„EvidenzUpdate“-Podcast

Von der Molekularisierung des Hustens, oder: Was zählt noch die Klinik?

Die Onkologie macht es vor: Ein besseres biologisches Verständnis der Pathologie führt zu immer spezifischeren Therapien. Nun schlagen das Forscher auch für Atemwegsinfekte vor. Darüber sprechen wir im „EvidenzUpdate“.

Prof. Dr. med. Martin SchererVon Prof. Dr. med. Martin Scherer und Denis NößlerDenis Nößler Veröffentlicht:
EvidenzUpdate mit DEGAM-Präsident Martin Scherer

EvidenzUpdate mit DEGAM-Präsident Martin Scherer

© [M] sth | Scherer: Tabea Marten

Stellen Sie sich vor, Sie könnten mittels Biomarkern prüfen, ob eine Atemwegsinfektion voraussichtlich leicht oder schwer verlaufen wird. Sie hätten ein prognostisches Tool zur Risikostratifizierung. Und sie könnten auf diese Weise jene Patientinnen oder Patienten frühzeitig erkennen, die womöglich von einer intensiveren Therapie profitieren würden – weniger „Gießkanne“, mehr zielgerichtete Therapie.

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Was bei onkologischen Erkrankungen längst Alltag ist, schlägt ein Team von Forscherinnen und Forschern nun tatsächlich auch bei Atemwegsinfektionen vor, jedenfalls bei jenen auf der Intensivstation und mit einem erhöhten ARDS-Risiko. Ist das ein Paradigmenwechsel und die Abkehr von der klinischen Befundung? Das besprechen wir in dieser Weihnachtsepisode vom „EvidenzUpdate“-Podcast. (Dauer: 45:48 Minuten)

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Schreiben Sie uns: evidenzupdate@springer.com

Quellen

  1. AGI-Studiengruppe. ARE-Wochenbericht. 15 Dec. 2022.
  2. Schnack, Dirk. „Asklepios Fordert Mehr Einsatz von Den Praxen Im Norden.“ Ärzte Zeitung, 14 Dec. 2022, www.aerztezeitung.de/Nachrichten/System-vor-dem-Kollaps-Asklepios-fordert-mehr-Einsatz-von-den-Praxen-435104.html. Accessed 23 Dec. 2022.
  3. Maslove, David M., et al. „Redefining Critical Illness.“ Nature Medicine, vol. 28, no. 6, June 2022, pp. 1141–1148, 10.1038/s41591-022-01843-x. Accessed 23 Dec. 2022
  4. O’Connor, Raymond, et al. „Medical Management of Acute Upper Respiratory Infections in an Urban Primary Care Out-of-Hours Facility: Cross-Sectional Study of Patient Presentations and Expectations.“ BMJ Open, vol. 9, no. 2, Feb. 2019, p. e025396, 10.1136/bmjopen-2018-025396

Transkript

Nößler: In den Praxen herrscht Hochsaison, wie zu schweren Grippe-Saisons. Die Krankenhäuser, insbesondere die Kinderabteilungen warnen vor einem Kollaps, zeitgleich haben wir Lieferprobleme bei zig Arzneimitteln. Sind wir schon in der nächsten Krise? Oder anders gefragt: Wie kommen wir da wieder heraus? Und damit herzlich willkommen zu einer neuen Episode von Evidenzupdate Podcast. Wir, das sind:

Scherer: Martin Scherer

Nößler: Präsident der allgemeinen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der DEGAM und Direktor des Instituts und Poliklinik für Allgemeinmedizin am UKE in Hamburg. Und hier am Mikro Denis Nößler, Chefredakteur der Ärzte Zeitung aus dem Hause Springer Medizin. Moin nach Hamburg, Herr Scherer.

Scherer: Moin nach Neu-Isenburg, Herr Nößler.

Nößler: Moin. Guten vierten Advent gehabt?

Scherer: Mit Kerzen, Plätzchen, Tee und allem.

Nößler: Der richtige Klassiker.

Scherer: Genau.

Nößler: Ja. Ich falle mal mit der Tür ins Haus zu unserem Thema Krise: Wenn Sie zurückblicken auf die letzten drei Jahre und das, was wir da eigentlich hätten lernen können in der Pandemie, für wie resilient halten Sie unsere Gesellschaft, insbesondere mit Blick auf das Gesundheitssystem?

Scherer: Ja, die Corona-Pandemie hat uns deutlich gezeigt, wie verwundbar wir sind und welche Menschen davon besonders betroffen sind. Wenn Sie in die Zukunft gucken, dann stehen da andere Krisen vor der Tür. Die Klimakrise, die es schon seit längerem gibt, aber auch die massiven Auswirkungen des Angriffskriegs gegen die Ukraine mit allen Implikationen für Armutserfahrungen, für Ausgrenzungserfahrungen. Also um Ihre Frage zu beantworten, wie resilient ist unsere Gesellschaft, sie ist eben so resilient, wie sie zusammenhält und sie ist so resilient, wie sie es schafft, die Herausforderungen und die Aufgaben zu meistern, gerade was sie armutsfester macht, was sie gerechter machen kann. Also ich glaube, dass die Resilienz im Zusammenhalt liegt.

Nößler: Im Zusammenhalt. Hat der zugenommen oder abgenommen in den letzten drei Jahren?

Scherer: Das ist ganz schwer zu messen. Also die Polarisierungen haben gefühlt eine stärkere Spaltung gemacht, nicht nur im Politischen. Es gibt ja wirklich eine epidemiologische, es gibt ja wirklich auch eine Aufladung von bestimmten Begriffen, von medizinischen Begriffen, die polarisiert wurden. Je nachdem, wie man Risiko eingeschätzt hat, war man entweder auf der guten oder auf der falschen Seite. Je nachdem, ob man das Wort Pandemie in den Mund genommen hat oder Endemie, war man entweder auf der richtigen oder auf der falschen Seite. Also wir haben eine moralische Aufladung von wissenschaftlich geprägten Begriffen erlebt, eine moralische Aufladung von völlig normalen Haltungen und Ansichtsweisen und die Spaltung hat meines Erachtens eher zugenommen. Also das Zusammenhaltthema ist noch mal etwas völlig eigenes. Und nicht zuletzt haben ja die Öffentlich-Rechtlichen kürzlich eine ganze Themenwoche zu diesem Topic gemacht, was unsere Gesellschaft zusammenhält.

Nößler: Nehmen wir doch mal beide Begriffe in den Mund. Sie haben schon gesagt, dass es eine Kontrastierung gab, Polarisierung müsste man eigentlich sagen, je nachdem, ob man Pandemie oder Endemie gesagt hat. Wir wollen – nein, wir müssen über das Thema Atemwegsinfektionen reden, es ist nun mal sehr bestimmend im Moment in der Versorgungssituation. Und da kommen wir eben an SARS-CoV-2 nicht vorbei. Haben Sie den Eindruck, um noch mal mit der Tür direkt ins Haus zu fallen, dass sich die Coronavirus-Pandemie jetzt schon in eine endemische Situation hineinentwickelt hat?

Scherer: Na ja, eine Pandemie bedeutet ja, dass sich eine Krankheit weltweit rasant ausbreitet und das Ausrufen einer Pandemie obliegt der WHO, der Weltgesundheitsorganisation. Von einer Endemie spricht man eher dann, wenn die Krankheit einfach da ist, wenn sie fortwährend auftritt, wie in diesem Fall COVID-19. Also COVID wird nicht mehr verschwinden, COVID kann immer wieder vorkommen, wie zum Beispiel auch die Influenza, also die echte Grippe. Das heißt, die Menschen werden sich in einer Endemie weiterhin mit dem Coronavirus infizieren, aber das Virus kommt uns nicht mehr so gefährlich vor. Klammer auf, es ist nach wie vor gefährlich für Menschen mit einer fehlenden Immunkompetenz, aber wir sind eben in der Bevölkerung nicht mehr immunnaiv und insofern würden dann Ausbrüche vor allem lokal stattfinden. Die Zahl der Infektionen oder Krankheitsfälle in einer Region wären relativ gleichbleibend und es gäbe da nicht mehr diesen massiven Anstieg und dieses sich auch geografische Ausbreitungsphänomen.

Nößler: Also so klingt so ein bisschen nach beidem.

Scherer: Nein, ich würde im Augenblick schon sagen, dass wir in einer Endemie angekommen sind. Die Erkrankung ist da, Menschen infizieren sich nach wie vor, aber wir haben nicht mehr die massiven Spitzen.

Nößler: Okay. Thema heute ist ja generell das Phänomen der jetzt doch recht stark grassierenden Atemwegsinfektwelle. Das Robert Koch Institut spricht, wir kennen das ja alle, gemessen bei der Zahl der Arztbesuche beispielsweise, von einem Bereich der, Zitat: „Spitzenwerte schwerer Grippewellen“. Wenn man sich das in den Wochenberichten anschaut, sieht man auch, wie die Kurve wirklich krass nach oben zeigt. Es ist deutlich über den Vorjahren, was da abgeht, das wissen unsere Hörerinnen und Hörer aus dem Alltag. H3N2, Influenza und RSV, das sind die zwei, die dominieren. Und wir hören jetzt schon seit einigen Tagen immer wieder, ja, Weckrufe nenne ich es mal. Manche würden sagen, sie schlagen Alarm, insbesondere die Kinderabteilungen in den Krankenhäusern. Nehmen Sie das auch als Krise wahr, die momentane Situation?

Scherer: Ich habe jetzt extra für Sie mal das Wort Krise nachgeschlagen. Also was ich selber noch wusste, ist, dass es von dem lateinischen Wort Crisis abstammt, aber wie Krise wirklich belegt ist begrifflich, habe ich bei Wikipedia noch mal nachgeguckt. Sie verzeihen Wikipedia als Quelle, oder?

Nößler: Ist okay, solange wir es nicht verlinken müssen.

Scherer: Sie müssen es nicht verlinken. Also eine Krise, ich lese das mal vor, ist im Allgemeinen ein Höhepunkt oder Wendepunkt einer gefährlichen Konfliktentwicklung in einem natürlichen oder sozialen System, dem eine massive und problematische Funktionsstörung über einen gewissen Zeitraum vorausging und der eher kürzer als länger andauert. Sind wir jetzt schlauer? Also wenn Sie mich nach Krise fragen, dann ist mein Eindruck schon, dass die negativen Ereignisse doch oft sehr stark betont werden und dass Zustände im Grenzbereich oder im Belastungsbereich, gerade im Gesundheitssystem, jetzt anders öffentlich kommuniziert werden, als das früher war. Wir hatten früher auch mal volle Kliniken, wir hatten früher auch volle Intensivstationen, auch Belastungssituationen. Sie werden jetzt anders kommuniziert. Das ist mein ganz subjektiver Eindruck, aber Sie sind da der Mann der Medien und können das bestimmt noch ein bisschen besser einordnen als ich.

Nößler: Es gibt ja, bleiben wir kurz in Hamburg, auch vielleicht eher nur Pars pro toto, so einen Streit, der die letzte Woche, das haben die einen oder anderen vielleicht mitbekommen, da hochgepoppt war. Da schlugen die Kliniken Alarm, da haben wir es wieder, und sagten, das bricht uns hier gerade alles zusammen, die Menschen rennen in die Notaufnahmen hinein mit eben vor allem Atemwegserkrankungen und die Hausärzte sollen mal ihre Arbeit machen. So sinngemäß kam das an. Dann kam es naturgemäß zum Streit mit Hausärzteverband und KV und die haben das alles brüsk zurückgewiesen. Da ist schon so eine Empörungswelle auch mit drinnen, in diesen Krisen, oder? Wie beobachten Sie das?

Scherer: Ich weiß nicht mehr genau, Herr Nößler, welcher Jahresrückblick es war, aber in einem Jahresrückblick haben wir mal von einem Jahr der Empörung gesprochen.

Nößler: Das war 2020, oder?

Scherer: 2020 als Jahr der Empörung. Also das haben wir gut eingeübt, das sich empören und das Empörungspotenzial und sich gegenseitig dann übereinander zu empören, ambulant gegen stationär und stationär ambulant. Das macht meines Erachtens keinen Sinn, denn wir haben ein sektoral gegliedertes Gesundheitssystem, wir arbeiten alle innerhalb desselben Kontextes an unterschiedlichen Enden und im Grunde genommen handelt es sich da um zwei Seiten einer Medaille. Also dass man dann gegenseitig aufeinander schimpft, bringt überhaupt nichts. Und wir haben das auch ganz oft, wenn da irgendeine junge Klinikärztin oder ein junger Klinikarzt ist und dann sagt: „Ja, das hätte aber Ihr Hausarzt oder Ihre Hausärztin sehen müssen. Was machen die nur?“, und das erlebt man immer wieder mal, muss man, glaube ich, zurückfinden zu einer neuen Form der Kollegialität. Und was Sie ansprechen, ist eigentlich das gleiche Phänomen, ambulant gegen stationär, nur auf so einer politischen Ebene. Das ist nicht meine Welt und bringt meines Erachtens auch nichts.

Nößler: Sagt der Wissenschaftler Scherer.

Scherer: Fördert auch nicht unbedingt den Zusammenhalt.

Nößler: Ja. In der Berufspolitik weiß man ja, es geht immer auch um Interessen. Und wenn man das zumindest mal zur Kenntnis nimmt, kann man vielleicht die eine oder andere Schlagzeile schon mal ein bisschen vorsortiert einordnen, wir wissen, es steht eine Krankenhausreform an und dann kann man eigentlich einfach nur drei Pünktchen dahinter setzen. Noch mal kurz zur Krise, bevor wir wieder Richtung Atemwege zurückkommen: Wir haben eine andere Krise. Die KBV hat an diesem Montag von einer echten Krisensituation gesprochen. Da ging es um das Thema Arzneimittellieferengpässe. Und da wissen wir, das BfArM listet im Moment so um die 320, 330 glaube ich, an der Zahl und eben auch ganz eklatant eben auch Fiebersäfte, die man bei den Kids braucht. Ist das eine Krise?

Scherer: Also ich nehme noch mal die Definition von eben, der Höhepunkt oder Wendepunkt einer gefährlichen Konfliktentwicklung. Das ist es sicher nicht, aber natürlich möchte das niemand erleben, dass man in die Apotheke kommt und für sein Kind keinen Fiebersaft erhält. Das will man nicht haben. Aber eine Krise ist noch mal ein Stadium der Notlage, das noch mal eine Stufe dramatischer ausfällt.

Nößler: Vielleicht eine protokollarische Notiz an dieser Stelle für alle Zuhörerinnen und Zuhörer, warum wir jetzt so ein bisschen auch auf das Thema Krise abheben und die Entwicklungen, die es so gibt und die Art, wie diese Entwicklungen auch beschrieben werden medial und dann jetzt gleich zu den Atemwegen, zu der Situation kommen, hat natürlich ein Stück weit auch damit zu tun, wie eine Darstellung unsere Wahrnehmung auch beeinflussen kann, nicht wahr? Also das haben wir ja erlebt.

Scherer: Und wie Dinge konnotiert sind. Nehmen Sie das berühmte „wir schaffen das“. Man hätte auch sagen können oh Hilfe, die Flüchtlingswelle überrollt uns. Haben manche ja auch gesagt, politisch ein bisschen anderes Spektrum, nicht meins. Je nachdem, wie man die Dinge konnotiert, als bewältigbare Herausforderung, die vielleicht dann auch den Zusammenhalt fördert, wir halten zusammen und kriegen das irgendwie hin, oder als schwarzes Szenario, was da in ganz dunklen Farben gemalt wird. Das haben wir eingeübt in der Pandemie, das meine ich schon. Und wir haben das, wenn Sie sich erinnern, Herr Nößler, das ganze mediale Gebaren haben wir auch einmal durchanalysiert mit verteilten Rollen. Da waren Sie der Experte und ich Ihr Gesprächspartner. Da müssen wir ein Stück weit von weg.

Nößler: Dass ich der Experte bin?

Scherer: Nein, von dem auf negative Aspekte ausgerichteten Schlagzeilen Verhalten.

Nößler: Das Konnotieren der Dinge, das ist der Punkt. Und ja, wir haben es eingangs zitiert: Was aus den Krankenhäusern zurückgespiegelt wird, die Belastungssituation dort, da gibt es Beispiele, wo die Abteilungen einfach voll sind und dann kann da niemand mehr behandelt werden, und jetzt vielleicht ein interessanter Bogen, der sich daraus ergibt, wenn wir zurückkommen zu den Atemwegserkrankungen. Sie haben für die heutige Episode einen interessanten, ich sage mal, Aufsatz, Perspective-Artikel herausgesucht aus Nature Medicine. Da geht es um redefining critical illness am Beispiel von intensivpflichtigen Atemwegserkrankungen, ARDS ist hier genannt. Da beziehen sich die Autoren unter anderem eben aus Erfahrungen aus der Onkologie, TMN, und überlegen, wie sich die Behandlung verändern könnte auch in dem Bereich. Als ich das so überflogen habe, diesen Aufsatz, war ich ein bisschen ratlos hinterer, was ich damit jetzt anfangen soll. Wie ist Ihnen das ergangen?

Scherer: Ganz ähnlich. Es wird aufgehängt an einem Fall einer 66 Jahre alten Frau, die in die Klinik eingewiesen wird mit Fieber, Husten, Atemschwierigkeiten. Sie wird dann mit einem beidseitigen Lungeninfiltrat diagnostiziert und muss dann auch schnell intubiert, beatmet und auf die Intensivstation verlegt werden. An diesem Beispiel machen die Autorinnen und Autoren die Notwendigkeit eines konzeptionellen Umdenkens fest. Die sagen, dass die Forschung und die Praxis in der Intensivmedizin seit langem durch Syndrome definiert ist und diese Syndrome oder Symptomkonstellationen eigentlich sehr heterogene Zustände sind, die sehr unterschiedlich auf eine Therapie ansprechen können, was ja nicht falsch ist. Und dann sagen sie, dass auf der anderen Seite es aber ganz viel translationale Evidenz gibt, die zunimmt, wie zum Beispiel bei ARDS, dem Acute respiratory distress Syndrom und wir gerade bei dem Coronavirus SARS-CoV-2 gesehen haben, dass der aktuell syndrombasierte Rahmen solcher gefährlichen Zustände überdacht werden sollte. Also sie sagen, dass man sich in Zukunft weniger auf Syndromale beziehen sollte, sondern sich mehr auf die zugrunde liegenden biologischen Veränderungen konzentrieren sollte, die kritische Krankheitszustände untermauern und die einer Behandlung zugänglich sein könnte. Also da geht es dann um Biomarker und um, wenn Sie es so wollen, um es plakativ auszudrücken, eine Molekülarisierung der Medizin.

Nößler: Also das, was wir ja durchaus in anderen Gebieten schon erleben, wo man sehr, sehr/ also Onkologie wurde ja genannt, ganz tief eigentlich auf Treibermutationsebene Behandlungsregime dann entwickelt. Und habe ich das wirklich so richtig auch verstanden, dass sie überlegen, das eben auch bei solchen Atemwegserkrankungen so zu machen? Das war bei mir nämlich hängen geblieben.

Scherer: Was sie sagen ist, es gibt eben Biomarker wie zum Beispiel der Toll Lke Rezeptor, der TLR, und dass man anhand dieses Rezeptors eben erkennen kann, wie die Entzündungswege sind, welche Auslöser da vorkommen, sowohl exogen, zum Beispiel ein bakterielles Endotoxin, als auch endogen, zum Beispiel Häm oder Hyaluronsäure. Also tatsächlich wurde die Hochregulierung von solchen TLR-Rezeptoren durch Genexpressionsprofilierungen sowohl bei Traumata als auch bei Sepsis identifiziert. Und was jetzt die Autoren sagen, man muss da tiefer reinschauen in diese grundlagennahe, translationale Forschung und jetzt nicht gerade warten, was sich auf syndromaler Ebene tut, sondern schon tiefer in der Pathophysiologie ansetzen.

Nößler: Das klingt ja so ein bisschen eigentlich nach der Idee, dass wir tatsächlich die Medizin, wenn wir diesem Weg folgen würden, komplett unter das Mikroskop packen.

Scherer: Na ja, es kommt da eben darauf an. Wenn man davon ausgeht, dass es zum Beispiel unterschiedliche Subgruppen gibt, die eine unterschiedliche maladaptive Hochregulierung dieses TLR-Signalwegs haben, dann sagt man okay, die einen, die eine Hochregulierung haben, die maladaptiv ist, die spricht vielleicht von einer bestimmten Therapie besser an oder profitiert von einem bestimmten Ansatz besser, obwohl ihr Krankheitszustand durch eine andere Verletzung entstanden ist. Also im Grunde genommen wird es eine klinische Studie erfordern, in der die Patientinnen und Patienten dann prospektiv eingeschlossen werden auf der Grundlage eines behandelbaren Merkmals, in diesem Fall eben diese TLR-Hochregulierung, und dann eben nicht auf der Grundlage eines klinischen Syndroms wie Sepsis oder Trauma oder was auch immer. Also gemischte Gefühle trifft es auf jeden Fall. Es wäre auf jeden Fall in gewisser Weise auch ein Paradigmenwechsel, wenn sich dieser Ansatz durchsetzt, aber auf jeden Fall braucht man auch dafür randomisiert kontrollierte Studien, kontrollierte Designs, in denen unterschiedlich Grundlagenbefunde dann auch einem standardisierten wissenschaftlichen Vorgehen zugeführt werden. Im Augenblick sind wir davon noch ein Stück weit weg, aber die Biomarker-Verliebtheit, die gibt es. Die gibt es auch bei der Demenz. Denken Sie an das Tau-Protein und viele andere Marker, die da auch prädiktiv sein können für die Entwicklung oder den Verlauf einer Demenz, wo man lange Zeit gesagt hat: Was hat das eigentlich für eine therapeutische Konsequenz, außer dass die Menschen jahrelang in Angst leben?

Nößler: Ja, das ist dann das große Thema wahrscheinlich, Herr Scherer, auch wenn es unterschiedliche Indikationen, unterschiedliche Erkrankungen sind, wo es immer wieder auch um die Frage geht, Laborwerte behandeln oder eigentlich Erkrankungen, oder?

Scherer: Ganz genau. Und da kommt es dann natürlich darauf an, dass man dann die unterschiedlichen Krankheitsformen, Krankheitsstadien sich anschaut. Also natürlich ist das noch mal ein Unterschied, ob es jetzt um das Frühstadium einer Demenz geht oder um eine Situation im stationären Kontext, wo es darum geht, eine frühe Verschlechterung abzugreifen und da schon mal die Pathophysiologie als Frühwarnsystem zu nutzen. Also das sind natürlich unterschiedliche Kontexte der Biomarker, aber auf jeden Fall eine interessante Entwicklung und ein möglicher Paradigmenwechsel in der Medizin und deshalb dachte ich, ich bringe das Nature Paper heute mal mit.

Nößler: Ist ja auch total spannend. Wenn man das liest hat man auf der einen Seite das Gefühl, da versuchen sich die Autoren, und das ist eine ziemlich heftige Liste an Autoren, sich ein bisschen auf einer metaphysischen Ebene zu bewegen, dann sehr krass Grundlagenforschung, wo man erst mal den Überblick behalten will, aber dann eben doch auch mit einer, ich sage mal, Allerweltserkrankung, die natürlich zu einem fürchterlichen Verlauf führen kann, nämlich in dem Fall hier eine Intensivpflicht. Mal Hand aufs Herz, Herr Scherer, wenn wir von dem Abwenden eines wirklich schweren Verlaufs reden, also das ist ja das, was hier beschrieben ist, die 66-Jährige, die ein ARDS entwickelt und wenn man dann mit Evidenz irgendwann herausfände, über TLR-Expression, über diese Pathways, whatever, kann man vielleicht eine bessere Therapieentscheidung treffen, die im Zweifel mehr Leben rettet, dann kann ja keiner etwas dagegen haben.

Scherer: Kann man sicher nichts dagegen haben, im Gegenteil. Solche Erkenntnisse müsste man dann natürlich nutzen, alles andere wäre unethisch. Auf der anderen Seite, je mehr Laborwerte es gibt, je mehr Biomarker es gibt, desto mehr stellt sich dann natürlich auch wieder die Frage: Wie hoch ist number needed to screen? Wie verhält es sich mit Spezifität und Sensitivität?

Nößler: Ja.

Scherer: Wie groß ist die minimale, klinisch relevante Differenz und solche Dinge. Also wir sind dann wieder in den Gefilden unserer Standardfragen und da bricht sich das dann alles wieder runter, weil das menschliche Denken und Erfassungsvermögen, KI blende ich jetzt mal aus, ist begrenzt und wir haben schon genug damit zu tun, uns mit dem was sichtbar ist zu befassen, mit der Anamnese, der körperlichen Untersuchung, also dem, was wir wahrnehmen können. Und wenn dann jetzt noch eine Vielzahl von anderen Parametern und Faktoren und Biomarkern dazukommt, was ja in der Vergangenheit auch der Fall war und viele davon waren ja extrem hilfreich, müssen natürlich all diese Biomarker, gerade dann wenn sie Implikationen für bestimmte Therapieentscheidungen haben sollen oder für bestimmte Weichenstellungen in dem Gesundheitssystem, müssen die natürlich einer wissenschaftlichen Überprüfung im Sinne einer Effectiveness-Study unterzogen werden mit jeweils zwei Gruppen unter Alltagsbedingungen. Das sind einige Jahre an Forschung, die es dann braucht.

Nößler: Genau. Und dann eben die Forderung, die halt immer wieder aus dem Munde eines DEGAM-Präsidenten kommt: Dann muss sie halt auch harte klinische Endpunkte beweisen können.

Scherer: Ganz genau. Wenn ich dann so einen Biomarker habe und unterschiedliche TLR-Signalübertragungen oder Regulationsphänomene untersuche und da dann Gruppen bilde, die vielleicht dann auch unterschiedliche Therapieansätze kriegen, dann muss eine von beiden klinisch besser dastehen, und zwar klinisch messbar und auch klinisch relevant.

Nößler: Klinisch relevant. Bei der Befürchtung, dass wir die Medizin laborisieren, molekularisieren und das Klinische dadurch im Zweifel ein Stück weit verdrängt wird, vielleicht ist verdrängt zu stark, aber vielleicht auch übertüncht wird, könnte da nicht auch das Risiko mit einhergehen, wenigstens latent, Herr Scherer/ Wir reden hier zunächst mal über eine Atemwegserkrankung oder einen Atemwegsinfekt, die in den meisten Fällen ja selbstlimitierend verlaufen. Kann da nicht auch das Risiko mit einhergehen, dass wir anfangen, eine Sache zu, ich sage mal, wirklich vorsichtig zu über pathologisieren? Oder vielleicht anders formuliert, dass wir damit auch neue Heilsversprechen wecken, die im Zweifel sich nie werden so einfach erfüllen lassen?

Scherer: Ja, das ist genau die Gefahr und das ist auch der Stoff, aus dem Überdiagnostik und Überversorgung gemacht ist, dass man eben zu viel tut, dass man vielleicht auch zu viel falsche Medizin macht. Und das ist ja genau das, was wir immer wieder thematisieren, dass wir sagen, bitte geht doch in eurer Diagnostik, in eurem Vorgehen stufenweise vor, begrenzt die Diagnostik an einem Punkt, wo ihr keinen harten Befund habt, sagt: Okay, ich habe jetzt eine ausführliche Anamnese und körperliche Untersuchung gemacht, ich habe jetzt keinen harten Befund. Ich habe vielleicht ein Basislabor gemacht, dann wird ein Reassesment gemacht, eine Wiedereinbestellung. Das ist auch die Art und Weise, wie ich das den Studierenden immer wieder erkläre, dass man sagt es ist gut, dass man das ganze Portfolio an Diagnostik hat, aber es schrittweise nutzen, es indikationsgerecht nutzen und das ist dann letztlich auch, ja, das Wort Kunst will ich jetzt mal benutzen: Das ist dann schlichtweg auch die Kunst, dass jeder genau so viel Medizin kriegt, wie er braucht und dass keiner zu wenig Medizin kriegt und auch keiner zu viel und auch keiner die falsche Medizin. Was Sie eben angesprochen haben, die Molekularisierung der Medizin oder die Laboratisierung der Medizin, das hat Uli Weigelt mal sehr schön in einer Rede auf den Punkt gebracht und ich kann das hier gerne wiedergeben. Das ist bestimmt zehn Jahre her, da hat er gesagt: Bei dem holistischen Ansatz (sprechende?) Medizin, körperliche Untersuchung, Anamnese, wird der Patient so lala oder werden die Leistungen so lala vergütet. In dem Moment, wo der Patient auf ein Röntgenbild reduziert wird, es zweidimensional wird, gibt es schon ein bisschen mehr. In dem Moment, indem der Mensch auf ein Molekül reduziert wird, dann gibt es gleich noch mal mehr Vergütung. Das ist jetzt zehn Jahre her das Zitat, vielleicht habe ich es auch verkürzt wiedergegeben, es zeigt aber, dass diese Diskussion, was ist eigentlich wichtig, wo geben wir unsere Ressourcen hin, welche Ansätze unterstützen wir auch pekuniär, auch finanziell, welchen Stellenwert hat die sprechende Medizin, was bedeutet eigentlich Spezialisierung auf den ganzen Menschen, und das ist eine Diskussion, die gibt es schon länger und ja, dieses Nature Paper hier packt diese Diskussion am Schopfe und dreht es einfach mal um in Richtung Grundlagenforschung.

Nößler: Machtübernahme durch die Grundlagenforschung.

Scherer: Ja, so könnte man es als Blockbuster-Titel umformulieren.

Nößler: Dann haben wir wieder die zugespitzten Headlines und dann schließt sich der Kreis zum Anfang unseres Gesprächs.

Scherer: Genau, eine Krise.

Nößler: Eine Krise. Noch mal anders geschaut auf die momentane Infektwelle, die wir da erleben, die/ Über die Immunologie und Stichwort Immungedächtnis wollen wir jetzt gar nicht so tief sprechen. Da liegen ja Hypothesen auf der Hand, warum das jetzt so exazerbiert. Kann ich im Zweifel auch tatsächlich dieses/ Oder anders formuliert, Herr Scherer: Wir haben jetzt drei Jahre gesellschaftlich vielleicht eine Erinnerung entwickelt, die besagt, eine Atemwegsinfektion, Klammer auf, SARS-CoV-2, Klammer zu, kann etwas potenziell Fürchterliches sein. Und wir haben immer wieder diese tragischen Fälle gesehen und über Intensivbetten und Todesfälle gehört. Und wenn man das vielleicht so als kollektives Gedächtnis dann mitnimmt aus so einer Pandemie heraus und das Ganze immer so in diesem Krankenhaus-Setting geframet ist, ich nehme mal diesen PR-Begriff, kann das nicht eben auch dazu führen, Stichwort Heilsversprechen, dass damit ein Umdenken, vielleicht sogar in negativer Form, Stichwort Gesundheitskompetenz, stattfindet und dass dieses Rennen ins Krankenhaus mit einem Infekt einfach eben nur der Wunsch ist, dass da ein Heilsversprechen aufgelöst werden kann?

Scherer: Na ja, es gab ja knapp vor der Corona-Pandemie in 2019 eine Arbeit von O‘Connor et al., die sich das mal ein bisschen angeschaut haben. Die wollten die Erwartungen von Patientinnen und Patienten untersuchen, die in eine städtische Einrichtung, ich sage mal, der erweiternden Basisversorgung auch gegangen sind, und zwar außerhalb der normalen Öffnungszeiten, schon eher zu Notfallzeiten, abends, am Wochenende, feiertags. Und die haben sich angeguckt in einem querschnittlichen Design: Was wollten die eigentlich? Was war eigentlich das Ziel? Eine normale Fragebogenstudie. Das waren so 450 Patientinnen und Patienten, die dann einen Fragebogen ausgefüllt haben, ist im BMJ Open erschienen. Und circa die Hälfte der Leute, die da gefragt wurden, die also wirklich auch mit den Symptomen einer akuten respiratorischen Infektion da hingekommen sind, die Hälfte der Befragten, das waren vornehmlich weibliche Teilnehmer, 40 Prozent waren männliche Teilnehmer, die Hälfte der Befragten wollten Beruhigung haben, Beruhigung, Informationen, vielleicht ein paar Medikamente gegen den Husten, die Frage, brauche ich weitere Untersuchungen, das war es dann. Informationen, dann so eine Art Rückversicherung haben: Muss ich noch irgendwas machen und wie sieht es mit Medikamenten aus? Und nur ein Drittel der Patientinnen und Patienten wollen ein Antibiotikum. Wenn ich mir jetzt die aktuelle Infektwelle anschaue, dann ist es genau das, was die Menschen wollen: Sie wollen nichts verpassen. Sie wollen wissen, was kann ich tun. Dann sind das alltagspraktische Fragen: Gibt es Symptomlinderungsmöglichkeiten? Darf mein Kind in die Kita? Darf ich arbeiten? Also die klassischen alten Fragen, sage ich mal in Anführungszeichen, die eigentlich für generische Ansätze sprechen. Deshalb fand ich es eigentlich ganz gut, dass wir heute mal so diesen sehr grundlagenbasierten, wohlgemerkt auch für Intensiv-Setting gedachten Ansatz dem gegenüberstellen, also: Was wollen die Leute eigentlich? Sie wollen Informationen, eine Rückversicherung und sie wollen Linderung und: Was muss ich jetzt eigentlich praktisch beachten?

Nößler: Also aus dieser Arbeit da in Irland, vor der Pandemie haben Sie gesagt, geht eben nicht hervor, dass sie jetzt alle irgendwie eine Biomarker-Diagnostik haben wollen, sondern sie wollen, dass ihr Leiden gelindert wird, Punkt.

Scherer: Korrekt, ja. Und ich meine, wenn wir in diese Zeit auch noch mal ein bisschen zurückleuchten, Herr Nößler, worum ging es denn eigentlich noch im Jahr 2019? Das ist jetzt gerade mal wie viele Jahre her? Drei, vier Jahre?

Nößler: Ja, das sind dann über drei Jahre mittlerweile.

Scherer: Ja. Worum ging es denn da noch bei einer akuten Atemwegsinfektion? Ging es da groß um diagnostische Einordnungen? Ich habe da damals immer so das Schema benutzt, also die Leute wollten immer wissen: Habe ich eine Grippe oder ist es eine normale Erkältung? Das war es immer so. Ist es eine Virusinfektion, also eine von den 200 verschiedenen Adeno- und Rhinoviren oder ist es eine echte Influenza? Es gibt da ja auch den grippalen Infekt noch so als begriffliche Brücke.

Nößler: Das kann man ja am Verlauf festmachen, wie schnell es kommt.

Scherer: Ja. Und da gibt es einen ganz einfachen Algorithmus. Ich glaube, auf krank.de habe ich den mal gefunden oder so.

Nößler: (lacht) Das gibt es? Krank.de?

Scherer: Ja, krank.de. Ja. Fühlen Sie sich wie vom Zug überfahren? Ja oder nein. Also bei ja auf die Frage, wurden Sie von einem Zug überfahren, wenn da jemand ja sagt, dann heißt es, ja, dann wurden Sie eben von einem Zug überfahren. Wenn Sie sich wie vom Zug überfahren fühlen, aber nicht von einem Zug überfahren wurden, dann haben Sie eine echte Grippe. Das war so das, ja? Und da sind wir tatsächlich syndromal oder symptomatologisch vorgegangen. Wir haben da nicht groß Diagnostik gemacht. Wir haben das auch immer wieder mal thematisiert, als das mit den Tests bei COVID losging, diese ganze Testitis und Testerei. Da haben wir hin und wieder mal angesprochen: So läuft es eigentlich in der klassischen Allgemeinmedizin nicht, diese ganze Testerei, sondern wir haben uns in der Unterscheidung von Erkältung und Grippe haben wir uns eigentlich mehr die Symptomkonstellation angeguckt. Und dann war das so, Sie erinnern sich noch an die guten alten Grippezeiten, die Grippe ist ja in 2020 mehr oder weniger ausgefallen, plötzlicher Beginn meist sehr hohes Fieber, dauert drei bis vier Tage, das Fieber, starke, ausgeprägte Kopfschmerzen, manchmal Halsschmerzen, häufig sehr starke ausgeprägte Gliederschmerzen, bereits zu Beginn trockener Husten und diese ganzen Symptome, die treten doch sehr massiert auf. Wenn man dann so Kurven aufmalt mit Symptomstärken und Zeitverlauf und dann unterschiedliche Linien nimmt, eben für Fieber, Kopfschmerzen, Halsschmerzen, Gliederschmerzen, Husten, dann findet man eine Kumulation bei der Grippe, so ziemlich alles auf einmal am Anfang. Und deshalb fühlt man sich da auch wie von einem Zug überfahren. Und bei der Erkältung, naja, da reden wir eben auch von einem Sammelsurium, von einer Vielzahl unterschiedlichen viralen Erkrankungen, meist mäßig, unter 38,5 Grad Fieber, manchmal so ein bisschen Kopfschmerzen, häufig Kratzen im Hals, manchmal Gliederschmerzen und im Verlauf dann so ein bisschen Husten, eher eine milde Abgeschlagenheit. Man ist dann nicht so geplättet wie bei einer Influenza. Und das war im Grunde genommen das, wie wir früher agiert haben. Wir haben dann eine körperliche Untersuchung gemacht, eine gute Anamnese, haben die abwendbar gefährlichen Verläufe abgecheckt. Dann durfte man keine Pneumonie übersehen oder andere abwendbar gefährliche Verläufe und dann haben wir es symptomatologisch eingeordnet und gesagt so ja, das spricht jetzt eher dafür oder dafür. Aber eine genau Diagnose brauchen wir eben nur dann, wenn sich daraus ein abweichendes Vorgehen ergeben würde. Aber da wir für die unkomplizierten Virusinfekte keine spezifische Therapie anbieten können und es auch keinerlei Goldstandard gibt, ist es eigentlich für den Laien unerheblich, zu wissen, was das jetzt genau für ein Virus ist. Und ganz ehrlich, Herr Nößler, was sich da tummelt in den Rundzonen der respiratorischen Viren, wie die sich verändern und weiterentwickeln, was sich da in der Pathogenität tut, das wissen wir alles überhaupt nicht. Müssen wir vielleicht auch nicht wissen, solange wir es händeln können.

Nößler: Das ist zunächst wahrscheinlich mal interessant für die Referenzlabore, über die Sentinel-Praxen zum Beispiel.

Scherer: Ja. Also das ist praktisch die Zeit, aus der wir kommen. Und jetzt kann man eigentlich den Bogen schließen von Pandemie und Endemie. Sie haben mich am Anfang nach der Pandemie gefragt. Da ist ein völlig neuer Ansatz dann plötzlich reingekommen. Jetzt haben wir ein Virus als Indexerkrankung, den es zu identifizieren gilt und zu vermeiden gilt. Jetzt sind wir in der endemischen Phase und die Notwendigkeit der Identifikation dieses Virus rückt wieder in den Hintergrund und jetzt kommen wir eigentlich zu dem hermeneutischen Kreisschluss. Im Grunde genommen gehen wir wieder etwas mehr in das Management, wie wir es 2019 hatten und wie ich es eben skizziert habe.

Nößler: In das allgemeine klinische Abarbeiten. Aber haben Sie Befürchtungen, um noch mal diesen Nature-Artikel mit einzubauen, wie gesagt, ein sehr spezieller Artikel, der wird natürlich verlinkt, ohne Frage. Aber haben Sie Befürchtungen, dass/ ja, auf der einen Seite, wir sollten jetzt eigentlich zu dem zurückgehen, wie wir 2019 gearbeitet haben, weil wir haben bislang keine Kenntnis, dass eine andere Arbeitsweise eine bessere wäre. Haben Sie Sorge, dass da ein bisschen etwas hängen bleibt von dem, wie wir in den letzten drei Jahren das erlebt haben?

Scherer: Ich glaube, dass die Medien, sowohl die Internet-Medien als auch die Printmedien als auch die Talkshows und das Fernsehen hierbei eine wichtige Rolle spielen. Je nachdem, wie sie die Sachen konnotieren, je nachdem, wie sie die Themen hochjubeln und damit wieder das Expertentum fördern, spielen sie dabei eine sehr wichtige Rolle. Also es kommt einfach darauf an, was man zur Krise erklärt, wie man Dinge einordnet, ob man aus jeder Belastungssituation einen Alarm macht oder ob man sagt, man behält sich den Alarm völlig ausgewählten Situationen vor. Also erlauben Sie mir diesen kleinen Sidestep, aber diesen Handy-Probealarm vor zwei Wochen, das fand ich eine gelungene Sache. Da weiß man ganz genau, wenn das losgeht, das Handy, dann ist Matthäi am Letzten oder wie auch immer, dann handelt es sich um eine gefährliche Bedrohung. Und was die Kommunikation von Risiken und Gefahren anbelangt, jetzt mal unabhängig von diesem Handyalarm, so in diesem Krisenalltagsgeschäft, ja, da haben wir tatsächlich eine Kommunikationsbaustelle. Was ist eine Krise und was ist keine Krise? Was können wir gut händeln und wo muss man vielleicht einfach nur die Ärmel hochkrempeln?

Nößler: Und damit widmet Martin Scherer diese Episode eben auch der journalistischen Zunft. Das können wir ja jetzt auch mal so mitnehmen.

Scherer: Ja, sagen Sie doch mal etwas dazu als Journalist.

Nößler: Ja, da hat Herr Scherer schon Recht. Da dürfen wir Medienschaffenden uns regelmäßig auch mal selbst hinterfragen, inwieweit wir zu Krisen vielleicht auch beitragen oder Krisen zu Krisen erst machen. Quizfrage zum Ende hin, Herr Scherer: Wissen Sie eigentlich oder haben Sie es irgendwann mal gelesen oder gehört, warum es Eilmeldungen gibt, warum man das mal erfunden hat?

Scherer: Damit die Online-Redaktionen wissen, warum sie sich so beeilen müssen beziehungsweise, um auch der Geschwindigkeit von Online-News Rechnung zu tragen?

Nößler: Leider ist es so geworden, aber das ist tatsächlich überhaupt nicht der ursprüngliche Grund gewesen. Eilmeldungen kommen aus der Agenturwelt. Und früher war es so, als die Agenturnachrichten noch über Telex kamen, das waren ganz kleine Bänder, wie so ein altes Telegramm, vielleicht kennen Sie das, wo da eine Zeile auf einer Papierspur rauskam, rausgetickert, tick, tick, tick, tick, tick, und da wurden die Nachrichten wirklich sequenziell über diesen Telefondraht übertragen. Und dann mussten diese Nachrichten, die übertragen wurden an die Redaktionen, die wurden halt der Reihe nach abgetickert und das dauerte teilweise sehr lange und dann hatte man vielleicht eine Pipeline von zwei, drei Stunden, wo dann erst mal die Nachrichten getickert werden mussten. Und wenn wirklich etwas Wichtiges passiert ist, was so wichtig war, dass die Redaktionen das schnell wissen mussten, um ihre Dispo zu ändern, da hat man dann diese Eilmeldung erfunden und dann wurden diese Nachrichten nach vorne gezogen und wurden zuerst getickert. Daher kam das. Und das hatte damals auch einen guten Grund. Das braucht man ja heute nicht mehr, weil heute kann man ja alles gleichzeitig irgendwie übermitteln. Das war also wirklich nur ein redaktionelles Hilfsmittel, damit die Redaktionen zeitnah vor Redaktionsschluss erfahren: Da ist etwas Unerwartetes passiert. Und tatsächlich ist es aber so geworden, wie Sie gerade beschreiben, dass Eilmeldungen eigentlich nur noch dazu da sind: Wer hat schnell wieder Nachrichtenkonsum anzubieten?

Scherer: Ja, genau. Genau. Ja, den Liveticker habe ich zuletzt Sonntagabend benutzt bei dem Spiel Argentinien gegen Frankreich.

Nößler: Ich habe die Sportschau genutzt und es war phänomenal am Ende.

Scherer: Tja.

Nößler: Also darauf können wir uns mal einigen.

Scherer: Hier haben wir einen Konsens.

Nößler: (lacht)

Scherer: Auf jeden Fall ein Ereignis, das man in dem Jahresrückblick 2022 erwähnen wird. Und damit wären wir doch eigentlich fast bei dem Cliffhanger.

Nößler: Das klingt mir ganz eindeutig nach dem Cliffhanger: Jahresrückblick. Wann und was und wie?

Scherer: Also so ein Jahresrückblick, der bringt ja so mit sich, dass man meistens vorne anfängt und hinten aufhört. Und dann werden wir bestimmt über Omikron sprechen, über die COVID-Dramatik, die sich doch relativ schnell schon abgeschwächt hat Anfang des Jahres. Dann gab es unsere Corona-Leitlinie, im 23. Update das Thema impfen, die Hitzewelle. Paxlovid ein riesen Thema und so weiter. Also im Herbst dann Krisenstimmung in der Hausarztpraxis, weniger Corona, aber gesellschaftliche Themen, gesellschaftliche Spaltung, Kriegsängste, Hausärzte und Hausärztinnen als Stabilitätsanker, dann die vielen Infekte und so weiter. Bei DESAM-ForNet hat sich viel getan. Und am Ende wird man wieder landen in der Winter-Infektwelle, dass Covid vielleicht doch nur eine von vielen Erkrankungen ist. Das sind Themen, über die wir sprechen können. Das sollte jetzt noch nicht der Jahresrückblick sein.

Nößler: (lacht) Herr Scherer, dann machen wir eine lockere Acht-Stunden-Episode, oder? (beide lachen) Ja, perfekt. Besseres Schlusswort gibt es ja gar nicht. Das heißt, wir wissen schon, was in der nächsten Woche uns beiden und den Hörerinnen und Hörern in Anführungszeichen droht. Dann müssen wir auch noch gar nicht Tschüss sagen für dieses Jahr, Herr Scherer, aber dann können wir allen Hörerinnen und Hörern eine wunderschöne Weihnachtszeit wünschen, oder?

Scherer: Ja. Ich wünsche Ihnen, lieber Herr Nößler, und auch den Hörerinnen und Hörern von ganzem Herzen ein frohes und entschleunigtes Weihnachtsfest, eine Pause zur Dankbarkeit und Besinnung auf das, was wirklich wichtig ist. Und Ihnen, lieber Herr Nößler, möchte ich mal wieder für ein tolles Podcast-Jahr danken und freue mich auf viele weitere Episoden dann im neuen Jahr. Aber einen Jahresrückblick haben wir ja noch.

Nößler: Genau. Und den machen wir noch in diesem Jahr. Herr Scherer, Dank auch von meiner Seite an die Zuhörerinnen und Zuhörer natürlich immer auch für das Feedback. Dank an Sie, Herr Scherer, für dieses Jahr. Das dritte Podcast-Jahr, muss man sagen. Bleiben Sie fröhlich, genießen Sie die Weihnachtszeit, feiern Sie mit der Familie und lassen Sie es nicht so sehr krachen, dass unsere Stimme uns erhalten bleibt.

Scherer: Und wir dann Silvester tatsächlich noch viele Zuhörerinnen und Zuhörer haben bei dem Jahresrückblick.

Nößler: Genau. Super.

Scherer: Also dann: Tschüss.

Nößler: Tschüss.

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