Unstimmigkeiten im OP

Eine Tote, keine Organe und viele Fragen

Eine geplante Organentnahme in Bremerhaven scheitert - warum? Auf der Suche nach Antworten stößt eine Expertenkommission an ihre Grenzen. Denn die Zeugenaussagen verstricken sich in Gegensätze.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Vorbereitung einer Organentnahme: In Bremerhaven kam es zu Unstimmigkeiten im OP.

Vorbereitung einer Organentnahme: In Bremerhaven kam es zu Unstimmigkeiten im OP.

© EPD/ imago

BREMERHAVEN. Verwirrung bei der Hirntod-Diagnose, eine mutmaßliche Urkundenfälschung und Unstimmigkeiten im OP - elf Monate hat es gedauert, bis die Prüfungs- und Überwachungskommission der Bundesärztekammer (BÄK) einen Bericht zur vorzeitigen Beendigung einer Organentnahme im Bremerhavener Klinikum Reinkenheide von Ende 2014 veröffentlichte. Nun liegt der Bericht vor. Alles kann er nicht aufklären.

In das Klinikum Reinkenheide war Ende 2014 eine verunglückte Frau mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma eingeliefert worden. Die Zustimmung zur Organentnahme lag vor. Aber kurz vor der Organentnahme wurde bei bereits geöffnetem Körper der Prozess abgebrochen. Was war geschehen?

Ablauf und Ergebnisse der klinischen Feststellung des Hirntodes seien unter den Beteiligten "unstreitig", so der Bericht. "Streitig" dagegen seien die Abläufe der abgebrochenen Organentnahme, "da das Klinikum und die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) im Nachhinein versucht haben, die Verantwortung für die gescheiterte Organentnahme der Gegenseite zuzuschieben", heißt es im mit vielen Schwärzungen versehenen Bericht. Beide Seiten hätten insoweit "die Abläufe nicht zutreffend geschildert".

"Die Spenderin war hirntot"

Der Bericht hält fest, dass man habe sicher sein können, die Patientin sei irreversibel hirntot gewesen. Man gehe hier von einer zwar unvollständig dokumentierten, aber richtlinienkonformen Hirntod-Diagnostik aus, heißt es. Gemeint ist der obligatorische Apnoe-Test. Hier muss, um den Hirntod zu diagnostizieren, laut Richtlinien ein pCO2-Wert (Kohlenstoffdioxid-Partialdruck) von 60 mmHg erreicht werden.

Allerdings wurde der Test in Bremerhaven vor Erreichen dieser Marke abgebrochen, um einen Herzstillstand der Organspenderin zu vermeiden.

Zuvor wurde eine arterielle Blutgasanalyse vorgenommen. Der Wert, bei dem abgebrochen wurde, ist im Bericht geschwärzt. Nach dem abgebrochenen Apnoe-Test nahmen die Ärzte des Klinikums eine EEG-Ableitung vor. Sie habe "ohne jedweden Zweifel ein sogenanntes Null-Linien-EEG" gezeigt, so der Bericht.

Auf Nachfrage der "Ärzte Zeitung" heißt es in der Stellungnahme der Geschäftsstelle Transplantationsmedizin bei der BÄK, das Vorgehen sei richtlinienkonform gewesen. "Gemäß diesen Richtlinien wurde von den Ärzten als Substitut für den nicht möglichen Apnoe-Test das EEG gewählt."

"Apnoe-Test gemäß Richtlinie unverzichtbar!"

Auch Dr. Axel Rahmel, Medizinischer Vorstand der DSO, verweist auf Nachfrage auf diesen Umstand. Beide betonen zudem, dass die Patientin auch aus der Gesamtbeurteilung der medizinischen Daten als hirntot gelten musste. In der Tat entschieden sich die Ärzte, "den Apnoe-Test mit dem konkret gemessenen pCO2-Wert als erfüllt anzusehen", weil "dies in Zusammenschau aller Befunde gerechtfertigt schien", so die Prüfer.

Allerdings dokumentiert die Kommission in ihrem Bericht selbst, dass das EEG gar nicht dazu diene, den Hirntod als solchen zu diagnostizieren, sondern lediglich - in einem zweiten Schritt - seine Unumkehrbarkeit festzustellen.

Das merkt jedenfalls der Transplantationsbeauftragte des Verbandes der leitenden Krankenhausärzte Deutschlands (VLK), Professor Dr. Gundolf Gubernatis, an: "Offenbar wurde die EEG-Ableitung als Ersatz für den Apnoe-Test vorgenommen und von den Diagnostikern als Beweis des Hirntodes akzeptiert. Aber das ist meines Erachtens weder nach den Richtlinien zulässig, noch medizinisch nachvollziehbar: Der Apnoe-Test prüft die Hirnstammfunktion, während das EEG ,nur' die Großhirnfunktion prüft. Deshalb ist der Apnoe-Test gemäß Richtlinie unverzichtbar!"

Offenbar seien die Ärzte mit dem Apnoe-Wert schlicht nicht einverstanden gewesen. "Aber man kann nach meiner Einschätzung nicht einfach eine zweite Methode wählen, weil man mit den Ergebnissen der ersten nicht einverstanden ist!"

Kein Informationsaustausch

Die Reinkenheider Ärzte informierten nach ihrer Hirntodfeststellung Eurotransplant. Kurz darauf wechselte der zuständige DSO-Koordinator, weil die "zulässigen Einsatzzeiten" des ersten Koordinators überschritten waren, wie Rahmel schreibt. Allerdings fand kein Informationsaustausch statt, so der Bericht. Das bestätigt auch Rahmel als Fehler.

Inzwischen seien die Übergaberegelungen für Koordinatoren überprüft, ein "Team-Time-Out" vor der OP inklusive Checks der zentralen Dokumente und eine neue Checkliste für die Organentnahme eingeführt worden, heißt es.

Diese Maßnahme hätte dem neuen Koordinator, der mit dem inzwischen eingetroffenen Entnahmeteam der DSO im OP war, vielleicht einiges erspart. Ihm kamen bei der Durchsicht der Unterlagen Bedenken: Der vorgeschriebene Wert des Apnoe-Tests war ja nicht erfüllt. Dies fiel ihm zu einem Zeitpunkt auf, da der Körper der Spenderin bereits geöffnet war. Nun führte das Entnahmeteam die Op nicht fort, um die Unstimmigkeit zu klären.

Der anwesende Anästhesist sollte sich mit seinem Oberarzt in Verbindung setzen, um die Sache zu klären. In dieser Zeit wurde offenbar der pCO2-Wert nachträglich geändert. Im Bericht heißt es: "X (Name geschwärzt) strich die pCO2-Angabe von X (Wert geschwärzt) mmHg in dem Protokollbogen durch und ersetzte ihn durch 60 mmHg." Rahmel will diesen Umstand juristisch nicht bewerten.

Für die BÄK handelt es sich aber um eine "Urkundenfälschung", die "inakzeptabel" und "unentschuldbar" sei, heißt es auf Anfrage der Geschäftsstelle Transplantationsmedizin bei der BÄK. Offenbar wollte die DSO die Hirntod-Feststellung nun wiederholen, um sicher zu sein. "Die für eine formal korrekte Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls notwendigen Untersuchungen hätten im OP oder nach Wundverschluss auf der Intensivstation stattfinden können", schreibt Rahmel.

"Abläufe unzutreffend geschildert"

Ab jetzt gehen die Angaben der Beteiligten auseinander. Unklar ist, ob die Op nur unterbrochen oder abgebrochen wurde. Klar ist: Die Op wurde nicht weitergeführt, und die Spenderin starb. Rahmel gibt an, er wisse nicht, wie und warum dies geschah, "da sich der Koordinator zu dieser Zeit nicht im OP befand. Erst nach seiner Rückkehr in den OP bekam er die Information, dass die Maßnahmen zum Aufrechterhalten der Herz-Kreislauffunktion inzwischen eingestellt worden waren und es zu einem Zusammenbruch des Kreislaufs gekommen war."

Das Klinikum mochte die Fragen der "Ärzte Zeitung" nicht eigens beantworten und verweist auf den Bericht. Unter Berücksichtigung der Schwärzungen kann man sagen, dass es die DSO für das Ende der Organentnahme verantwortlich macht. Ein Klinikarzt gab an, "man habe ihm gesagt, die Organentnahme werde abgebrochen."

Erst dann seien bei der Patientin "im OP auf Veranlassung der Klinik der Katecholamin-Perfusor und die Beatmung abgestellt worden", so der Bericht. Die Organentnahme sei also vom DSO-Team abgebrochen worden.

Ob hier eine Seite lügt? "Eine Wertung bleibt dem Leser überlassen", so die Geschäftsstelle Transplantationsmedizin. Der Prüfbericht bemängelt nur "gravierende Kommunikationsprobleme der Beteiligten". Gubernatis geht diese Beurteilung nicht weit genug: "Hier wurden transplantationsfähige Organe nicht genutzt", kritisiert er. "Für mich ist das im Prinzip relevanter als vieles, was wir im Zusammenhang mit dem Göttinger Transplantations-Skandal diskutiert haben."

Lesen Sie dazu auch: Exklusiv-Interview: "Eine anonyme Fehlermeldung sollte möglich werden"

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