BSG lockert Festbetrag

Dürfen Arzneien nur innerhalb des Festbetrags verordnet werden? Nicht immer, hat jetzt das Bundessozialgericht im Fall Sortis entschieden - vor allem, wenn sonst Nebenwirkungen auftreten würden.

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Stein des Anstoßes: Atorvastatin - in Einzelfällen auch über dem Festbetrag verordnungsfähig.

Stein des Anstoßes: Atorvastatin - in Einzelfällen auch über dem Festbetrag verordnungsfähig.

© dpa

KASSEL (mwo). Ärzte können im Einzelfall auch Arzneimittel über dem Festbetrag verordnen.

Das ist dann der Fall, wenn nur so Nebenwirkungen mit "Krankheitswert" vermieden werden können, urteilte am Dienstag das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel.

Es fand damit eine späte Kompromissformel im Streit um das Arzneimittel Sortis® (Atorvastatin). Die aus dem Raum Dresden stammende Klägerin leidet unter anderem an Hyperlipidämie.

Weil sie andere Wirkstoffe nicht vertrug, verschrieb ihre Ärztin schließlich Sortis®, dessen Preis der Hersteller Pfizer aber nicht auf den Festpreis gesenkt hatte. Von 2007 bis 2011 zahlte die Patientin über 900 Euro zu.

Bei der in Sachsen und Thüringen verbeiteten AOK Plus beantragte sie die volle Kostenerstattung. Alle günstigeren Alternativpräparate hätten zu erheblichen Nebenwirkungen geführt, etwa zu Beinmuskelkrämpfen.

Nur Sortis® sei nebenwirkungsarm gewesen. Die AOK lehnte dies jedoch ab. Von einem "atypischen Einzelfall" sei nur bei lebensbedrohlichen Nebenwirkungen auszugehen.

Versicherter trägt die Beweislast

Der Erste Senat des BSG gab nun im Wesentlichen der Patientin Recht. Das Sächsische Landessozialgericht (LSG) in Chemnitz soll lediglich noch ihre Angaben zu den Nebenwirkungen überprüfen.

Grundsätzlich hatte das BSG allerdings die Festbetragsgruppe der Statine einschließlich Atorvastatin bereits im März 2011 bestätigt (Az.: B 1 KR 7/10). Daran hielten die Kasseler Richter fest.

Eine Kostenerstattungspflicht bestehe jedoch bei atypischen Einzelfällen, heißt es nun in dem neuen Urteil.

Weise ein teureres Medikament kaum Nebenwirkungen auf, alle anderen vergleichbaren einer Festbetragsgruppe dagegen schon, könne die Kasse zur vollen Kostenerstattung verpflichtet sein.

Die unerwünschten Nebenwirkungen bei den Alternativpräparaten müssten jedoch "Krankheitswert" haben. Im Streitfall trage der Versicherte die Beweislast, dass die Nebenwirkungen bei der teureren Arznei deutlich geringer sind.

Az.: B 1 KR 22/11 R

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Kommentare
Dr. Thomas Georg Schätzler 04.07.201210:18 Uhr

"Same Procedure ... as every Year"!

Es ist immer wieder dasselbe Schema! Der gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen bzw. die Gesundheitsbürokratie bauen eine Drohkulisse auf: Festbetragsregelung, Ausschluss von Zuckerteststreifen bei Typ-2-Diabetes, keine PET-Untersuchungen bei Ovarialkarzinom, keine Erstattung von Alternativmedikamenten usw. Und bei den Vertragsärzten/-innen bleibt die Regressangst hängen.

Aber das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel hebelt diese schematischen Regelungen im individuellen Einzelfall wieder aus. Weil der einzelne Patient auch im Sozialrecht eine individuelle Persönlichkeit mit Teilhabe- und Versorgungsanspruch innerhalb der GKV-Versichertengemeinschaft darstellt. In begründeten Einzelfällen darf auch von den Ausschlusskriterien des 5. Sozialgesetzbuches (SGB V) abgewichen werden. Die Würde des Menschen, das Recht auf Gesundheit und körperlich-seelische Unversehrtheit findet dabei juristische Wertschätzung.

Im Fall von Sortis® (Atorvastatin) hat sich die Problematik durch eine breite Generikapalette jetzt entschärft. Verwunderlich bleibt nur, dass pharmakritische Apologeten von einst, die Sortis® als "me-too" Präparat oder Pseudoinnovation gebrandmarkt hatten, jetzt die altbekannte Studienlage zur Frage umwandeln, warum denn Ärzte dieses Spitzen-Generikum nicht schon immer leitliniengerecht verordnet haben?

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

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