschen klare Nutznießer der Statintherapie.

NVL-Klarstellung: Nein – die Empfehlung lautet: differenzieren. Statintherapie ja, aber nicht mit der Gießkanne – sondern mit Blick auf Multimorbidität und Lebenserwartung.

🗣️ Scherer: „Das ist keine Dichotomie, sondern ein Appell an die klinische Urteilskraft.“

7. 🫁 Dyspnoe fehlt – Score zu schwach?

Kardiologische Kritik: Gerade bei älteren und weiblichen Patient:innen sei Dyspnoe häufig ein AP-Äquivalent – in der NVL aber unterrepräsentiert. Auch der Marburger Herzscore (achter Kritikpunkt) sei nicht aussagekräftig genug.

Hausärztliche Sicht: Ziel ist es, Überdiagnostik und unnötige Invasivität zu vermeiden. Aber: Ja, die spezifische Symptomatik bei Frauen verdient künftig mehr Aufmerksamkeit.

📎 Fazit: Einladung zum Dialog, kein Schlusswort

Die NVL versucht, Komplexität abzubilden – mit differenzierten, transparenten Empfehlungen. Die Kritik der DGK ist in Teilen berechtigt – gerade bei der Berücksichtigung moderner Verfahren und der stärkeren Berücksichtigung weiblicher Symptomatik. 🗣️ Scherer: „Wir haben unterschiedliche Perspektiven – aber ein gemeinsames Ziel: bessere Versorgung für Menschen mit KHK.“ (Dauer: 1:37:44 Stunden)

Anregungen? Kritik? Wünsche?

Schreiben Sie uns: evidenzupdate@springer.com

Shownotes

  1. Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Nationale VersorgungsLeitlinie Chronische KHK, Langfassung, Version 7.0. Published Online First: 2024. register.awmf.org
  2. Mehilli J, Eckardt L, Laufs U, et al. Stellungnahme zur kritischen Bewertung der Nationalen VersorgungsLeitlinie zur chronischen koronaren Herzerkrankung. Die Kardiologie 2025;1–7. doi:10.1007/s12181-025-00744-w
  3. Martínez R, Nölke M. Versorgung gefährdet: DGK besorgt um Implementierung nationaler KHK-Leitlinie. HERZMEDIZIN. 2025. herzmedizin.de (accessed 7 May 2025).
  4. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), Deutsche Gesellschaft für Nuklearmedizin (DGN), Deutsche Röntgengesellschaft (DGR), et al. Stellungnahme zur Erklärung von DGK, DGIM und DGPR, die NVL KHK nicht mehr mitzutragen. Published Online First: 25 April 2025. www.degam.de
  5. Sabatine MS, Bergmark BA, Murphy SA, et al. Percutaneous coronary intervention with drug-eluting stents versus coronary artery bypass grafting in left main coronary artery disease: an individual patient data meta-analysis. Lancet 2021;398(10318):2247–57. doi:10.1016/s0140-6736(21)02334-5
  6. Thuijs DJFM, Kappetein AP, Serruys PW, et al. Percutaneous coronary intervention versus coronary artery bypass grafting in patients with three-vessel or left main coronary artery disease: 10-year follow-up of the multicentre randomised controlled SYNTAX trial. Lancet 2019;394(10206):1325–34. doi:10.1016/s0140-6736(19)31997-x
  7. Head SJ, Milojevic M, Daemen J, et al. Mortality after coronary artery bypass grafting versus percutaneous coronary intervention with stenting for coronary artery disease: a pooled analysis of individual patient data. Lancet 2018;391(10124):939–48. doi:10.1016/s0140-6736(18)30423-9
  8. Booth J, Clayton T, Pepper J, et al. Randomized, Controlled Trial of Coronary Artery Bypass Surgery Versus Percutaneous Coronary Intervention in Patients With Multivessel Coronary Artery Disease. Circulation 2008;118(4):381–8. doi:10.1161/circulationaha.107.739144
  9. Chaitman BR, Alexander KP, Cyr DD, et al. Myocardial Infarction in the ISCHEMIA Trial. Circulation 2021;143(8):790–804. doi:10.1161/circulationaha.120.047987
  10. Reynolds HR, Shaw LJ, Min JK, et al. Outcomes in the ISCHEMIA Trial Based on Coronary Artery Disease and Ischemia Severity. Circulation 2021;144(13):1024–38. doi:10.1161/circulationaha.120.049755
  11. Hochman JS, Anthopolos R, Reynolds HR, et al. Survival After Invasive or Conservative Management of Stable Coronary Disease. Circulation 2022;147(1):8–19. doi:10.1161/circulationaha.122.062714
  12. Redfors B, Stone GW, Alexander JH, et al. Outcomes According to Coronary Revascularization Modality in the ISCHEMIA Trial. J Am Coll Cardiol 2024;83(5):549–58. doi:10.1016/j.jacc.2023.11.002
  13. O‘Gara PT, Kushner FG, Ascheim DD, et al. 2013 ACCF/AHA Guideline for the Management of ST-Elevation Myocardial Infarction. Circulation 2013;127(4):e362–425. doi:10.1161/cir.0b013e3182742cf6
  14. International Study of Comparative Health Effectiveness With Medical and Invasive Approaches (ISCHEMIA). ClinicalTrials.gov. 2023. clinicaltrials.gov (accessed 7 May 2025).
  15. Cholesterol Treatment Trialists‘ Collaboration, Armitage J, Baigent C, et al. Efficacy and safety of statin therapy in older people: a meta-analysis of individual participant data from 28 randomised controlled trials. Lancet 2019;393(10170):407–15. doi:10.1016/s0140-6736(18)31942-1
  16. Gencer B, Marston NA, Im K, et al. Efficacy and safety of lowering LDL cholesterol in older patients: a systematic review and meta-analysis of randomised controlled trials. Lancet 2020;396(10263):1637–43. doi:10.1016/s0140-6736(20)32332-1
  17. Xu W, Lee AL, Lam CLK, et al. Benefits and Risks Associated With Statin Therapy for Primary Prevention in Old and Very Old Adults: Real-World Evidence From a Target Trial Emulation Study. Ann Intern Med 2024;177(6):701–10. doi:10.7326/m24-0004
  18. Nößler D. G-BA vor Änderung der Arzneimittel-Richtlinie – Statine bald für Millionen Menschen mehr? Ärzte Zeitung. 2024. www.aerztezeitung.de (accessed 7 May 2025).
  19. US Preventive Services Task Force, Mangione CM, Barry MJ, et al. Statin Use for the Primary Prevention of Cardiovascular Disease in Adults. Jama 2022;328(8):746–53. doi:10.1001/jama.2022.13044
  20. Ray KK, Reeskamp LF, Laufs U, et al. Combination lipid-lowering therapy as first-line strategy in very high-risk patients. Eur Hear J 2021;43(8):830–3. doi:10.1093/eurheartj/ehab718
  21. Sydhom P, Al-Quraishi B, El-Shawaf M, et al. The clinical effectiveness and safety of low/moderate-intensity statins & ezetimibe combination therapy vs. high-intensity statin monotherapy: a systematic review and meta-analysis. BMC Cardiovasc Disord 2024;24(1):660. doi:10.1186/s12872-024-04144-y
  22. Wang N, Fulcher J, Abeysuriya N, et al. Intensive LDL cholesterol-lowering treatment beyond current recommendations for the prevention of major vascular events: a systematic review and meta-analysis of randomised trials including 327 037 participants. Lancet Diabetes Endocrinol 2020;8(1):36–49. doi:10.1016/s2213-8587(19)30388-2
  23. Sabatine MS, Wiviott SD, Im K, et al. Efficacy and Safety of Further Lowering of Low-Density Lipoprotein Cholesterol in Patients Starting With Very Low Levels: A Meta-analysis. JAMA Cardiol 2018;3(9):823. doi:10.1001/jamacardio.2018.2258
  24. Cholesterol Treatment Trialists‘ (CTT) Collaboration, Baigent C, Blackwell L, et al. Efficacy and safety of more intensive lowering of LDL cholesterol: a meta-analysis of data from 170 000 participants in 26 randomised trials. Lancet 2010;376(9753):1670–81. doi:10.1016/s0140-6736(10)61350-5
  25. Cannon CP, Blazing MA, Giugliano RP, et al. Ezetimibe Added to Statin Therapy after Acute Coronary Syndromes. N Engl J Med 2015;372(25):2387–97. doi:10.1056/nejmoa1410489
  26. Sabatine MS, Giugliano RP, Keech AC, et al. Evolocumab and Clinical Outcomes in Patients with Cardiovascular Disease. N Engl J Med 2017;376(18):1713–22. doi:10.1056/nejmoa1615664
  27. Schwartz GG, Steg PG, Szarek M, et al. Alirocumab and Cardiovascular Outcomes after Acute Coronary Syndrome. N Engl J Med 2018;379(22):2097–107. doi:10.1056/nejmoa1801174
  28. Hong S-J, Lee Y-J, Lee S-J, et al. Treat-to-Target or High-Intensity Statin in Patients With Coronary Artery Disease. JAMA 2023;329(13):1078–87. doi:10.1001/jama.2023.2487
  29. Amarenco P, Kim JS, Labreuche J, et al. A Comparison of Two LDL Cholesterol Targets after Ischemic Stroke. N Engl J Med 2019;382(1):9–19. doi:10.1056/nejmoa1910355
  30. Visseren FLJ, Mach F, Smulders YM, et al. 2021 ESC Guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice. Eur Hear J 2021;42(34):3227–337. doi:10.1093/eurheartj/ehab484
  31. Yusuf S, Bosch J, Dagenais G, et al. Cholesterol Lowering in Intermediate-Risk Persons without Cardiovascular Disease. N Engl J Med 2016;374(21):2021–31. doi:10.1056/nejmoa1600176
  32. Schirmer B, Schuler J. Arzneiverordnungs-Report 2023. 2024;311–27. doi:10.1007/978-3-662-68371-2_11
  33. Nanna MG, Wang SY, Damluji AA. Management of Stable Angina in the Older Adult Population. Circ: Cardiovasc Interv 2023;16(4):e012438. doi:10.1161/circinterventions.122.012438
  34. Vrints C, Andreotti F, Koskinas KC, et al. 2024 ESC Guidelines for the management of chronic coronary syndromes. Eur Hear J 2024;45(36):3415–537. doi:10.1093/eurheartj/ehae177
  35. Rozanski A, Gransar H, Sakul S, et al. Increasing frequency of dyspnea among patients referred for cardiac stress testing. J Nucl Cardiol 2023;30(6):2303–13. doi:10.1007/s12350-023-03375-4
  36. Bösner S, Haasenritter J, Becker A, et al. Ruling out coronary artery disease in primary care: development and validation of a simple prediction rule. Can Méd Assoc J 2010;182(12):1295–300. doi:10.1503/cmaj.100212
  37. Haasenritter J, Donner-Banzhoff N, Bösner S. Chest pain for coronary heart disease in general practice: clinical judgement and a clinical decision rule. Br J Gen Pr 2015;65(640):e748–53. doi:10.3399/bjgp15x687385
  38. Bulk S van den, Manten A, Bonten TN, et al. Chest Pain in Primary Care: A Systematic Review of Risk Stratification Tools to Rule Out Acute Coronary Syndrome. Ann Fam Med 2024;22(5):426–36. doi:10.1370/afm.3141

Transkript

Nößler: Überall ist Zeitenwende. Die Republik hat endlich einen neuen Kanzler, die katholische Kirche einen neuen Pabst, der heißt Bob. Und die Innere Medizin bringt uns immer wieder neue Zeitenwenden, vor allem hinterm Sternum. Heute blicken wir aufs Herz, auf die NVL KHK und eine mögliche Zeitenwende in der sinnvollen Anwendung von Evidenz. Und damit herzlich willkommen zu einer neuen Episode des EvidenzUpdate-Podcast. Wir, das sind ...

Scherer: Martin Scherer.

Nößler: Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der DEGAM und Direktor des Instituts und Poliklinik für Allgemeinmedizin am UKE in Hamburg. Und hier am Mikrofon ist Denis Nößler. Moin, Herr Scherer!

Scherer: Moin, Herr Nößler!

Nößler: Wie geht es Ihnen?

Scherer: Danke, es geht gut. Ich freue mich sehr auf unser Gespräch. Ich bin sehr gespannt darauf. Und es werden sicherlich einige Diskussionen aufgeworfen werden.

Nößler: Das wollen wir hoffen. Dafür machen wir das ja. Wahrscheinlich ist gleich das Erste, was unsere Hörerinnen und Hörer heute mitbekommen, der Soundcheck, die Soundqualität, die ist eine andere. Warum?

Scherer: Weil wir hier zusammen live und in Farbe und in 3D am Rhein sitzen, ohne irgendeine Internetplattform, wo wir das Ganze hochladen müssen, ohne mein wackeliges Headset, sondern wir haben Ihre Megasupertechnik und sitzen uns gegenüber und atmen dieselbe Luft.

Nößler: Wir sind in Köln, wir haben uns hier getroffen, Freitagvormittag. Heute Nachmittag ist Frühjahrstagung vom Hausärzteverband. Und solche Gelegenheiten kann man dann klug nutzen. Gut, dass man den Rhein nicht hört, liegt daran, dass wir im Hotelzimmer sitzen. Unser heutiges Gespräch, wir müssen mal gucken, wie wir da durchkommen und vor allem, wollen Sie eine Wette abgeben, wie lang das wird?

Scherer: Bei dem Thema sind zweieinhalb Stunden überhaupt nichts. Aber wir müssen ein bisschen an die Hörer denken, wir müssen gucken, ob wir vielleicht zwei Episoden draus machen. Es ist ein großes Thema, und das kann man nicht mal so in 20 Minuten abhandeln. Aber für die, die sich das ganze Gequatsche nicht geben wollen, es gibt auch ein Transkript.

Nößler: Yeah! Es gibt ein Transkript, das wird es dann in sich haben. Wir gucken mal wie wir durchkommen durch unser Thema. Wenn wir feststellen, dass es länglich wird, dann machen wir, was Sie gesagt haben, dann teilen wir es in zwei Episoden. Dann kann man sich das quasi stückweise anhören. Worum geht es heute? Unser heutiges Gespräch dreht sich um den Rückzug der DGK, die Kardiologen, der DGIM der Internisten und die DGPR aus der nationalen Versorgungsleitlinie Chronische KHK. Und die aufmerksamen Zuhörerinnen und Zuhörer wissen, dass wir seit August letzten Jahres die Version 7 haben, mit einigen Neuerungen. Und diese drei Fachgesellschaften sind Ende März mit einer doch sehr heftigen Kritik aus der Herausgeberschaft dieser Leitlinie zurückgetreten, obwohl sie mitgearbeitet haben. Und die haben dazu eine Stellungnahme publiziert mit gleich acht Kritikpunkten, die sie an dieser NVL haben. Und in einem Interview, das auf herzmedizin.de veröffentlicht dazu veröffentlicht wurde, heißt es seitens der DGK, diese NVL könne potenziell die Patientensicherheit gefährden. Die Kardiologen bezeichnen den Rückzug als einmaligen Vorgang in ihrer Geschichte. Ich bin mir jetzt nicht sicher, ob die sich damit selbst auf die Schulter klopfen. Und dann kam natürlich – durchaus auch erwartbar – seitens der DEGAM eine Kritik an dieser Kritik, also eine Replik auf die Replik, wie auch immer Sie wollen, Herr Scherer. Jetzt zunächst einmal zu diesem Vorwurf, diese NVL könne die Patientensicherheit gefährden. Warum wollen Sie und Ihre Kolleg:innen Millionen Menschen mit KHK auf dem Gewissen haben?

Scherer: Das wollen wir natürlich nicht. Das, was wir wollen, ist das Gegenteil. Wir wollen eine sichere, evidenzbasierte Gesundheitsversorgung. Die DEGAM hält es für essenziell, diese Empfehlungen auf robuster, klinisch relevanter Evidenz aufzubauen, und zwar nicht auf selektiven Interpretationen und auf Expertenglauben.

Nößler: Da haben Sie schon mal ein Frame vorweggenommen, der Teil unseres Gesprächs werden wird, nämlich: Evidenz ist das eine, die Interpretation das andere, und das Nächste ist die Implementation in die Versorgung. Das sind die drei Dinge. Die sind auch für unsere Hörerinnen und Hörer nichts Neues. Aber so viel kann man vorwegschicken, wer das Paper nicht gelesen hat, das hat es ziemlich in sich. Und wir haben uns vorgenommen, dass wir unser Gespräch heute irgendwie in zwei Teile aufteilen, von denen wir mal gucken müssen, ob wir es in einer Episode lassen oder zwei draus machen. Im Ersten haben wir gesagt, machen wir jetzt mal diese acht Kritikpunkte, die gehen wir wirklich mal Schritt für Schritt durch und schauen uns an, was wird da kritisiert, mit welchen Begründungen wird es kritisiert und wie können wir mit diesen Begründungen umgehen, was halten Sie davon. Und im zweiten Teil haben wir dann überlegt, dass wir mal so über die große Metaphysik der Leitlinienerstellung plaudern wollen. Man könnte sogar so weit gehen – da haben wir wieder den Begriff der Zeitenwende –, dass wir mal so über die Diskursfähigkeit, die medizinisch-wissenschaftliche, sprechen, also wir hatten ja den Pabst, jetzt weniger epistemologisch, eher Prinzipien der Dialektik. Wollen wir das so machen?

Scherer: Absolut.

Nößler: Machen wir so. Ich habe Sie im Vorfeld richtig gequält. Das haben Sie mir – auch das kann man hier Backstage mal verraten – jetzt in den letzten Stunden mehrfach vorgehalten. Es waren, glaube ich, allein 40 Megabytes an Papers, die wir umhergeschickt haben. Wichtigste Frage, Herr Scherer, wo machen wir die ganze Literatur hin?

Scherer: In die Shownotes.

Nößler: In die Shownotes. Ich würde vorab mal kurz die acht Punkte einmal vorstellen und dann gehen wir sie irgendwie durch. Also Nummer eins ist die Kritik, dass die Dyspnoe fehlt als Angina-Äquivalent. Dass man rein auf die typischen AP-Symptome schaut. Der zweite Punkt ist die Kritik am Marburger Herzscore. Der wird als wenig aussagekräftig bezeichnet. Der dritte Punkt ist – allseits bekannt – das Festhalten an der Festdosis-Strategie, statt einer, Zitat: „evidenzbasierten international empfohlenen Zielwertstrategie bei der Lipidsenkung“. Dann bleiben wir noch kurz bei den Lipiden. Vierter Kritikpunkt ist, dass Ezetimib und Bempedoinsäure hier nur als Ersatz für Statine statt als Kombinationspartner genannt werden. Noch mal Punkt 5: Statine ist die, Zitat: „Dichotomie der Statinindikation bei ab 75-Jährigen“. Kritik 6, da geht es um die Entscheidungshilfen. Da gibt es etliche für Patienten. Hier eine Entscheidungshilfe, wo gesagt wird: Bei invasiver Koronarangiographie, die sei weder evidenzbasiert noch praxisnah. Kritikpunkt 7 ist die Infragestellung der Bedeutung der Myokardrevaskularisation bei der Prognoseverbesserung einer KHK. Und last but not least wird der NFL eine, Zitat: „unkritische und willkürliche Interpretation der Evidenz bei der Auswahl der Modalität zur Myokardrevaskularisation“ vorgeworfen. Da geht es letztlich um die Bypass-OP. Was halten Sie davon, wenn wir es von hinten machen?

Scherer: Das können wir gerne so machen, Herr Nößler. Was Sie meinen, ist, dass wir mit Punkt 8 anfangen und uns dann langsam nach vorne arbeiten. Das ist sinnvoll, weil gerade die Punkte 1 bis 4 stärker in die hausärztliche Praxis eingreifen. Also fangen wir mit 8 an, arbeiten uns systematisch nach vorne vor.

Nößler: Also wir kommen von der krassest möglichen Intervention und landen am Ende tatsächlich bei der Verdachtsdiagnose. Gehen wir doch mal auf Punkt 8 ein: Zitat: „Willkürliche Interpretation der Evidenz führt die Indikationsstellung der Art der Revaskularisation, also PCI- oder Bypass-OP. Und da kommen die Autoren dieses DGK-Papiers, das in die Kardiologie veröffentlich wurde, zu der Einschätzung, dass für diese Empfehlung in der NVL vor allem Studien bewertet worden sein sollen, aus deren sich Besonderheiten ausweisen. Vielleicht Lesetipp für alle: In der NVL, das ist Seite 119 ff., sieht man schon eine gewisse Bevorzugung der Bypass-OP, insbesondere bei 3-Gefäß-Erkrankungen. Und die Kritik der Kardiologen ist – ältere Studien –, insbesondere wird angeführt die Syntax-Studie, die kennen viele. Da sind verhältnismäßig jüngere Patienten drin, die niedrige OP-Risiken haben. Dann wird gesagt: Naja, in diesen Arbeiten gab es eine besondere Probandenselektion. Also die Kardiologen sagen zum Beispiel, dass da im Schnitt nur 1,7 Patienten pro teilnehmendes Zentrum pro Jahr Patienten rein randomisiert hätten, das spricht nach einer Selektion, nach einer Verzerrung oder einem Risiko. Und der dritte Kritikpunkt ist, dass die Arbeiten, die für die NVL benutzt wurden, als Evidenzquelle vor allem ältere Arbeiten sind, also teilweise mit Eingriffen von vor 20 Jahren. Und dann sagen die Kardiologen: Moment mal, die Methoden haben sich seither geändert, die Stents, die Tracilogin Stents, die haben sich weiterentwickelt und so weiter. Und das sei alles nicht in der NVL abgebildet. Soweit so einfach. Dann noch der Hinweis, dass die Kardiologen sagen, die Arbeiten, die die NVL-Autoren herangezogen haben, zeigen gar keinen Unterschied bei der Mortalität. Das heißt, wo ist eure Rationale, wo ist euer Beleg. In der Tat zitiert die NVL selbst die Studie, dass das SOS – da kommt man auf einen Mortalitätsvorteil 6,8 Prozent in dem Studienzeitraum versus 10,9 bei PCI. Und dann schreiben die NVL-Autoren, dass in der von ihnen, Zitat: „relevanten Syntaxstudie“ es unter anderem beim Endpunkt Tod und Gesamtmortalität keinen Unterschied gab, also zumindest nicht signifikant. Und dann fokussieren die NVL-Autoren auf MACCE als Grundlage, warum man das hier oder da bevorzugen soll.

Scherer: Sagen Sie noch mal MACCE für die Hörerinnen und Hörer.

Nößler: major events.

Scherer: major adverse cardiac and cerebrovascular events.

Nößler: Danke schön. Also Stroke, Infarkt und so weiter. Das allein war jetzt schon mal im Vortrag verdammt komplex.

Scherer: Ich frage mich, wer das jetzt verstanden hat.

Nößler: Die Leitlinienautoren werden das verstanden haben. Machen wir es noch mal kurz. Also es gibt relativ einfach in der NVL in sehr vielen Bereichen eine starke Empfehlung pro Bypass-OP und die Kardiologen sagen, nein, wir wollen eigentlich mehr PCI machen, da stimmen wir nicht zu. Haben Sie noch bei all dieser Kritik noch einen Überblick, Herr Scherer?

Scherer: Ich gebe mir Mühe, Herr Nößler. Aber im Ernst, ich würde tatsächlich sagen in aller Bescheidenheit, ich habe den Überblick, und zwar nicht trotz, sondern wegen der Komplexität. Also diese ganzen Details, die zeigen doch gerade, wie wichtig es ist, dass man da differenziert hinschaut. Wenn man sich alle relevanten Endpunkte anschaut – Sie haben MACE angesprochen –, dann muss man da die Endpunkte in ihrer Gesamtheit betrachten und nicht nur die Mortalität isolieren. Dann ergibt sich ein vollständigeres Bild. Und genau das macht die NVL. Also sie bewertet die Studien differenziert, sie benennt die Limitation, sie priorisiert dann gleichzeitig die Patientensicherheit und hat aber auch noch die Kontinuität und die Machbarkeit der Versorgung im Blick. Das ist das, was die NVL macht. Und der Überblick lässt sich dann auch wieder herstellen, wenn man die ebenfalls in der NVL berücksichtigte IPD-Metaanalyse von Head sich genauer anguckt. Sie zeigt genau die Vorteile der Bypass-OP gegenüber der PCI im Hinblick auf die 5-Jahres-Mortalität. Und man kann eigentlich sagen, dass diese Studie den aktuell umfassendsten Vergleich von PCI und Bypass-OP auf Basis individueller Patientendaten darstellt.

Nößler: Kommen wir noch einmal zu der Kritik, die die Kardiologen anführen. Die sagen: Stopp, Leute, alles gut mit den Arbeiten, die ihr da bewertet habt, aber auch diese Arbeiten – Sie haben Head et al. zum Beispiel angeführt –, die berücksichtigen teilweise Interventionen, die lange zurückliegen. Und in der Zeit habe sich viel geändert, insbesondere auch was komplexe Anatomie angeht. Da hätte es auch eine prozedurale Weitentwicklung gegeben. Kann es nicht schon sein – jetzt nur mal ein Verdacht –, dass so eine NVL vielleicht mit Publikationsdatum auch schon outdated ist an manchen Stellen?

Scherer: Das kann immer mal sein, aber deshalb werden die eigentlich alle paar Jahre dann auch upgedatet. Und ich habe es jetzt in den vielen Jahren, die ich Leitlinienarbeit betreibe, eigentlich noch nicht gesehen, dass die Wissenschaft dann so rasch vorangeschritten ist, dass dann die Empfehlungen völlig outdated waren.

Nößler: Kann es dann vielleicht hier in diesem konkreten Fall, der doch wirklich komplex ist, auch einfach eine Frage der Interpretation sein? Dass man sich im Prinzip dieselben Daten anschaut und mit denselben Ergebnissen versucht, zu einer Erkenntnis zu gelangen und je nach Setup, woher man kommt, je nach Weltbild, dann einfach zu unterschiedlichen Interpretationen der Ergebnisse gelangt.

Scherer: Da haben Sie völlig recht. Das ist immer so, das ist bei allen Leitlinien so. Aber mit diesen Allgemeinplätzen können wir unsere Hörerinnen und Hörer nicht abspeisen. Da haben Sie völlig recht, das ist so. Aber wir müssen da vielleicht noch mal ein bisschen reingehen. Die DGK weist in ihrer Stellungnahme zu Recht darauf hin, dass die bewerteten Studien wie Syntax oder SOS Einschränkungen aufweisen, das ist so. Ein paar haben Sie schon genannt, in Bezug auf das Patientenalter, die geringe Rekrutierungsrate pro Zentrum, die Drug-Eluting-Stent-Generation haben Sie angesprochen. Vielleicht leuchten wir da auch noch einmal ganz kurz rein. Ein typisch allgemeinmedizinisches Thema, sich irgendwie mit den Beschichtungen von Stents zu befassen, in aller Kürze.

Nößler: Es ist jetzt nicht das Erste, was Sie in der Praxis machen. Aber dass sich da was getan hat?

Scherer: Da hat sich absolut was getan. Also DES steht für Drug-Eluting Stents. Das sind Stents, die Medikamente freisetzen, um das Risiko der Restenose zu senken.

Nößler: Früher hat man BMS eingesetzt, die Bare Metal Stents.

Scherer: Richtig. Die früheren Generationen hatten Sirolimus und Paclitaxel als Beschichtung. Und die neueren Generationen haben verbesserte Beschichtungen, zum Beispiel Everolimus und kompatible Materialien. Die haben ein besseres Sicherheitsprofil. Ja, das ist so. Da hat sich auf jeden Fall einiges getan. Dennoch, dadurch werden die Studien nicht obsolet. Und die Aussagekraft der Syntaxdaten zur Subgruppe mit komplexer Koronaranatomie wurde durch das 10-Jahres-Follow-up noch mal gestützt. In der IPD-Metaanalyse von Head war die CABG der PCI bei komplexer Mehrfachgefäßerkrankung auch in Bezug auf die Gesamtmortalität überlegen.

Nößler: CABG für alle Laienzuhörer ist Bypass-OP.

Scherer: Und dann gibt es die modernen Techniken, FFR zum Beispiel.

Nößler: Fraktionelle Flussreserve.

Scherer: Genau. Das ist die Messung des Druckabfalls über einer Koronarstenose zur funktionellen Beurteilung. Dann gibt es noch IVUS, Intravascular Ultrasound, also intravaskulärer Ultraschall zur Darstellung der Gefäßinnenwand. Das sind natürlich fancy Methoden, die in der breiten Anwendung damals noch nicht etabliert waren. Das ist so. Aber nehmen Sie zum Beispiel ISCHEMIA mit moderner PCI. Auch die zeigt keine Überlegenheit invasiver Strategien. Und die zentrale Frage ist ja nicht, welche Technik ist aktueller, sondern welche Patientengruppe profitiert tatsächlich.

Nößler: Und lebt länger wovon.

Scherer: Richtig. Und genau an der Stelle ist dann die NVL wiederum präzise. Denn sie bevorzugt dann die Bypass-OP nicht nur bei hohem anatomischem Risiko, sondern sie dokumentiert das auch transparent. Und es geht hier nicht um eine pauschale Empfehlung, sondern wirklich um eine risikoadaptierte, evidenzgestützte Differenzierung.

Nößler: Kann man an der Stelle mal so eine Zwischenmetafazitebene einziehen? Kann es also sein, wenn wir jetzt diesen konkreten Streitpunkt – es ist hier auch ein Ansichtenstreit, könnte man fast schon sagen, PCI versus Bypass-OP –, dass im Prinzip beide bei der Bewertung ihrer jeweils eigenen Evidenz nicht unrecht haben, aber es einfach zwei Blickwinkel sind, die hier vielleicht kollidieren.

Scherer: Ja, es ist die Kollision von zwei oder sogar mehr unterschiedlichen Blickwinkeln. Je komplexer die Evidenz wird, desto größer ist einfach die Gefahr, dass man sich selektiv bedient. Und dafür gibt es Leitlinienprozesse.

Nößler: Gar nicht mal absichtlich, sondern einfach je nach Denkwelt, aus der man kommt.

Scherer: Aus bestem Wissen und Glauben. Das Einzige, was da hilft, ist methodische Transparenz. Und das ist das, was Leitlinien mit ihren schmerzhaften, oft als Pain empfundenen Methodenreports leisten.

Nößler: Nicht nur bei der Genese, sondern auch beim Lesen.

Scherer: Auch beim Lesen. Sodass die Anwenderin, der Anwender, wenn sie denn auch wirklich Zeit hat, sich überlegen kann, welche Patientengruppen wurden hier eigentlich untersucht, welche Endpunkte wurden untersucht und welche Bias-Risiken bestehen. Und das ist genau das Problem an dieser ganzen Diskussion. Dass all diese Dinge ständig durcheinandergehen. Jeder legt sich dann die Evidenz so zurecht wie er mag. Der eine pickt sich den Endpunkt, der andere pickt sich den Endpunkt. Der eine nimmt das Setting, der andere nimmt das Setting. Und die Patientengruppen und Populationen gehen dann auch durcheinander. Und das ist das, was in einer systematischen Leitlinienerstellung nicht ausgemerzt werden soll, aber transparent gemacht werden soll.

Nößler: Also die Gefahr ist immer – wenn ich es versuche mit meinen Worten nicht zu paraphrasieren –, dass eine berechtigte und auch korrekte selektive Sichtweise fälschlich zum Holistischen erklärt wird.

Scherer: Korrekt.

Nößler: Oh, dass ich mal einfach nur so ein „korrekt“ vom Scherer kriege. Das ist ein Novum.

Scherer: Aber das habe ich immer gesagt, dass Sie im Paraphrasieren super sind.

Nößler: Wenigstens eine Kompetenz.

Scherer: Aber jetzt ganz im Ernst: Die NVL tut genau das. Sie bewertet die Evidenz systematisch, sie benennt die Schwächen offen und folgt der Grade-Logik. Und dabei geht es nicht darum, die eine Wahrheit zu verkünden.

Nößler: Sondern verschiedene. Genau. Und wo es die verschiedenen Wahrheiten gibt, da kommen wir beim LDL-Thema eh noch mal zu. Weil da sind ja zwei sich widersprechende Wahrheiten drin. Aber da kommen wir später zu. Wollen wir noch ein bisschen am Bypass rumfuhrwerken?

Scherer: Jawoll.

Nößler: Es gibt tatsächlich drei Kritikpunkte zu diesem Streit PCI versus Bypass-OP. Wir hatten jetzt Kritikpunkt 8 und jetzt ziehen wir mal Kritikpunkt 6 vor. Das ist nämlich die Entscheidungshilfe, alle, die die NVL anwenden, kennen diese Patientenaufklärungsbögen, die da hinten dran sind. Das allein sind schon sehr viele. Da wirft die DGK vor – Seite 112 in der NVL, das ist die Empfehlung 8.2B, und da empfiehlt die NVL, Patient:innen sollen darüber aufgeklärt werden, dass eine Bypass-OP abhängig von der Schwere der Erkrankung einen möglichen Überlebensvorteil bietet. Die Schwere der Erkrankung kann allerdings ohne Bildgebung nicht adäquat bewertet werden, sodass ein möglicher Überlebensvorteil der Bypass-OP gegebenenfalls therapeutisch nicht genutzt werden kann. Heißt relativ einfach, wenn ich im Vorfeld einwillige, ermögliche ich den Leuten in dem Moment, wo ich auf den Katheterplatz liege, dass sie direkt vor Ort nach meiner Aufklärung handeln können und sagen, wir wechseln vom Katheter zur OP. Und die Kardiologen kritisieren, dass die Menschen in dem Moment eigentlich verunsichert werden, vor allem vor dem Hintergrund, dass in, Zitat DGK: „95 Prozent der Fälle“ die OP am Ende gar nicht notwendig sein müsste oder wird. Die Kritik finde ich beim Lesen gar nicht unberechtigt. Schließt die NVL da nicht ein bisschen über das Ziel hinaus? Also ich stelle mir vor, ich sitze bei Ihnen in der Ambulanz und Sie sagen: Unterschreiben Sie mal für die OP.

Scherer: Das klingt auf den ersten Blick wirklich erst mal etwas widersprüchlich. Die Aussage der NVL ist: Es könnte Patient:innen geben, die etwa wegen einer komplexen 3-Gefäß-Erkrankung signifikant von einem Bypass profitieren würden. Aber ohne eine Bildgebung, also in der Regel die Koronarangiographie, lässt sich dieser Nutzen nicht sicher feststellen. Was die NVL hier macht, ist eigentlich Aufklärung im besten Sinne. Sie warnt nicht nur vor der Prozedur, sondern ermöglicht eine Entscheidung, eine partizipative Entscheidung. Und das stimmt, klar, also in der hausärztlichen Praxis betrifft das nur einen Bruchteil der Fälle. Aber dieser Bruchteil könnte entscheidend sein. Ich verstehe, dass die DGK das als verunsichernd empfindet, aber wenn man den Patientinnen und Patienten auf Augenhöhe begegnet – und das ist ja schon längst das neue Paradigma –, dann gehört das mit dazu, auch mit dieser Unsicherheit oder mit dieser Ungewissheit umzugehen und das dann auch einfach offen zu kommunizieren. So verstehe ich diese NVL-Empfehlung.

Nößler: Ja, verstanden. Aufklärung im besten Sinne und mit besten Gewissen und eben auch vor der krassest denkbaren Intervention bereits zu erklären, um partizipative Entscheidungsfindung zu machen. Gleichwohl, das, was die DGK schreibt, kann man ja auch nicht so platt von der Hand weisen. Wenn ich jetzt überlege, eine PCI wird ja im Wachzustand gemacht, also ganz selten müssen die Leute schläfrig sein, wäre es nicht möglich, dann im Zweifel, wenn ich bei einer Koronarangiographie am Katheterplatz sehe: Oh, das sind aber locker mal 3 GE, dass ich dann auf dem Platz die Aufklärung mache? Oder halten Sie das für falsch?

Scherer: Das ist ganz schwer, weil man diese Fälle nicht gut antizipieren kann. Also mir fällt es schwer, mir einen Fall hier aufzumalen und praktisch als Hologramm in den Raum zu stellen, an dem ich das diskutieren könnte. Oft ist es in der Praxis doch so, dass man aufgrund der Klinik und auch des ärztlichen Gespürs, der Erfahrung, die man dann irgendwann auch hat, die, die davon profitieren, relativ gut auch selektieren kann.

Nößler: Man drauf eingehen kann.

Scherer: Genau. Aber das, was die NVL hier fordert, das ist doch eigentlich das, was der Standard in der Routine sein sollte. Also bevor du einen Test machst, erwäge die möglichen Konsequenzen in Abhängigkeit vom Testergebnis. Die NVL geht hier natürlich von der durch Evidenz unterfütterten Annahme aus, dass bestimmte Patientengruppen, also im Wesentlichen die, die entweder eine komplexe KHK haben, eine Hauptstammstenose oder eine Herzinsuffizienz, also die wirklich schwerer dran sind, dass die einfach besser von einer Intervention profitieren können. Und es finden sich halt keine überzeugenden Hinweise, dass es solche Vorteile für die PCI gibt. Punkt erst mal.

Nößler: Also an der Stelle ein duales Zwischenfazit, wenn ich Sie richtig verstehe, bei der ersten Evidenzkritik haben Sie gesagt: Beide Sichtweisen sind nicht falsch, es ist eine Blickwinkelasymmetrie. Bei dieser Kritik hier sagen Sie, gehen Sie eigentlich gar nicht mit, was die Kardiologen sagen.

Scherer: Ja.

Nößler: Machen wir den dritten Punkt zur Bypass-OP, das ist die Kritik Nummer 7. Da geht es um die Bedeutung der Myokardrevaskularisation für die Prognoseverbesserung. Da wirft die DGK den NVL-Autoren oder letztlich auch dem NVL-Konsensusprozess – so muss man es ja sagen – vor, dass die Evidenz zur Prognoseverbesserung durch eine PCI nur, Zitat: „lückenhaft berücksichtigt“ worden sei. Und die DGK attestiert der Empfehlung eine, Zitat: „alleinige Fokussierung auf eine Bypass-OP“. Das haben wir jetzt schon gelernt, dass es ein Bypass-OP-Bias gibt in der NVL. Herr Scherer, würden Sie mir bei dieser Interpretation zustimmen, dass die NVL KHK, wenn man ihr so folgt, gerade im interventionellen Teil, dass es schon ein Ziel dieser NVL ist, die relativ hohe PCI-Rate in Deutschland reduzieren zu wollen?

Scherer: Das kann man schon so sehen. Aber nicht im Sinne eines pauschalen „gegen die PCI“, sondern im Sinne einer evidenzgeleiteten Rationalisierung. Also die NVL will nicht verhindern, sondern sie will präzisieren, wann eine PCI tatsächlich einen prognostischen Nutzen bietet. Und hier genau ist die ISCHEMIA-Studie auch relevanter, die gezeigt hat, dass bei stabiler KHK die invasive Strategie kein Überlebensvorteil bietet.

Nößler: Sie hatten die ISCHEMIA schon mal angesprochen, jetzt kommt sie noch mal. Es gibt dazu noch die Nachfolgestudie, die EXTEND, ISCHEMIA-EXTEND. Und die DGK kritisiert, dass die NVL die ISCHEMIA nicht hinreichend berücksichtigt hätte. Aber wenn man reinguckt, die beiden Arbeiten sind 2021/2022 veröffentlicht worden, die Evidenzrecherche war Ende 2023, und die NVL-Autoren haben sie berücksichtigt. Man kann darin suchen, man findet die Literatur, das gibt zwei Kapitel Symptomatik und Lebensqualität, da findet man das drin. Und da kritisiert die NVL aber das Problem Verblindung, PCI versus OP. Mal Hand aufs Herz, Herr Scherer, wie soll ich so was verblinden? Das geht nicht mal, wenn Sie einem Operateur die Augen zuhalten.

Scherer: Das wäre ein Fall für die Ethikkommission.

Nößler: Definitiv. Aber ganz ehrlich, dann ist doch der Hinweis der NVL-Autoren, dass die Studie nicht verblindet ist, ist doch wohlfeil.

Scherer: Also der Vergleich PCI, Bypass oder konservative Therapie lässt sich nicht verblinden, jedenfalls nicht vollständig. Und genau deshalb ist bei solchen Studien der Fokus auf harte Endpunkte wie Mortalität oder Myokardinfarkt umso wichtiger, weil die weniger anfällig sind für subjektive Verzerrungen. Aber das haben wir immer wieder. Absence of Evidence is not Evidence of Absence. Also das Problem haben wir immer wieder. Nur weil was nicht geht, kann man daraus keinen Beleg zimmern. Auch wenn die Verblindung schwierig ist, sie fehlt dann am Ende des Tages. Die ISCHEMIA-Studie und die ISCHEMIA-EXTEND, die waren methodisch solide, sie hatten ein robustes Design, sie hatten ein zentrales Endpunkt- Komitee. Das ist auch immer mal wieder Thema in unseren EvidenzUpdates gewesen. Aber die ISCHEMIA-Daten gehören aktuell zu den besten, die wir für diese klinische Frage haben, und sie zeigen, dass bei stabiler KHK die invasive Strategie keinen Überlebensvorteil bietet. Und dass die NVL diese Studien aufgenommen hat und auch mit dem Hinweis auf die nicht gegebene Verblindung, das zeigt, dass sie nicht ignoriert, sondern reflektiert wurde. Und da muss man sich das methodenkritisch angucken, das haben sie gemacht.

Nößler: Methodenkritisch. Vielleicht an der Stelle noch einmal einen Einschub: Ich versuche daran zu denken, unseren Hörerinnen und Hörern immer noch die Lesetipps für die NVL mitzugeben, die Seitenzahlen. Wir sind hier im Moment beim Bereich Therapie, Symptomatik, Lebensqualität Seite 117. Und jetzt kommen wir auf das große Thema Endpunkte zu sprechen, wo am Ende sich offensichtlich die Geister scheiden, wenn ich Sie richtig verstehe. Die Kardiologen kritisieren, dass es beim Therapieziel Prognose nicht hinreichend berücksichtigt wurde. Da sind wir jetzt in der NVL auf Seite 114. Und da kommt die ISCHEMIA-Studie vor, Herr Scherer, Sie haben es gerade gesagt. Und die NVL-Autoren kritisieren dort aber, dass die Arbeit, anders als die Kardiologen es sehen, gerade keinen prognostischen Vorteil gegenüber Usual Care, medikamentösen Spätintervention gezeigt hätte. Und jetzt kommt der entscheidende Punkt: Es gibt nämlich eine Post-hoc-Auswertung – heißt es in der NVL – quasi nach Studienabschluss aus der ISCHEMIA, die andeutet, dass es weniger Myokardinfarkte, eben vielleicht doch diesen prognostischen Vorteil haben könnte – schreiben die NVL-Autoren soweit eigentlich auf Kardiologenlinie. Und dann heißt es in der NVL weiter: Die Leitliniengruppe hält es für plausibel anzunehmen, dass in diesen Ausnahmefällen die invasive Diagnostik mit anschließender PCI eine alternative Option ist und spricht eine offene Empfehlung aus. Das müssen Sie mir gleich mal erklären, was das heißt. Und dann geht es weiter: Es wird dort eine Publikation von ACCHA herangeführt. Und jetzt kommt wiederum die DGK und die argumentiert aber mit sekundären Endpunkten. Und das ist eben die 5-Jahres-Myokardinfarktrate, also Mortalität, nicht Gesamtsterblichkeit. Das sind jetzt ein paar Dinge, wo man wirklich bekloppt wird beim Lesen.

Scherer: Sogar auch beim Zuhören, Herr Nößler.

Nößler: Entschuldigung. Es ist mir also nicht gelungen, das zu vereinfachen. Also man hat eigentlich das Gefühl, eigentlich meinen die beiden dasselbe. Und selbst die NVL spricht eine offene Empfehlung dafür aus. Das heißt, sowohl die Kardiologen für sich als auch die NVL-Gruppe in toto kommt eigentlich zu einer ähnlichen Bewertung, wenn ich das richtig verstehe. Aber dann eben doch nicht. Also prognostische Verbesserung, 5-Jahres-Myokardinfartraten, kardiovaskuläre Sterblichkeit.

Scherer: Herr Nößler, das ist der Punkt, an dem es nicht mehr so ganz schwarz und weiß ist. Und ich finde es gut, dass die NVL das nicht verschweigt, sondern offen benennt. Es gibt Hinweise aus Post-hoc-Analysen, etwa auf eine mögliche Reduktion von Myokardinfarkten oder kardiovaskuläre Mortalität nach fünf Jahren in den Subgruppen der ISCHEMIA-Studie. Aber – das ist hier jetzt entscheidend – wir reden hier über sekundäre Endpunkte und nachträgliche Analysen, die dann eben keine Grundlage für starke Empfehlungen ist.

Nößler: Weil die Studie vielleicht darauf gar nicht gepowert ist.

Scherer: Genau. Und deshalb macht die NVL jetzt daraus keine feste Vorgabe, sondern eine offene Empfehlung. Gerade für Ausnahmefälle, bei denen die individuelle Risikokonstellation eine frühere Intervention rechtfertigen könnte. Also sie sagt nicht: immer PCI, sie sagt aber auch nicht: nie PCI. Und dass die Fachgesellschaften sich dann hier an den Details reiben, das zeigt doch eher, dass wir – und jetzt, Herr Nößler, müssten Sie doch Spaß haben – hier einen wissenschaftlichen Diskurs führen.

Nößler: Juhu!

Scherer: Das lieben Sie doch so. Und dass wir eben keine Dogmen aufstellen. Und am Ende ist doch das Entscheidende: Diese Offenheit hilft den Ärztinnen und Ärzten in der Praxis, weil sie nicht übersteuert werden, sondern weil sie informiert entscheiden können, zusammen mit den Patientinnen und Patienten.

Nößler: Gut, das habe ich verstanden. Das heißt, eigentlich kommen beide Seiten – wobei „beide Seiten“ schon ein schwieriger Begriff ist, weil die Kardiologen informell mitgearbeitet haben – zu ähnlichen Befunden, aber die Tragweite der Befunde wird unterschiedlich eingeschätzt.

Scherer: Und es werden die Akzente unterschiedlich gesetzt. Sie finden in dem Text, publiziert in der Kardiologie und in der Stellungnahme, über die wir hier reden, keine Erwähnung folgenden Sachverhalts. Die ISCHEMIA-EXTEND zeigt zwar eine signifikante Reduktion der kardiovaskulären Mortalität, aber ebenso eine signifikante Erhöhung der nichtkardiovaskulären Mortalität und keinen Unterschied bei der Gesamtmortalität.

Nößler: Durch meinetwegen Iatrogene oder was auch immer.

Scherer: Zum Beispiel. Also das wird da eben nicht erwähnt. Und deshalb kommt es dann auch immer wieder mal zu unterschiedlichen Akzentsetzungen. Es heißt jetzt nicht, dass da irgendwas verschwiegen wird, aber das muss man mit in die Gesamtbetrachtung setzen.

Nößler: Wir sind alle in unseren Selektionen gefangen.

Scherer: So ist es.

Nößler: Da haben wir es noch mal – Sie haben es eben schon gesagt –, das soll dieses globalgalaktische methodische Vorgehen versuchen zu heilen.

Scherer: So ist es.

Nößler: Okay. Vielleicht noch kurz, weil es mich interessiert, diese offene Empfehlung: Wenn man es jetzt mal analog zu den Grades sich anschaut, da gibt es auch dieses „soll“, „soll nicht“, „kann“. Wie würde man eine offene Empfehlung formulieren? Ist das wie so eine Kann-Empfehlung? Nach dem Motto: Du kannst das erwägen, aber du musst das mit deinen Patienten selbst ausmachen.

Scherer: Also erst mal „soll nicht“ gibt es nicht.

Nößler: Das wäre quasi: „Lass die Finger von dem“.

Scherer: Also „soll“, „sollte“, „kann“. Und die Stärke der Empfehlung reflektiert sich meistens in Umsetzungsraten. Also man geht bei einer Sollempfehlung von 85 Prozent Umsetzung aus. Im Einzelfall ist es immer ein „kann“, nie ein „muss“. Und „muss“ gibt es nicht in der Leitliniensprache.

Nößler: „Muss“ wäre auch übergriffig.

Scherer: Wäre übergriffig, gibt es nicht, darf auch nicht sein. Das ist eine Entscheidung im partizipativen Gespräch.

Nößler: Der Patient muss jetzt operiert werden.

Scherer: Genau. Aber im Grunde genommen ist es eine Abwägung, es ist kein „nie“, es ist kein „immer“, es ist irgendwo dazwischen und muss auf den Patienten passen, der vor mir sitzt. Wir sind da irgendwo wahrscheinlich im Kann-Bereich.

Nößler: Allein die drei Punkte oder sagen wir mal mindestens die zwei Punkte, die wir bislang besprochen haben, das, was wir jetzt gerade hatten, wie bewerten wir ISCHEMIA eigentlich hinsichtlich Prognoseverbesserung, und dieser große Streit, wann operieren, wann Katheterplatz – allein das bietet ja noch Stoff für tausend andere Episoden, oder?

Scherer: Absolut.

Nößler: Vielleicht kommen wir ja irgendwann auch an den Punkt, dass wir hier mal so gebietsübergreifend dialektisch werden können. Wollen wir zum nächsten Block kommen?

Scherer: Wollen Sie eine Talkshow aus dem Podcast machen?

Nößler: Ja. Eine gebietsübergreifende. So einen heißen Stuhl, wo zwei Gebiete mit guter Wissenschaft und guten wissenschaftlich begründbaren Argumenten streiten um die beste Versorgung.

Scherer: Heißer Stuhl ist immer pathologisch. Das sollte nie über 37 Grad sein.

Nößler: Okay, wir können ja einen Fan danebenstellen. Wir gehen zum nächsten Block. Herr Scherer, bevor wir ganz albern werden und noch mehr Witze rausholen, gehen wir zum nächsten Thema. Es sind auch wieder gleich drei Kritikpunkte. Ziffer 3, 4 und 5. Und da geht es um – alle ahnen es – die Lipidtherapie.

Scherer: Ach ja. Willkommen im Reich der Statinologie.

Nößler: Statinologie, genau. Plaqueologie, Arterioskleroselogie. Da fällt uns noch einiges ein in den nächsten Minuten. Es gibt also drei Dinge, die hängen irgendwie miteinander zusammen. Nehmen wir mal die, Zitat „Dichotomie der Statinindikation bei 75-Jährigen“, da steht wirklich „bei 75-Jährigen“. Da bin ich mir schon gar nicht sicher, ob das richtig ist. Weil es müsste ja „bei ab 75-Jährigen“ heißen. Man macht ja keine Empfehlung für exakt ein Lebensjahr. Aber das nur so nebenbei als Sprachkritik. Jedenfalls kritisiert die DGK das. Martin Scherer, helfen Sie mir erst mal, ich habe mich verdammt schwergetan, diese Dichotomie in der NVL überhaupt zu finden. Ich zitiere mal die Empfehlung 7.8: „Allen Patient:innen mit KHK soll unabhängig vom Ausgangswert der Blutfettwerte zur Reduktion der Morbidität und der Sterblichkeit dauerhaft ein Statin als Mittel der ersten Wahl empfohlen werden.“ Da steht nicht „alle außer im 75. Lebensjahr“.

Scherer: Das ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie eine differenzierte Empfehlung in ein Schwarz-Weiß-Bild gepresst wird in der Sekundärliteratur, über die wir hier die ganze Zeit sprechen. Also die NVL sagt eben nicht, dass Menschen ab 75 kein Statin mehr bekommen, sondern sie sagt: Schaut bitte genau hin. Und nicht jeder 75-Jähriger hat denselben Nutzen.

Nößler: Es kann ja jeder, der Lust hat, mal machen. Man nimmt dieses Riesen-PDF und sucht einfach mal nach 7.5, 7.4 und 7.6. Man findet nichts, wo das so explizit steht auf diese Jahreszahl. Man findet einen Haufen Fundstellen, das sind immer Prozentwerte und so weiter. Gucken wir uns die Kritik trotzdem mal an, und zwar geht es da – die meisten ahnen wahrscheinlich, worauf es hinausläuft, aber die DGK-Autoren verweisen in ihrer Kritik auf Metaanalyen von RCT und auf Registerstudien und nehmen das als Grundlage, dass sie sagen, dass die Effekte einer LDL-Senkung klar bewiesen sein, soweit bekannt. Die meisten Zuhörer:innen werden die Arbeiten kennen, da ist diese große Lancet-Publikation von den CTT, das sind diese ...

Scherer: Das sind die Cholesterol Treatment Trialists’ Collaboration.

Nößler: Industrienahe Forschergruppe. Dann heißt es tatsächlich zu den Statinen, noch mal kurz NVL Seite 89, Zitat: „Da bei Patient:innen höheren Alters das Ausgangsrisiko für kardiovaskuläre Ereignisse besonders hoch ist, sind laut Leitliniengruppe entsprechend hohe absolute Risikoreduktion zu erwarten.“ Also eigentlich stimmen sie genau dem zu. Es geht noch weiter mit dem Zitat: „Allerdings ist im Einzelfall abzuwägen“, das haben Sie gerade gesagt, „wie weit die Prognose durch die Progression der Krankheit bestimmt ist. Das kann ich nur individuell ausmachen.“ Noch mal Zitat: „Je stärker bei einem Patienten nichtkardiovaskuläre Krankheiten im Vordergrund stehen, desto geringer ist der für ihn zu erwartende Vorteil.“ Also wahrscheinlich hier Diabetes zum Beispiel. Und jetzt gucken wir mal, GBA-Beschluss haben wir lange darüber gesprochen, zur Arzneirichtlinie, Lipidtherapie, Absenkung auf 10 Prozent. Damals hat der GBA sich auch gegen Altersbegrenzung, Herr Scherer, ausgesprochen. Die DEGAM hätte sie damals gerne gehabt, bis einschließlich 74. Und Sie erinnern sich, wir hatten es in der Episode besprochen, die USPSTF hat auch eine. Die sagen auch: Bis 75 könnt ihr das machen. Und danach spricht die USPSTF von Insufficient Evidence für Menschen ab 76. Jetzt räumen Sie mal bitte dieses Feld auf.

Scherer: Ich probiere es. Also die CTT-Metaanalyse, also Cholesterol Treatment Trialists von 2019 hat einen signifikanten Nutzen auch bei Älteren gezeigt. Aber sie schließt eben nicht aus, dass dieser Nutzen geringer ist, wenn Multimorbidität, Frailty oder eine begrenzte Lebenserwartung im Vordergrund stehen. Das ist dann die Realität, mit der man dann in der klinischen Praxis oft konfrontier ist. Und hier setzt genau die NVL an. Sie fordert Individualisierung, nicht Pauschalisierung. Und dass jetzt der GBA keine Altersgrenze will, das ist gesundheitspolitisch absolut nachvollziehbar. Die USPSTF hingegen sagt, für Menschen über 75 ist die Evidenzlage dünn.

Nößler: Sie sagen aber nicht: Du darfst sie nicht geben.

Scherer: Richtig. Sie rät zur individuellen Abwägung. Und das ist doch letztlich keine Dichotomie, sondern ein Aufruf zur klinischen Urteilskraft. Und die DEGAM teilt diese Sicht. Statintherapie – ja. Aber eben nicht mit der Gießkanne, sondern im Gespräch mit der Patientin auf der Basis Lebenserwartung, Zielpräferenz, Gesamtzustand. Und das ist nicht evidenzfern, sondern es ist genau das, was Grade, USPSTF, NVL empfehlen: Share Decision-making bei unsicherer Evidenz.

Nößler: Das heißt, wenn ich jetzt Ihre Replik auf die Replik richtig interpretiere, müsste man Sie eigentlich so verstehen, dass Sie der DGK hier vorwerfen, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Also aus einer Mücke zum Elefanten zu machen.

Scherer: Ich werfe überhaupt nichts vor.

Nößler: Das glaube ich Ihnen nicht.

Scherer: Sondern wir sind hier im Diskurs und oszillieren immer zwischen den zwei Polen, Bevölkerungsmedizin und individueller Abwägung.

Nößler: Es hört sich trotzdem wie das Beschreiben an, dass diese doch sehr heftige Kritik an der vermeintlichen Dichotomie, die Sie gar nicht teilen, sich so ein bisschen anfühlt wie: da wird aus einer Mücke ein Elefant gemacht.

Scherer: Ich weiß nicht. Ich bin da vorsichtig mit solchen Zuschreibungen, weil ich die Perspektive der Kardiologen verstehe. Die sehen schwere Fälle jeden Tag. Und denken dann, das muss man doch irgendwie vermeiden, da muss man doch was machen.

Nößler: Vielleicht an der Stelle ein wichtiger Einschub. Auch Zuschreibungen, warum wer eine Kritik wie äußert, das ist ja noch kein Ad-personam-Argument. Das kann auch eine rein qualitative Befundung sein.

Scherer: Absolut.

Nößler: Liebe Kardiologinnen, liebe Kardiologen, das geht hier alles nicht gegen die Kardiologie, sondern es ist pro Kardiologie, dieses Gespräch.

Scherer: Ja. Aber es ist einfach schwierig, wenn man vom Katheterlabor Aussagen im Hinblick auf die Sekundär-, Tertiär- oder sogar die Primärprävention, über die wir hier heute gar nicht reden.

Nößler: Wir reden hier über vor allem Sekundärprävention und eventuell auch Tertiärprävention. Wir bleiben noch kurz bei unserer liebgewordenen Lipidtherapie. Und bevor der heiße Scheiß Zielwertstrategie kommt, gehen wir zu den Kombis. Waren Sie eigentlich beim Internistenkongress?

Scherer: Leider habe ich es dieses Jahr nicht geschafft, aber die DEGAM war gut vertreten. Leitlinien spielten eine Rolle, es waren einige Präsidiumsmitglieder da.

Nößler: Das gibt es seit einigen Jahren, dass Hausärztliches trifft Inernistisches gemacht wird. Wenn Sie da gewesen wären, da hat es einen Vortrag gegeben zu: Klug entscheiden in Wiesbaden. Und da gibt es auch eine LDL-Senkungsempfehlung Klug Entscheiden, die ist aktualisiert worden. Vielleicht können wir über die gleich noch mal sprechen. Und da geht es nämlich auch um Kombination. Und da sind die Internisten, also hier in dem Fall auch die kardiologischen Internisten, naturgemäß viel, viel weiter, als dass die NVL gerne hätte. Und da sind wir nämlich jetzt bei Ezetimib und Bempedoinsäure. Das ist die Kritik Nummer 4 der kardiologischen Autoren. Die kritisieren, dass diese beiden Substanzen, Ezetimib, Bempedoinsäure in der NVL vor allem vorrangig als Ersatz, wenn eine Statin nicht genügt, eingeordnet würden. Und die DGK wünschte sich stattdessen eigentlich, dass man sie als sinnvolle Kombinationspartner verstünde. Wenn wir noch mal kurz in die NVL reingucken, wieder Lesehinweis, das ist jetzt Seite 96, Kapitel 7.3.3, da will die NVL-Gruppe, Zitat „aktuell keine Empfehlung aussprechen“, relativ neue Substanz, nennt sie aber eine Option bei Statinintoleranz. Bei Ezetimib, ist ein bisschen älter, gibt es die NVL-Empfehlung 7/14. Und da empfiehlt die NVL – jetzt wird es wirklich interessant –, dass man Ezetimib sehr wohl im Rahmen eine Zielwertstrategie anbieten könne, wenn trotz maximal verträglicher Statindosis der Zielwert von kleiner 55 mg/dl – wie viel ist es im Osten? ...

Scherer: Ach bitte, irgendwas mit mmol, 1,4.

Nößler: ... nicht erreicht werden kann. Soweit die Empfehlung, die wahrscheinlich die meisten kennen. Und die DGK geht weiter. Das ist jetzt auch nicht neu und sagt: Nein, nein, eigentlich sind das sehr sinnvolle, Zitat: „Kombinationspartner für Statine“. Und da wird auf diverse Arbeiten verwiesen. Da ist die die systematische Review- und Metaanalyse mit dabei. Da kommt raus, dass die Kombis, das LDL-C stärker senken. Also wenn ich eine Hochdosis Statin alleine mache, das kennen wir alles. Und diese Metaanalyse ist tatsächlich erst nach der NVL-Evidenzrecherche im letzten Jahr veröffentlicht worden. Und da schreiben die Autoren selbst, also die Autoren dieser Metaanalyse, dass es ganz toll ist, was sie da gefunden haben, aber – jetzt kommt es – eigentlich genügen die zugrundeliegenden RCTs nicht, man bräuchte größere outcome-gepowerte RCTs, die längere Follow-up sehen. Das heißt, die Autoren der Metaanalyse selbst sagen schon, das ist höchstens hypothesengenerierend. Herr Scherer, wie ist das jetzt? Sind die Kardiologen einfach zu früh enthusiastisch und innovativ und die DEGAM-Leute, das sind halt die Traditionalisten?

Scherer: Man könnte fast sagen, die einen sind schneller als die Evidenz, die anderen sind langsamer als der Markt. Aber im Ernst, der Unterschied liegt weniger im fortschrittlich versus traditionell, sondern eher in der Frage der Verantwortung im Versorgungsalltag. Die DEGAM und mit ihr die NVL, die muss eben Empfehlungen machen, die robust und nachhaltig sind und breit umsetzbar. Für Ezetimib liegt aus IMPROVE-IT eine gewisse Studienlage vor mit nachgewiesenem Nutzen als Add-on. Deshalb wird es auch in der NVL empfohlen. Allerdings nicht als Ersatz, sondern entweder bei Statintoleranz oder wenn man sich doch für eine Zielwertstrategie entscheidet. Für Bempedoinsäure, die Sie angesprochen haben, Herr Nößler, ist die Lage anders. Die CLEAR Outcomes-Studie war ein wichtiger Schritt. Und auch heute sehen wir, die Substanz zeigt Wirkung auf Surrogatparameter und möglicherweise kardiovaskuläre Ereignisse. Aber Langzeitdaten und praxisrelevante Studien fehlen noch, und zwar gerade bei multimorbiden älteren Patienten. Was also die NVL tut, ist eine vorsichtige Öffnung. Ja, zur Option bei Intoleranz, aber noch keine generelle Empfehlung. Das hat nichts mit Ablehnung von Innovation zu tun, um wieder zu Ihrer Anmoderation zu kommen, mit dem Enthusiasmus, sondern mit einem gewissen methodischen Sicherheitsabstand. Die DGK darf enthusiastischer sein, wir müssen aber tragfähig beraten in der Allgemeinmedizin.

Nößler: Das ist aber ein jetzt interessanter Aspekt. Wir greifen ein bisschen der Metaphysik vorweg, das ist aber gar nicht schlimm. Sie sagen, die DGK darf enthusiastischer sein. Vielleicht da noch mal nachgefragt: Ist es vielleicht sogar komplett gewünscht und hoch legitim, dass verschiedene Gebiete einen unterschiedlichen Innovationsdrang haben dürfen und es am Ende entscheidend ist, dass die einen, die schneller sind mit dem Markt, und die anderen, die da vielleicht anders mit umgehen ... also, dass die einen das dürfen, genauso wie die anderen das dürfen. Und der entscheidende Punkt ist, dass beide am Ende zusammenfinden müssen.

Scherer: Ich hätte es nicht schöner sagen können. Sie kriegen von mir von mir hier einen Paraphrase-Zertifikat.

Nößler: Sie haben Ihre Soundmaschine.

Scherer: Hätte ich meine Soundmaschine, hätte ich jetzt hier auf den Jubelknopf gedrückt. Entschuldigung, Herr Nößler, es war nicht einfach nur eine Paraphrase, sondern ein wichtiger Gedanke. Aber jetzt frage ich Sie mal: Wo wird so was gemacht? Und was ist die Plattform dieses Zusammenkommens?

Nößler: Das ist die Cliffhanger-Frage für unseren zweiten Teil. Also an diesem schönen Beispiel, das Sie jetzt gerade gebracht haben mit Bempedoinsäure, relativ neue Substanz, es ist das Natürlichste der Welt, dass ich da nicht diese big Peaces of Evidende habe, habe ich keine langen Follow-ups. Aber irgendwo muss ja diese Evidenz herkommen. Wir hatten jetzt gerade über die Früh-innovativ-Enthusiastischen gesprochen. Die gehen immer eher den Weg – Sie haben es gesagt – Markt: Ey, da ist eine Hoffnung, lass sie mich mal nutzen. Und die Traditionalisten sagen: Zeig mir den Beweis. Und das ist dieses Spannungsfeld. Wir sind hier in Köln, irgendwo nebenan ist das IQWiG. Die sind quasi institutionell, dieses Spannungsfeld. Könnte es nicht zum Beispiel eine Idee sein, Herr Scherer, jetzt mal an diesem Beispiel Bempedoinsäure festgemacht, dass man zwischen diesen NVL, die ja wirklich viele Menschen betreffen, und dem, was der gemeinsame Bundesausschuss macht – der gemeinsame Bundesausschuss kennt ja dieses Prinzip der abD, der anwendungsbegleitenden Datenerhebung, dass man im Prinzip in der Versorgung unter sehr strukturierten Vorgaben sagt: Wir lassen Innovation zu, um bei der Versorgung Evidenz zu generieren. Könnte das nicht so eine Idee sein, diesen Clash zwischen Innovationsenthusiasten und Innovationstraditionalisten zu heilen, indem man in der NVL mal diesen Weg bestreitet und sagt: Uns fehlt der Beweis, aber wir machen eine offene Empfehlung, aber nur im Rahmen einer abD.

Scherer: Das ist ein absolut kluger Gedanke, Herr Nößler. Genau in diese Richtung müssen wir denken, wenn wir wirklich wollen, dass Versorgung und Forschung zusammenwachsen, dann brauchen wir eben solche Formate wie anwendungsbegleitende Datenerhebungen – abD haben Sie gesagt, die Abkürzung – oder Registerstudien, also Formen wissensgenerierender Versorgung. Habe ich so noch in keinem Podcast gesagt. Gerade bei neuen Substanzen, die Bempedoinsäure wäre das Ideal, also nicht gleich flächendeckend empfehlen, aber gezielt einsetzen unter strukturierten Bedingungen mit Follow-up, idealerweise verknüpft mit einem Outcomes-Register. Und so könnte man dann systematisch prüfen, wer profitiert wirklich. Und für die NVL – Sie merken, ich komme wie so ein Flummi am Band gezogen immer wieder zurück zur NVL – wäre das eine echte Chance, sie könnte dann an bestimmten Stellen sagen, noch keine starke Empfehlung, aber Erprobtes kontrolliert, dokumentiert ist, lass uns gemeinsam lernen. Das wäre dann wäre dann weder innovationsfeindlich noch fahrlässig enthusiastisch, sondern ein Mittelweg, der allen dient und vor allem den Patient:innen.

Nößler: Und der Weg zur Evidenz. Wir müssen eigentlich mal Thomas Kaiser und Josef Hecken einladen.

Scherer: Sie wollen die Talkshow.

Nößler: Wir müssen diese Talkshow machen. Ich glaube, beide wären sogar super geeignet dafür, auf den 37 Grad heißen Stuhl zu gehen. Jedenfalls hätten sie keine Scheu davor. Wir halten mal für das Protokoll fest: 9 Mai, 11.17 Uhr machen wir diese Aufzeichnung im Moment. Martin Scherer spricht sich erstmals für eine wissensgenerierende Versorgung unter sehr konkreten Vorgaben aus. Das ist fast eine Breaking News, so heiß wie Habemus Papam.

Scherer: Ja. Jetzt fehlt nur noch der weiße Rauch.

Nößler: Wir können eine Zigarette anmachen.

Scherer: Da oben ist ein Rauchmelder an der Decke.

Nößler: Dann lassen wir das, weil es gibt dann doch unsere Soundmaschine, eine sehr feuchte sogar. Herr Scherer, wollen wir das Lipidthema abrunden?

Scherer: Bitte.

Nößler: Jetzt ist nämlich der Streit schlechthin, das ist für unsere Hörerinnen und Hörer wirklich nicht neu, und zwar die DGK moniert – allseits bekannt – das, Zitat: „Festhalten an der Festdosisstrategie anstatt der evidenzabsierten international empfohlenen Zielwertstrategie“. Wir hatten es vorhin schon angedeutet, dass man beim Lesen das eigentlich gar nicht so teilen kann, was die DGK da schreibt, weil in der NVL Kapitel 7.3.2, Seite 91 ff. sind beide Strategien als gleichrangig abgebildet. Die haben beide diese Pfeile nach oben. Das ist – was für eine Empfehlung?

Scherer: Eine starke. Soll.

Nößler: Und da steht auch, wer sich für welche dieser Empfehlung ausspricht. Also die Festdosisstrategie ist akdä und DEGAM und die andere ist die internistische Empfehlung. Also zwei starke positive Empfehlungen. Verstehen Sie, woran die Kardiologen sich da stören? Wo doch eigentlich das, was sie wollen, da drin als stark abgebildet ist.

Scherer: Ich verstehe es schon, was die DGK stört.

Nößler: Dann klären Sie mich auf.

Scherer: Sie wissen es doch eigentlich auch.

Nößler: Das sind Suggestivfragen.

Scherer: Da haben Sie jetzt irgendwie in die rhetorische Trickkiste gegriffen. Also für viele kardiologische Kolleginnen und Kollegen ist diese Zielwertstrategie, also das Erreichen eines LDL-Zielwerts von 55 mg/dl, 1,4 mmol ...

Nößler: Grüße in den Osten und UK.

Scherer: ... ein fester Bestandteil ihres klinischen Denkens. Das kann ich absolut nachvollziehen. Und wenn dann die NVL auch eine Festdosisstrategie mit gleicher Empfehlungsstärke darstellt, dann wirkt das aus kardiologischer Sicht wie eine Relativierung des Evidenzstandards. Und hier genau liegt das Missverständnis. Die NVL sagt nicht entweder oder, sondern sie bietet zwei Wege an, die beide evidenzbasiert und praxisnah sind. Die Festdosisstrategie hat in den bevölkerungsbezogenen Studien gezeigt, dass sie effektiv ist, dass sie sicher ist und einfach umsetzbar ist und einfach auch auf die hausärztliche Versorgung passt. Es muss ja machbar sein. Sie wird übrigens auch in der amerikanischen Leitlinie von 20218 ACC AHA empfohlen, zum Beispiel bei älteren Patienten. Und die Zielwertstrategie hat dann auch irgendwo ihre Berechtigung. Sie ist komplexer, sie braucht Monitoring und oft Kombinationstherapie, ist aber bei Hochrisikopatienten sinnvoll. Und genau deshalb sagt die NVL: Beides ist möglich, je nach Setting, Ressourcen, Präferenz und klinischen Bild. Und das ist keine Schwäche, Herr Nößler. Es ist Ausdruck von Respekt gegenüber Versorgungsrealitäten. Respekt, großer Zapfenstreich.

Nößler: Das war Respekt. Großer Zapfenstreich war Montag. Das ist – weiß eigentlich jeder, der uns zuhört, oder sollen wir es noch mal erklären, was der große Zapfenstreich ist?

Scherer: Das war die Verabschiedung von Olaf Scholz. Das war sein Motto, sein Slogan, vom Wahlkampf bis zum Zapfenstreich. Aber dieses Motto brauchen wir auch.

Nößler: Und Respekt ist auch, dass der neue Kanzler dabei gewesen ist, der da noch nicht Kanzler war.

Scherer: Richtig. Und wir brauchen Respekt gegenüber den Versorgungsqualitäten.

Nößler: Jetzt haben Sie schon einen Cliffhanger gemacht für unseren zweiten Teil, nämlich Unterscheidungs- und Ähnlichkeitsmerkmale zwischen wissenschaftlichem und politischem Streit. Am Ende werden wir nur noch Cliffhanger haben, wenn das so weiter geht. Bleiben wir kurz bei dem, was Sie gesagt haben. Also Sie sagen: Respekt vor Versorgungsrealitäten. Das ist im Prinzip die Vorstellung, warum man hier verschiedene Wege ermöglicht. Man kennt das ja auch aus der frühere NVL Diabetes, wo es diese zwei Stränge gab, den diabetologischen und den primärärztlichen Weg. Und man hatte sich damals nach langem Streit geeinigt, dann lassen wir halt beides zu. Und jetzt kommt aber die DGK und sagt: Nein, genau diese Gleichrangigkeit ist eigentlich unser Problem – oder Gleichwertigkeit muss man eher sagen. Damit hatte die DGK ein Problem, weil die sagen, die Festdosisstrategie – sind jetzt meine Worte – schlecht ist, weil sie, Zitat: „im Widerspruch zur vorhandenen Evidenz stehen“. Die DGK-Autor:innen haben da sechs Publikationen angeführt, aus denen die dann wiederum den, Zitat: „den Nutzen des Erreichens eines LDL-Cholesterin-Zielwerts zur Reduktion der Mortalität und MACE“ – MACE dieses Mal nur mit einem C, das heißt, die zerebrovaskulären sind raus – gut belegten. Da kennen wir jetzt die Arbeiten, CTT hatten Sie schon angesprochen, wir haben die TIMI Study Group, kennen wahrscheinlich auch viele, und eine nicht ganz unbekannte Publikation 2020 von Wang et al. Jetzt geht es weiter. Wir haben die IMPROVE-IT, die haben Sie angesprochen, Studie Ezetimib, wir haben Fourier, das ist wozu?

Scherer: Evolocumab.

Nößler: Und wir haben die ODYSSEY OUTCOMES, die ist wofür?

Scherer: Alirocumab.

Nößler: Also zwei PCSK9-Hemmer. Und diese sechs Arbeiten führen die DGK-Autoren an. Und dagegen kommen sie dann mit einer 2023 – jetzt wird es noch bekloppter – die LODESTAR, das ist eine randomisiert kontrollierte Studie, an. Und in der LODESTAR ist Treat-to-Target verglichen wurden gegen Hochdosistherapie. Und das ist eine non-inferiority Study. Und die kam halt raus, dass ein Treat-to-Target innerhalb von drei Jahren Follow-up nicht der Hochdosistherapie unterlegen war. Stand aber nicht drin, dass sie besser ist. Und jetzt kommt die DGK und sagt: Das ist der einzige direkte Vergleich, den wir kennen zwischen diesen beiden Therapiestrategien. Und diese Studie hat aber riesige Limitationen und deswegen ist sie eigentlich gar nicht aussagekräftig und deswegen gibt es eigentlich keinen Beweis, dass Hochdosis besser ist als TTT. Und im Gegenteil kommt jetzt die DGK – jetzt wird es noch bekloppter – die TS to T – das ist die?

Scherer: Treat Stroke to Target.

Nößler: Genau. 2019 veröffentlicht. Und da hat man LDL-Ziele verglichen unter 70 versus 90-110 mg/dl – mmol bitte jetzt mal selber umrechnen. Und jetzt kommt noch etwas ganz Gravierendes, Herr Scherer, jetzt vermischen die Tertiärprävention mit Sekundärprävention. Das Wollknäuel wird immer bekloppter und größer. Sie sind die Miezekatze.

Scherer: Ich glaube, das Miau können Sie besser mit Ihrer Soundmaschine.

Nößler: Ich darf ein Miau. Ich habe hier eine Miau-Maschine. (Miau)

Scherer: Ich versuche es mal, Herr Nößler. Ich glaube, genau hier liegt das Grundproblem. Es gibt gute Evidenz für die LDL-Senkung insgesamt, aber keine klare breite Evidenz für die Überlegenheit einer Zielwertstrategie gegenüber einer gut umgesetzten Festdosisstrategie. Das muss man einfach mal ganz klar sagen. Die von der DGK zitierten Studien, Sie haben Sie genannt, IMPROVE-IT, ich sage gerne FOURIER. ODYSSEY OUTCOMES, die zeigen sehr schön, dass eine weitere LDL-Senkung mit Ezetimib und PCSK9-Inhibitoren das Risiko weiter senken kann. Aber das sind Add-on-Studien bei Hochrisikopatienten.

Nößler: Mit vor allem FH und so was.

Scherer: Meist sind das Sekundär- oder sogar in der Tertiärprävention. Teils nach akutem Koronarsyndrom, also nicht direkt übertragbar auf die breite hausärztliche Versorgung. Die Treat Stroke to Target Studie, Amarenco 2019, die ist ein gutes Beispiel, aber bei Patient:innen nach ischämischen Schlaganfall in der Tertiärprävention. Und deshalb muss man das immer wieder auseinanderdröseln.

Nößler: Das heißt, wir hatten schon mal in einem anderen kardiologischen Diskurs auch so ein Fußnotenreigen auseinandergenommen. Erinnern Sie sich noch, zu welchem Thema das war?

Scherer: Ja, das war das Gesunde-Herz-Gesetz.

Nößler: Und das waren, glaube ich, 50 Fußnoten oder so. Und da ist am Ende auch relativ wenig bei unserem Gespräch übriggeblieben. Ist das hier auch wieder so? Dass hier zwar so ein Fußnotengewitter kommt, alles auch wichtige Arbeiten im Übrigen, alles große RCTs teilweise, die aber uns eigentlich gar nicht bei dem Argument helfen.

Scherer: Helfen Sie noch einmal ganz kurz den Zuhörern, auf welche Fußnoten Sie sich beziehen. Das ist diese Stellungnahme in der Kardiologie.

Nößler: Exakt, genau. Das ist eine der ersten in unserem Literaturverzeichnis. In den?

Scherer: Shownotes. Also im Grunde genommen, die wissenschaftliche Begründung dafür, dass die DGK die NVL nicht mittragen kann.

Nößler: Aber der Versuch der wissenschaftlichen Begründung.

Scherer: Richtig.

Nößler: Jetzt meine Frage: Das, was Sie jetzt gerade alles erzählt haben ist: Ja, alles super Arbeiten, die hier zitiert worden sind, aber die helfen uns bei dem, was die DGK kritisiert, gar nicht weiter.

Scherer: Wenn wir ganz präzise und fair sein wollen, die DGK führt wirklich sehr relevante Evidenz für die Bedeutung der LDL-Senkung an. Das ist völlig unbestritten. Aber was sie nicht belegt, das ist die zentrale These, dass eine Zielwertstrategie per se der Festdosisstrategie überlegen ist. Und dass das Letztere evidenzwidrig sei.

Nößler: Mit anderen Worten: Nur weil eine TTT-Strategie der Hochdosisstatintherapie nicht unterlegen ist, heißt es noch lange nicht, dass sie besser ist.

Scherer: Richtig. Also die zitierten Studien IMPROVE-IT, FOURIER, ODYSSEY OUTCOMES zeigen, dass weiteres LDL-Senken mit zusätzlichen Medikamenten bei Hochrisikopatienten einen Nutzen bringen kann. Das aber ist nicht zu verwechseln mit einem methodischen Beleg dafür, dass die Zielwertstrategie als Versorgungsprinzip überlegen ist.

Nößler: Sie sind Versorgungsforscher, zumindest behaupte ich das immer wieder, und Sie auch. Ich glaube, PAPmed würde Ihnen Recht geben. Und es gibt in der DEGAM das ForNet, also das Netzwerk der ganzen Forschungspraxis-Netzwerke in Deutschland und im Übrigen mit einer sehr umtriebigen Leonor Heinz in der Geschäftsstelle. Ich glaube, es beginnt demnächst auch eine neue Förderperiode.

Scherer: Aus DESAM ForNet wird DEGAM ForNet.

Nößler: Genau. Und das Ziel ist tatsächlich, klinische Forschung im primärärztlichen Versorgungsalltag zu machen. Wäre das nicht mal eine interessante Fragestellung für – ich sage jetzt nicht Real-World Evidence, sondern für eine prospektive Studie in den deutschen Arztpraxen, wo man die beiden Dinge miteinander vergleicht über fünf Jahre.

Scherer: Zumindest würde DEGAM ForNet die nötige Forschungsinfrastruktur dafür bieten und wäre das geeignete Terrain für so was. Bis dahin, bis wir Ihre schöne Studienidee umsetzen, Herr Nößler, ...

Nößler: ... schreiben Sie einen Innofonds-Antrag.

Scherer: ... müssen wir erst mal mit dem arbeiten, was wir haben. Und was wir haben, ist, die LODESTAR-Studie, die Sie schon zitiert haben. Die versucht ja diese belegte Überlegenheit der Zielwertstrategie zu liefern. Was zeigt die LODESTAR-Studie? Dass die Festdosisstrategie nicht unterlegen war. Und auch das bewertet die NVL transparent. Sie stellt die beiden Strategien nebeneinander. Und jetzt nicht, weil irgendwie die Autoren hadern oder entscheidungsschwach sind, sondern weil das eben die Evidenzlage ist, weil die Evidenzlage das nicht nur erlaubt, sondern auch erfordert. Und deshalb lautet meine Antwort: Die DGK hat sehr gute Argumente für die LDL-Senkung insgesamt, aber nicht für die Ablehnung der Festdosisstrategie in der Breite der Versorgung.

Nößler: Die Argumente für eine Sache müssen nicht zwangsläufig die Gegenargumente für eine andere sein. Okay. Wann schreiben Sie Ihren Innofonds-Antrag?

Scherer: Heute Nachmittag.

Nößler: Cool. Da müssen wir wieder Josef Hecken einladen. Wobei ich glaube, das ist dann quasi Beeinflussung. Aber er trifft ja nicht die Entscheidung über die Zusagen. Da gibt es ja ein unabhängiges Gremium für. Machen wir noch mal ein bisschen weiter mit der TTT-Strategie. Wir hatten das auch im Rahmen dieser ganzen Diskussion über die Arzneimittelrichtlinien-Änderung von 20 auf 10 Prozent, wurde viel diskutiert, wurde auch zwischen DEGAM und DGK viel diskutiert. Da gibt es Unmengen an Papier, die kann man alle nachlesen beim GBA bei Anhörungen und Co. Wenn man das mal zu Ende denkt – vielleicht noch mal dieser Hinweis: Treat-to-Target-Strategie, es gibt das Kluge Entscheiden von der DGIM, wir hatten es eben gerade angesprochen, da ist das ganz klar als Vorgabe drin. Die Kardiologen haben es in ihren Guidelines drin. Wenn man das Ganze mal zu Ende denkt, Herr Scherer, würden wir wirklich Treat-to-Target machen, wozu würde uns das zwangsläufig hinbringen?

Scherer: Das ist genau der Kern des Problems, Herr Nößler. Sie bringen hier ein zentrales Spannungsfeld auf. Also die klinischen Zielwerte versus Bevölkerungsmedizin. Eine Treat-to-Target-Strategie, wie sie in den ESC-Leitlinien formuliert ist, klingt auf dem Papier sehr präzise. Precision Medicine ist auch sehr modern. LDL kleiner 55 bei Hochrisiko, möglichst schnell, möglichst tief. Soweit so klar. Und wir lieben ja Klarheit in der Medizin. Aber wenn man das zu Ende denkt, dann landen wir schnell in ein Szenario, in dem 10 Millionen Menschen in Deutschland theoretisch Anspruch auf PCSK9-Inhibitoren hätten. Und jetzt sind wir in Ihrer Lieblingsdisziplin, nämlich der, der Modellrechnung mit Jahrestherapiekosten von rund 5.000 Euro pro Person. Bei 10 Millionen Menschen ... Und das alles, obwohl die Mortalität in HOPE 3 nicht gesenkt wurde, sondern nur Surrogatendpunkte. Also was passiert hier gerade? Und was ist das Spannungsfeld, was sie aufmachen. Wir erzeugen ein riesiges präventives Therapiefeld, das kaum mehr in der individuellen Nutzenabwägung verankert ist, sondern sich an Zahlen orientiert, an ESC-Leitlinien-Zahlen, die nicht auf belastbaren Outcomes, sondern auf Konsens beruhen, Empfehlungsklasse 2B, Evidenzlevel C.

Nößler: Da wird es orange.

Scherer: Herr Nößler, das ist kein fester Boden mehr, das ist ein methodisches Feuchtbiotop.

Nößler: Zu 50 Milliarden Euro Kosten.

Scherer: So ist. Und die NVL stellt sich gegen diesen Automatismus. Sie sagt: Ja, LDL-Senkung wirkt, aber nicht um jeden Preis, nicht bei jedem Menschen, nicht ohne Abwägung. Wenn wir mit Treat-to-Target ernst machen wollen, brauchen wir erstens eine Evidenz, zweitens Versorgungsforschung, drittens eine wirtschaftliche Bewertung und nicht zuletzt die ehrliche Frage, was bringt es im Einzelnen und was kostet es uns alle. Und spätestens jetzt müsste eigentlich jeder Zuhörer, jede Zuhörerin merken, diese Diskussion ist größer als die Zahl 55.

Nößler: Und größer als dass wir zwei sie führen könnten, sondern da müssten andere dann mitdiskutieren. Wieder ein Cliffhanger für Teil 2.

Scherer: Ihre Talkshow.

Nößler: Wir machen diese Talkshow mit dem 37 Grad heißen Stuhl und in dem Fall hier bitte Grüße an die DGK-Auror:innen, an Prof. Thiele beispielsweise. Sie können ja bei dem Innofonds-Antrag helfen, dann kriegte man so ein Forschungsprojekt schneller umgesetzt.

Scherer: Interdisziplinär.

Nößler: Interdisziplinär. Mit Familienmedizin und internistischer Medizin und kardiologischer Medizin. Da könnte man sogar Gebietsvergleiche machen, wie cool wäre das denn. Und vielleicht gibt Ihnen der Innofonds dafür ein paar Millionen. Wird nicht ganz günstig sein so ein Projekt.

Scherer: Und wird lange dauern. Da bin ich in Rente, bis die Studie fertig ist.

Nößler: DFG-Sonderforschungsbereich, das ist Grundlagenforschung, leider. Na gut. Wir haben eine neue Forschungsministerin. Die will auf den Mond fliegen.

Scherer: Mit Katy Perry. Obwohl man bei Katy Perry daran zweifelt, dass sie wirklich da war.

Nößler: Die war doch nur vier Minuten im Orbit.

Scherer: Ja, aber die Haare hingen nach unten.

Nößler: Das Problem ist doch, du hast doch bei diesem Parabelflug nur an der Spitze Schwerelosigkeit. Und das sind nur ein paar Sekunden oftmals. Also ich bin noch nie 80 Kilometer hoch gewesen.

Scherer: Aber das Fenster war auch zu groß, es hätte kaputtgehen müssen.

Nößler: Es kann 20-fach verglast sein oder ein Meter dickes Glas. Keine Ahnung wie man dann die Welt ist, die ist dann ganz klein rausgezoomt.

Scherer: Zurück zum Thema, Herr Nößler.

Nößler: Danke schön, ich wollte es auch gerade sagen. Das war für den Moment ein Punkt. Wir werden dieses Statinthema nicht und niemals abschließend besprechen. Wie oft haben wir schon über LDL gesprochen? Aber es hilft halt nicht, Diskurs lebt ja auch von Wiederholungen.

Scherer: Und das EvidenzUpdate lebt zumindest zum Teil auch von den Lipiden.

Nößler: Ohne Lipide bräuchten wir uns eigentlich kaum, oder? Also muss man schon ehrlich sagen. Gut, machen wir das letzte Kritikpäckchen, bevor wir dann zum Teil 2 kommen. In Ordnung?

Scherer: Ja.

Nößler: Das letzte Kritikpäckchen der DGK, das sind tatsächlich zwei Dinge, die irgendwie zusammenhängen. Und zwar gibt es da einmal Punkt 1 dieser Kritikliste, das ist, Zitat: „die Fokussierung der NVL ausschließlich auf ein Symptom, Angina pectoris ohne die Berücksichtigung weiterer Beschwerden wie hier die Dyspnoe als Angina-Äquivalent“. Und dann gibt es Punkt 2 der DGK-Kritik, das ist die, Zitat: „Empfehlung des wenig aussagekräftigen Marburger Herz-Scores zur Einschätzung der Wahrscheinlichkeit einer zugrundeliegenden stenosierenden KHK“. Ich würde sagen, weil es alles um die Ermittlung, um Verdacht stellen oder Ausschließen einer KHK geht, besprechen wir die zwei Punkte zusammen. Erst mal Luft holen, Herr Scherer. Die DGK schreibt, Dyspnoe sei besonders bei Älteren das, Zitat: „Light-Symptom“ für eine KHK, und insbesondere auch bei Frauen sei das relevant. Die verweisen da auf Arbeiten. Wir wissen bei Frauen, dass die eine sehr eigene KHK-Symptomatik aufweisen können. Es gibt da ein Review aus Circulation, es gibt die einschlägigen ESC-Leitlinien, die sie anführen. Und dann – das fand ich interessant – eine retrospektive Datenauswertung von einem Mount Sinai Hospital. Das ist im nuklearmedizinischen Journal veröffentlicht worden. 33.000 Myokard-SPECT-Patienten, wo die Autoren dann retrospektiv eine Dyspnoeprävalenz von 30 Prozent ermittelt haben. Jetzt mal unabhängig dieser einzelnen Quellen, was hätten Sie dagegen, dass man Dyspnoe als ein mögliches hinweisgebendes Symptom mit in die Ermittlung der KHK-Wahrscheinlichkeit einbezieht.

Scherer: Das ist eine sehr berechtigte Frage, aber auch die Gelegenheit zwischen biologischer Relevanz eines Symptoms und seiner diagnostischen Aussagekraft im hausärztlichen Kontext zu unterscheiden. Ich habe überhaupt nichts gegen Dyspnoe.

Nößler: Also nicht persönlich.

Scherer: Ich habe auch überhaupt nichts dagegen, Dyspnoe ernst zu nehmen, im Gegenteil. Dyspnoe ist ein hochrelevantes Symptom, gerade bei älteren Menschen und bei Frauen. Aber ein Symptom allein ist noch kein geeigneter Prädiktor für eine KHK. Und genau um so was geht es ja eigentlich beim Scoring. Die von der DGK zitierten Quellen, zum Beispiel die großen Myokard-SPECT-Auswertungen mit immerhin 33.000 Patienten, die zeigen, ja, Dyspnoe ist häufig.

Nößler: Aber das ist ja kein GP-Setting gewesen.

Scherer: Erstens und zweitens zeigen sie nicht, dass Dyspnoe ein starker eigenständiger Prädiktor für eine obstruktive KHK ist. Und wenn wir sie aber in einen Score aufnehmen, der in der Hausarztpraxis zur Ausschlussdiagnostik genutzt wird, dann erhöht das meines Erachtens das Risiko von Überdiagnostik und unnötiger Weiterleitung beziehungsweise Überweisung.

Nößler: Ich denke jetzt mal notfallmedizinischer Algorithmen, da sind wir nicht im hausärztlichen Setting. Aber wenn ich jetzt mal im notärztlichen Setting unterwegs bin, wo bringt mich Dyspnoe hin? Herzinsuffizienz in der Regel.

Scherer: Als eine der wichtigen Erkrankungen, aber auch ein (BD?)-Patient kann Dyspnoe haben.

Nößler: Bei der Frage der biologischen Relevanz versus diagnostische Sicherheit und Verlässlichkeit – geht es Ihnen darum, dass die Dyspnoe ein unabhängiger Risikofaktor sein muss oder ist das gar nicht so ausschlaggebend?

Scherer: Mir geht es darum, dass der Marburger Herz-Score für die Primärversorgung entwickelt wurde mit typischen hausärztlichen Symptomen in einem Patientenkollektiv mit niedriger Vortestwahrscheinlichkeit. Und in diesem Kollektiv war Dyspnoe kein valider Diskriminator.

Nößler: Das heißt, das Team um Donner-Banzhoff hat die Dyspnoe damals mit untersucht.

Scherer: Sie wurde methodisch sauber aus dem Score rausgelassen. Und das ist keine Geringschätzung, das ist eine evidenzbasierte Abwägung. Und wenn die Dyspnoe im Einzelfall eine Rolle spielt, zum Beispiel belastungsabhängig oder kombiniert mit anderen Risikofaktoren, dann muss sie natürlich in die ärztliche Entscheidung einfließen. Das ist ja völlig klar. Aber das ist dann ein klinisches Urteil und kein Scoring, dass wir das mal unterscheiden.

Nößler: Das heißt, an der Stelle halten wir fest, die DGK-Autoren reiben sich darin, dass die Dyspnoe in der NVL nicht hinreichend gewürdigt würde. Sie sagen aber: Stimmt gar nicht. In der klinischen Bewertung und Beurteilung spielt die Dyspnoe im Zweifel natürlich eine Relevanz.

Scherer: Selbstverständlich.

Nößler: Frage Marburger Herz-Score, kommen wir gleich noch mal zu. Diese Scorings können sich auch weiterentwickeln. Wenn ich neue Evidenzen habe – gucken Sie sich die Framingham Scores an, die sich mit den Jahren auch immer weiterentwickelt haben. Wäre es nicht zum Beispiel auch denkbar, dass, wenn man MHS, also den Marburger Herz-Score jetzt noch mal weiter validieren wollte, vielleicht auch in einer größeren Population, vielleicht auch in einer noch etwas veränderten Population, dass man dann vielleicht die Dyspnoe einfach noch mal mit reinnimmt und sagt, wir gucken noch mal und testen noch mal speziell auf den Dyspnoestatus. Wie verhält es sich mit Sensitivität und Spezifität? Wäre das nicht eine Idee, irgendwann noch mal ranzugehen?

Scherer: Gegenfrage: Wann machen Sie endlich Ihre Doktorarbeit?

Nößler: Okay. Das ist der Cliffhanger für die vierte Episode.

Scherer: Das ist schon die zweite sinnvolle Studie, die Sie vorschlagen. Und ich würde sie sofort unterstützen. Genau das ist eigentlich gute Versorgungsforschung. Also wir testen das, was klinisch plausibel erscheint, aber diagnostisch noch nicht hinreichend quantifiziert ist. Also wenn die Dyspnoe sich in einer prospektiven Studie wirklich als unabhängiger und auch starker Prädiktor für eine stenosierende KHK herausstellt, dann wäre es natürlich eine gute Ergänzung für ein zukünftiges Scoring. Gerne dann auch im Zusammenspiel mit Alter und Geschlecht. Aber im Augenblick gibt es die validierte Evidenz noch nicht her. Und die sagt, im bisherigen hausärztlichen Kontext war Dyspnoe kein stabiler diskriminierender Faktor, sonst wäre sie schon längst drin im Score. Aber, Herr Nößler, was nicht ist, kann ja noch werden. Und ein Doktor-HC brauchen Sie nicht.

Nößler: Das heißt, ich muss mit Norbert Donner-Banzhoff reden. Wenn der da das unterstützt, könnte man ja mal gucken. Der Altvater des Marburger Herz-Scores, den sollte man schon auf seiner Seite haben.

Scherer: Ideell ja, aber ansonsten joggt er gerne, fährt Rad, liest und genießt seine Pension.

Nößler: Ich habe ihn ja auch nicht als Doktorvater ins Gespräch bringen wollen. Also erst mal hier alle Missverständnisse am Publikum abzuräumen. Wir machen aber mit dem Marburger Herz-Score aber weiter. Ich habe gerade Norbert Donner-Banzhoff angesprochen, es sind viele, viele Leute mehr, die da mitgearbeitet haben. Der Marburger Herz-Score heißt so, weil es eigentlich die gesamte Marburger Truppe war. Meinen Sie, dass Norbert Donner-Banzhoff und Kolleginnen und Kollegen sich geärgert haben, als sie das gelesen haben, dass ihr Score als wenig aussagekräftig tituliert wird?

Scherer: Das weiß ich nicht so genau. Was ich weiß, ist, dass er sich darüber freuen würde, aus alter Kölner Verbundenheit, wenn wir hier mit Blick und Rhein und Kölner Dom über diese ganzen Sachen sprechen. Aber ob er sich geärgert hat, weiß ich nicht. Ich könnte mir aber vorstellen, dass er überrascht war. Der Marburger Herz-Score ist international anerkannt und mehrfach validiert.

Nößler: Die DGK behauptet, der käme gar nicht zur Anwendung.

Scherer: Also in mehreren systematischen Reviews als diagnostisch brauchbar bis exzellent eingestuft. So, und wenn dann aus der kardiologischen Fachgesellschaft zu lesen ist, der Score sei wenig aussagekräftig, dann klingt es für mich wie eine Verwechslung von Setting und Anspruch. Also der Marburger Herz-Score ist kein Klinik-Tool und das will er auch überhaupt nicht sein.

Nößler: Und nicht zum Hochpräferenzbereich Kardiologie Praxis.

Scherer: Er wurde für den kontextbezogenen Einsatz in der Primärversorgung entwickelt. Seine Validierung eben genau in dem Setting, die zeigt, man braucht nur wenige Angaben, man braucht wenige Items und dann hat man eine relativ gute Einschätzung, ob eine stenosierende KHK wahrscheinlich ist oder nicht. Also ob der Norbert sich ärgert, sei dahingestellt. Aber ich denke, viele aus der Allgemeinmedizin wundern sich – man ärgert sich ja nicht, man wundert sich auch oft einfach mal –, wie pauschal hier geurteilt wird und das ohne die Methodik und ohne das Versorgungsziels dieses Scores angemessen zu würdigen.

Nößler: Da haben wir wieder, die Weltbilder. Aber es gehört auch zur Wahrheit dazu, dass in dieser Spalte, wo der MHS kritisiert wird, tatsächlich auch argumentiert wird mit empirischen Dingen. Und zwar die Kritik der Autoren geht so, dass der MHS entwickelt wurde in einer relativ kleinen Kohorte, ein bisschen mehr als 1.200 Menschen, davon knapp die Hälfte zur Validierung. Dann wird kritisiert, dass die Kohorte eine spezifische Zusammensetzung hatte, „jüngere“ Frauen waren da nicht Teil, erst Leute ab der Menopause waren Teil der Kohorte gewesen. Und dann haben die DGK-Autoren eine Arbeit von 2024 rausgezogen. Das ist eine Übersicht gewesen von verschiedenen Scorings und Risikostratifizierungsmodellen und da kommt die Arbeit für den Marburger Herz-Score unter 3, also im Prinzip Niedrigrisiko bis einschließlich 2 Punkte, auf eine Area under the curve um 64 Prozent, Sensitivität um 75 Prozent, Spezifizität um 44 Prozent, positiv prädiktiver Wert von 24,3 Prozent und ein negativ prädiktiver Wert um die 88 Prozent. An der Stelle ein Gewinnspiel für alle Hörerinnen und Hörer, wer sich das beim einmaligen Zuhören alles merken konnte, schreibe uns eine Mail. Und dann gucken wir mal, wo wir den weißen Elefanten herbekommen. Jetzt aber noch mal, dass je nach Risikostratifizierung das alles anders ausfällt – die Arbeit ist verlinkt, kann man sich angucken – was sagt uns das?

Scherer: Ganz ehrlich? Genau hier sieht man mal wieder, wie wichtig es ist, wirklich vorab klar definierte Schlüsselfragen zu haben, nach dem PICO-Prinzip. PICO steht für?

Nößler: Population, Intervention, Comparison, Outcome.

Scherer: Und die von der DGK zitierte Arbeit betrachtet den diagnostischen Endpunkt akutes Koronarsyndrom. Also ACS. Da hat der Marburger Herz-Score seine Schwächen. Das sagt er nicht voraus, dafür ist er nicht gemacht. Aber in der NVL Chronische KHK geht es, wie der Name schon sagt, um die Abklärung einer stabilen chronischen KHK. Das ist ein völlig anderer klinischer Kontext. Und die Übersichtsarbeit schließt also jene Studien aus, auf denen die Empfehlung für den Marburger Herz-Score in der NVL auch basiert. Und für den chronischen Endpunkt, da gibt es eine fundierte Herleitungsstudie mit knapp 1.000 Patienten sowie zwei externe Validierung mit zusammen etwa 1.500 Patienten.

Nößler: Also die ist mit einer Kritik mal unter den Tisch gefallen.

Scherer: Und das in der hausärztlichen Praxis. Also nicht in der Notaufnahme. Was die Werte Area under the curve, Sensitivität oder NPV angehen, die sind – wie Sie wissen, Herr Nößler – settingabhängig. Die sind absolut settingabhängig. Und sie liegen für die Primärversorgung im guten bis sehr guten Bereich. Man kann jetzt nicht erwarten, dass ein Tool, das für den Ausschluss einer stabilen KHK entwickelt wurde, dann im Kontext eines akuten Koronarsyndroms dieselbe Leistung bringt. Deshalb ist die Aussage, es macht keinen Unterschied, einfach methodisch überhaupt nicht haltbar.

Nößler: Gehen wir mal zu möglichen Alternativen. Und da wird es vielleicht dann etwas diskursspannender. Es gibt zig solcher Scores. Das wissen alle, die uns zuhören, die uns kennen. Und die DGK – da wird es vielleicht interessant, wo man auch mal wieder voneinander lernen kann – bringt natürlich ihre kardiologischen Scores mit. Das ist jetzt auch nicht überraschend. Das war schon immer so, jeder hat so seine eigenen Scores, in die er verknallt ist. Und die sagen jetzt in dieser Kritik, es gibt die risikofaktorgewichteten Clinical Likelihood Modelle, also kurz RF-CL, die werden seit 2020 von den Kardiologen mehr oder weniger eingeführt. Und da kommen die her und sagen, das ist natürlich erst mal sehr eindrucksvoll und sagen: Boah, Riesenkohorten, 50.000 Leute, da ist schon statistisch allein eine Menge möglich und sie argumentieren nicht nur mit der Größe, sondern vor allem – und das ist der Unterschied beispielsweise zum Marburger Herz-Score. Der Marburger Herz-Score ist ja diskret mit diesen fünf Score-Punkten. Und der ist eben kontinuierlich, diese RF-CL-Modelle, die geben dann wachsende Prozentangaben an und vor allem haben die in diesem Modell auch andere Risikofaktoren mit drin für eine KHK. Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie, Rauchen als ganz großer unabhängiger Risikofaktor. Was spricht gegen so ein Modell?

Scherer: Dagegen spricht erst mal gar nichts. Also die Modelle haben ihre Berechtigung. Aber eben nicht überall. Also diese Risk factor-weighted clinical likelihood models, wie sie etwa in der ESC-Leitlinie auch empfohlen werden, Herr Nößler, die sind für den kardiologischen Spezialbereich gemacht. Also für Patienten mit bereits erhöhter Vortest-Wahrscheinlichkeit, wo schon eine Untersuchung gelaufen ist, die überwiesen wurden. Und das sieht man dann auch an den Zahlen. Also die wurden in großen Kohortenstudien validiert, aber eben aus kardiologischen Registern.

Nößler: Also bei denen war es schon bekannt.

Scherer: Richtig. Und das waren nicht Patienten aus der hausärztlichen Erstpräsentation. In so einer Situation sind Modelle, die klassische Risikofaktoren wie Diabetes, Bluthochdruck, Rauchen einbeziehen, natürlich nicht spezifisch genug, um dann zwischen KHK und Nicht-KHK zu trennen. Der Marburger Herz-Score verzichtet ganz bewusst auf diese Risikofaktoren, weil sie dann breite, viel zu viele falsch positive Verdachtsfälle produzieren würden. Und stattdessen fokussiert er auf klinische Präsentation und sofort verfügbare Parameter. Das ist ja das Schöne.

Nößler: Genau, das klinische Bild.

Scherer: Und das immerhin mit einer validierten Aussagekraft von einem Area under the curve von über 0,85. Also es geht ja nicht um besser oder schlechter, sondern um passend oder unpassend für das jeweilige Versorgungsszenario. Und da ist im hausärztlichen Setting nur Modell wie der Marburger Herz-Score genauer.

Nößler: An dieser Stelle ein wichtiger Punkt: Dieses Modell der Kardiologen ist per se fein, sagen Sie, aber zwei Probleme: Wenn ich es validiere in einer Kohorte, die bereits die Diagnose haben, kann ich das 0,0 auf eine Kohorte umwenden, wo ich gerade mal vor „Verdacht auf“ bin und Diabetes-mellitus-Status, Hypertonie-Status kann ich nicht in zwei Minuten feststellen, außer ich habe eine ePA, die nicht bemüllt ist. Trotzdem, ich habe mal einen Vergleich gemacht. Ich habe einfach mal eine blöde Kasuistik gebaut: Mann, 85 Jahre, anamnestisch nichts am Herzen, die Beschwerden sind belastungsabhängig, es sind durch Palpation nicht reproduzierbar, es gibt diese kardiale Angst, diese Sorge, das könnte vom Herzen kommen. Familienanamnese machen wir mal negativ, ist jetzt nicht auffällig. Raucht auch nicht, hat selbst keine Dyslipidämie, weiß nicht, ob er einen Diabetes hat und weiß nicht, ob er einen Bluthochdruck hat. So. Da komme ich beim Marburger Herz-Score auf 3. Das sind 25 Prozent. Und da sagt der Marburger Herz-Score: Ganz klar, das ist ein mittleres intermediäres Risiko, du solltest eine CCTA machen oder funktionelle Diagnostik, wenn du willst, kannst du noch ein Belastungs-EKG reinfahren. Dieses RF-CL-Modell kommt auf 7,6 Prozent. Das nennt die dort low clinical likelihood. Und die Empfehlung ist dieselbe. CCTA oder wenn du willst, um das weiter zu adjustieren das Ergebnis, kannst du noch ein Belastungs-EKG machen. Das ist jetzt mal nur so eine kleine Anekdote dazu. Das ist doch hübsch.

Scherer: Aber das ist ein schönes Beispiel dafür, wie verschiedene Modelle zu ähnlichen Einschätzungen kommen können, wenn sie im richtigen Kontext angewendet werden. Und was heißt das jetzt?

Nößler: Das sagt mir Herr Prof. Scherer.

Scherer: Beides führen jetzt zu gleichen diagnostischen Konsequenz, aber auf unterschiedlichem methodischem Weg. Der Marburger Herz-Score verwendet symptomorientierte Parameter, die in der hausärztlichen Situation, haben wir gerade gehabt, immer gut verfügbar sind. Und das ESC-Modell hingegen rechnet stärker mit klassischen Risikofaktoren. Aber das kann eben auch dazu führen, dass junge oder atypische Verläufe übersehen oder überbewertet werden. Deshalb sagen wir, die DEGAM, wir, die Marburger – ich bin ja auch ein gebürtiger Marburger ...

Nößler: Und ein gelernter Marburger.

Scherer: Genau. ... die Modelle sind nicht Gegenspieler, sondern kontextabhängige Werkzeuge. Und wichtig ist, dass man weiß, was man gerade in der Hand hält und was das jeweilige Modell, was man in der Hand hat, leisten kann und was nicht.

Nößler: Ein Aspekt vielleicht noch dazu: Was ich gerade so beim Lesen – ich habe jetzt sehr wohl verstanden, RF-CL tolle Sache, aber für das Setting, über das wir hier reden, nämlich das Setting vor „Verdacht auf“ in dem Moment jetzt noch wirklich nicht gut anwendbar, aus verschiedenen Gründen, weil nicht validiert in dieser Kohorte. Gleichwohl, was ich spannend fand – und das betonen die Kardiologen sehr deutlich in ihrer Kritik, abgesehen dass er aufwendiger ist, er ist verfeinert kalibriert, er hat eben dieses Kontinuum in dem Scoring –, dass er verhältnismäßig mehr Menschen in ein sehr niedriges KHK-Risiko einsortiert. Das kommt dabei raus. Also Argument ist: Damit reduziere ich dann effektiv die Zahl unnötiger Folgeintervention. Also Sie hatten eben falsch positive Befunde. Es gibt in einer dieser Arbeit – ist alles in den Shownotes verlinkt – da heißt es, dass mit Risiko kleiner 5 Prozent, das ist dieses sehr niedrige Risiko, zwar 22 Prozent eigentliche KHK-Fälle übersieht, die aber eigentlich klinisch total blande verlaufen. Das ist doch eigentlich in Ihrem Sinne, Martin Scherer, unnötige Diagnosen vermeiden.

Scherer: Das ist es, das sollte in jedermanns Sinne sein. Der Marburger Herz-Score wurde entwickelt und kalibriert für nicht selektierte Patienten mit Brustschmerzen in der hausärztlichen Versorgung. Und das RF-CL-Modell wurde entwickelt und validiert anhand selektierter Patienten. Das ist es einfach.

Nößler: Jetzt noch mal, ich weiß nicht, ob ich die Frage schon gestellt hatte: Wäre es nicht noch mal die vierte Forschungsfrage: RF-CL mit Marburger Herz-Score Kollektiven vielleicht mal zu validieren? Ein Versuch einzustellen, ob das überhaupt sinnvoll ist? Die erste interessante Forschungsfrage.

Scherer: Wäre jetzt nicht meine primäre Forschungsfrage, die ich Ihnen für Ihre Doktorarbeit empfehlen würde.

Nößler: Das heißt, mein Antrag für die Dissi ist durchgefallen. Am 9. Mai, um 12:04 Uhr. An dieser Stelle, lieber Martin Scherer, Sie müssen aus dem Hotelzimmer raus, wir müssen zur Frühjahrstagung und wir müssen einen zweiten Teil unseres Gesprächs aufzeichnen.

Scherer: Da freue ich mich jetzt schon drauf.

Nößler: Dito. Wir haben jetzt acht Kritikpunkte jedenfalls mal besprochen. Ich würde sagen, vielen Dank bis hier hin. Vielen Dank, Ihnen allen da draußen, das ist eine Tortour. Das sind zwei Stunden Gespräch. Und das hat ja gerade erst angefangen. Also Chapeau an alle da draußen, die durchgehalten haben. Vielleicht auch noch mal ein Tipp: Wer das bis hierhin geschafft hat, E-Mail schreiben, wir gucken, was wir noch finden in der Wühlkiste, um irgendwelche Präsente rauszugeben. Wir zwei machen gleich weiter am Nachmittag mit der Episode 2, da geht es um die Metaphysik. Wie kann man nämlich wissenschaftliche Kritik zusammenbringen, in einen Streit bringen, damit noch bessere Leitlinien draus werden, und wir nicht über Podcasts und Papers miteinander streiten müssen. Und allen da draußen danke fürs Durchhalten und bis gleich!

Scherer: Bis gleich!

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