"Eine Demenz ist kein einziges Desaster"

Die eigene Perspektive von Demenzpatienten auf ihre Krankheit spielt in der bisherigen Forschung und Therapie kaum eine Rolle. Experten fordern daher ein besseres soziales Klima, damit Angehörige und Betroffene die Krankheit akzeptieren.

Ilse SchlingensiepenVon Ilse Schlingensiepen Veröffentlicht:
Aus Angst vor Ausgrenzung zeigen viele Demenzpatienten kaum Einsicht für ihre Erkrankung.

Aus Angst vor Ausgrenzung zeigen viele Demenzpatienten kaum Einsicht für ihre Erkrankung.

© Klaro

WITTEN. In der Versorgungsforschung zur Demenz muss die Perspektive der Betroffenen eine viel größere Rolle spielen als bisher, fordert Dr. Elisabeth Stechl von der Berliner Charité. "Wir können den Menschen nur helfen, wenn wir wissen, wie sie ihre Krankheit erleben", sagte Stechl auf der ersten Jahrestagung des Standorts Witten im Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen.

Die individuellen Verläufe der Demenz ließen sich ihrer Überzeugung nach nur aus entwicklungspsychologischer und systemischer Perspektive verstehen und positiv beeinflussen, sagte die Psychologin, die Mitglied der Forschungsgruppe Geriatrie der Charité ist. "Die hohe Variabilität demenzieller Krankheitsverläufe spricht für Modelle, in denen psychosoziale Faktoren und die aktive Rolle des Menschen mit Demenz als bedeutende Ressourcen für eine Verlangsamung der Krankheitsverläufe angesehen werden können."

Betroffene Patienten haben die gleichen Vorstellungen über Alter, Gedächtnisstörungen und Demenz wie Gesunde. "Das fördert die Angst, ausgegrenzt oder als verrückt abgestempelt zu werden", sagte Stechl. Zwar nähmen die Patienten im Frühstadium sehr wohl war, dass sie unter kognitiven Störungen leiden. Mit dem allgemeinen Bild von Alzheimer-Patienten, die beispielsweise im Nachthemd über die Straße laufen, könnten sie ihre Situation aber nicht in Einklang bringen.

Leugnen der Demenz als Selbstschutzmechanismus

Erst jetzt fange die Wissenschaft an, die betroffenen Menschen selbst zu fragen. "Die Hauptangst bei Diagnosestellung in frühen Stadien ist nicht die eigentliche Krankheit, sondern das, was sie in den Augen der anderen bedeutet", berichtete sie. Das Leugnen der Erkrankung sei häufig einer von verschiedenen Selbstschutzmechanismen. Die fehlende Krankheitseinsicht werde häufig als ein Symptom der Demenzerkrankung gesehen. "Es kann aber sein, dass jemand zwar die Einsicht hat, sie aber nicht zeigen will."

Für die Behandlung und Versorgung der Patienten sei es wichtig, in jedem individuellen Fall herauszufinden, ob die Anosognosie psychisch oder organisch bedingt ist, ob es sich also um ein Nichterkennenwollen oder Nichterkennenkönnen der Erkrankung handelt.

Die Anpassung an die demenzbedingten Defizite und Veränderungen sei ein fortwährender Prozess, sagte Stechl. Niemand lasse sich gern die Verantwortung für sein Leben aus der Hand nehmen. "Es gilt, individuelle Lösungen zu finden, die aber für alle Beteiligten mühsam und anstrengend sein können."

Für die Versorgung und Begleitung von Menschen mit Demenz müssten mehr finanzielle und personelle Ressourcen zur Verfügung stehen. Bislang würden die meisten Patienten nicht darüber informiert, dass sie an Demenz leiden. "Meist werden die Angehörigen aufgeklärt, und bei der Aufklärung stehen die Defizite im Vordergrund", sagte sie.

Experten fordern mehr Schulungen für Hausärzte

Der wichtigste Ansprechpartner für die häufig 70- bis 80-jährigen Patienten sei der Hausarzt. Ihm vertrauen sie, er könne beraten, so Stechl. "Es müssen die finanziellen Mittel bereit gestellt werden, damit die Hausärzte entsprechend geschult werden."

Stechl plädierte für ein soziales Klima, das ein Leben mit Demenz, aber mit möglichst wenig Angst ermöglicht. Notwendig sei ein aufgeklärtes Bild der Krankheit. "Wir brauchen Wissen über Demenz und wir müssen aufhören, die Demenz als einziges Desaster darzustellen."

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Mehr Mut, weniger Berührungsängste!

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