AMNOG

Für Komfort nicht zuständig

Lebensqualität muss nach dem Willen des Gesetzgebers als Parameter bei der frühen Nutzenbewertung berücksichtigt werden. Tatsächlich geschieht dies kaum - entweder weil Studien schlecht designt sind oder weil Komfort-Aspekte, wie sie für moderne Antidiabetika behauptet werden, irrelevant sind.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:

NEU-ISENBURG. Paragraf 2 Absatz 3 der Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung ist eindeutig: Zu den patientenrelevanten therapeutischen Effekten gehört neben der Verbesserung des Gesundheitszustandes, der Verkürzung der Krankheitsdauer, der Verlängerung des Überlebens und der Verringerung der Nebenwirkungen auch die Verbesserung der Lebensqualität.

Doch auch fast vier Jahre nach Inkrafttreten des AMNOG zeigt die Bewertungspraxis des IQWiG und des Gemeinsamen Bundesausschusses, dass der Aspekt der Lebensqualität nur in ganz seltenen Fällen eine Rolle bei der Zuerkennung eines Zusatznutzens gespielt hat.

Das war das ernüchternde Ergebnis eines Parlamentarischen Abends, zu dem der CDU-Bundestagsabgeordnete Erwin Rüddel und das Unternehmen Boehringer Ingelheim kürzlich nach Berlin eingeladen hatten.

Von 66 bis Frühjahr dieses Jahres bewerteten Dossiers enthielten 45 Angaben zur Veränderung der Lebensqualität, berichtete der Gesundheitsökonom Professor Wolfgang Greiner von der Universität Bielefeld.

Davon sahen 23 pharmazeutische Unternehmer einen Zusatznutzen in Bezug auf die Lebensqualität. Aber nur für zwei neue Wirkstoffe anerkannte der gemeinsame Bundesausschuss einen Zusatznutzen für den Parameter Lebensqualität.

Methodische Schwächen in Studien

Als eine wichtige Ursache für die tatsächlich geringe Berücksichtigung der Lebensqualität bei der Ermittlung des Zusatznutzens nennen Greiner, aber auch der Abteilungsleiter Nutzenbewertung beim Gemeinsamen Bundesausschuss, Thomas Müller, dass die meisten Studien, die jetzt Gegenstand der Nutzenbewertung sind, lange vor Inkrafttreten des AMNOG geplant worden sind und oft den methodischen Standards der Gesundheitsökonomie nicht entsprechen.

Greiner, der sich seit weit zehn Jahren intensiv mit der Messung der Lebensqualität als Wissenschaftler beschäftigt, sieht sowohl das IQWiG als auch den GBA auf dem international üblichen Niveau.

Die methodischen Anforderungen sind hart: Die Studien müssen in Durchführung, Auswertung und Interpretation objektiv sein; dies ist in Manualen präzise beschrieben. Abweichungen sind nicht erlaubt. Ferner müssen die Studien reliabel (zuverlässig) sein: Unter gleichen Bedingungen müssen sie gleiche Ergebnisse produzieren.

Und sie müssen valide sein, das heißt auch das messen, was gemessen werden soll. Ferner reicht es nicht aus, eine nur statistisch signifikante Veränderung der Lebensqualität zu messen und zu ermitteln. Denn das könnte klinisch irrelevant sein. Vielmehr muss vorab festgelegt sein, wie groß eine Minimal-Verbesserung der Lebensqualität sein soll.

Ein weiteres Problem ist, wer Lebensqualitätsveränderungen feststellen soll. Ärzte scheiden wegen ihrer Expertensicht aus. In manchen Fällen haben Patienten selbst keine hinreichende Kompetenz, etwa Kinder oder Demenzkranke. Nicht selten treten bei der Messung praktische Probleme auf: je umfangreicher, differenzierter und häufiger die Erhebungen sind, desto größer ist das Risiko, das die Rücklaufquoten sinken, weil die Probanden sich überfordert fühlen.

Rücklaufquoten von 40 Prozent, wie dies wohl in der Studienrealität vorkommt, seien nicht akzeptabel, kritisiert Dr. Martin Danner von der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe, der als Patientenvertreter dem Bundesausschuss angehört.

Mehr Lebensqualität - nicht immer bessere Patientenzufriedenheit

Auch die Interpretation von Veränderungen der Lebensqualität kann schwierig sein, etwa bei chronisch Kranken. Bei ihnen könne als Folge einer lang andauernden Beeinträchtigung eine Gewöhnung eintreten, so Danner. Es sei dann schwierig, eine Veränderung der Lebensqualität darzustellen.

Mehr Lebensqualität sei schließlich auch nicht jede Form einer besseren Patientenzufriedenheit. Danner gesteht zu, dass beispielsweise Anwendungserleichterungen, etwa neuartige Insulinpens oder einfachere Einnahmeschemata aus Patientensicht durchaus eine Rolle in ihrem Lebensalltag spielen können - Danner wie auch Müller sind allerdings definitiv der Auffassung, dass dies primär Komfort- oder Convenience-Aspekte sind, die nicht automatisch als zusätzliche Lebensqualität im Sinne des SGB V interpretiert werden können.

"Das kann nicht erstattungsrelevant sein", so der Patientenvertreter. Erst wenn sich eine möglicherweise verbesserte Compliance in morbiditätsrelevanten Endpunkten niederschlägt, würde man dies als Zusatznutzen akzeptieren.

Auch verhinderte Gewichtszunahme bei insulinpflichtigen Diabetikern hält Müller zunächst einmal nicht für einen Zusatznutzen. Es müsse vielmehr gezeigt werden, ob sich dies langfristig als Minderung der Herzinfarkt-Rate auswirke.

Es sind also nicht allein methodische Schwächen in den bislang vorgelegten Studien zur Messung der Lebensqualität. Vielmehr stellt sich auch die Frage, ob die Bewertungsinstitutionen Bundesausschuss und IQWiG die reale Lebenswelt insbesondere von Diabetikern, die nicht selten an weiteren behandlungsbedürftigen Krankheiten - Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Übergewicht, Depression - leiden, zutreffend und hinreichend differenziert erfassen.

Soziale Kälte im GBA?

Tatsächlich ist der Leidensdruck hoch, wie die DAWN2-Studie, die im Frühjahr 2013 veröffentlicht wurde, gezeigt hat. Danach berichten 44 Prozent der Frauen und 33 Prozent der Männer mit Typ2-Diabetes über ein vermindertes emotionales Wohlbefinden.

Mehr als ein Drittel der Typ2-Dibatijker hat Angst vor Hypoglykämien. Viele fürchten sich vor gesellschaftlicher Diskriminierung und empfinden Schuldgefühle bei schlechtem Diabetes-Management.

Vor allem in Kombination mit Komorbiditäten laufen diese Patienten rasch in Überforderungssituationen. Die von den Vertretern des Bundesausschusses vorgetragene Attitüde, Therapievereinfachungen als Komfortmedizin zu interpretieren, die nicht ins Solidarsystem gehöre, hat etwas von sozialer Kälte. Nach Daten aus dem Gesundheitsmonitoring des Robert-Koch-Instituts sind gerade untere Bildungsschichten überproportional von Diabetes betroffen.

Unter den über 60-jährigen Frauen leiden 23 Prozent aus der unteren Bildungsgruppe an Diabetes, jedoch nur zehn Prozent aus der oberen Bildungsgruppe. Bei den Männern sind 20 Prozent aus der unteren Bildungsgruppe Diabetiker, jedoch nur 14 Prozent aus der oberen Bildungsgruppe.

Das wiederum korreliert nicht nur mit der ökonomischen Leistungsfähigkeit, sondern auch mit den persönlichen Möglichkeiten, ein Leben mit Krankheit und Behinderung eigenverantwortlich zu gestalten.

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