Unwuchten im RSA moniert

AOK: Für arme Versicherte erhalten die Krankenkassen zu wenig Geld

Ein AOK-Gutachten belegt eine Unterdeckung bei vulnerablen Versichertengruppen. Ersatz-, Betriebs- und Innungskrankenkassen plädieren dafür, die Evaluation der Weiterentwicklung des Morbi-RSA abzuwarten.

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Die Gesundheitsversorgung der gesetzlich Versicherten wird aus dem Gesundheitsfonds finanziert (hier ein Symbolbild). Die unterschiedlichen Risiken der Versicherten wiederum soll der Risikostrukturausgleich abfedern. Wie ihm das gelingt, dazu sind die Krankenkassen meist unterschiedlicher Meinung.

Die Gesundheitsversorgung der gesetzlich Versicherten wird aus dem Gesundheitsfonds finanziert (hier ein Symbolbild). Die unterschiedlichen Risiken der Versicherten wiederum soll der Risikostrukturausgleich abfedern. Wie ihm das gelingt, dazu sind die Krankenkassen meist unterschiedlicher Meinung.

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Berlin. Gesundheitsminister Professor Karl Lauterbach (SPD) treiben die Gerechtigkeitslücken im Gesundheitswesen um. Deshalb will er Gesundheitskioske schaffen, eine große Krankenhausreform aufs Gleis setzen und die auf Kinder abzielende Werbung für Süßigkeiten unter die Lupe nehmen.

Der AOK-Bundesverband hat den Minister am Mittwoch auf eine aus AOK-Sicht bestehende weitere Gerechtigkeitslücke aufmerksam gemacht. Der Gesundheitsfonds sei bekannterweise unterfinanziert und im Finanzausgleich der Kassen untereinander gebe es beträchtliche Unwuchten, die sich auf den Kassenwettbewerb auswirkten und zu Anreizen für die Risikoselektion führten, sagte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands Jens Martin Hoyer am Mittwoch bei einer Pressekonferenz in Berlin.

AOK-Vize fordert schnelle Regelung im Gesetz

Der Wissenschaftliche Beirat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs müsse im Zuge der 2024 anstehenden Evaluation konkrete Vorschläge erarbeiten, um die Missstände abzustellen. Dafür benötigten die Wissenschaftler noch in diesem Jahr einen gesetzlichen Auftrag. Geeignet wäre das Krankenhauspflege-Entlastungsgesetz.

Dieser Auftrag müsse auch ermöglichen, dass die Kassen die vorhandenen Daten zu den relevanten vulnerablen Gruppen schnellstmöglich an das Bundesamt für Soziale Sicherung übermitteln könnten.

„Systematische Unterdeckungen“ bei vulnerablen Gruppen?

Der Gesundheitsfonds stehe aus zwei Gründen unter Druck. Er sei unterfinanziert, solange zum Beispiel die im Koalitionsvertrag angekündigte Anhebung der Beiträge für ALG-II-Bezieher nicht umgesetzt sei, sagte Hoyer. Der Fehlbetrag belaufe sich auf zehn Milliarden Euro im Jahr.

Zudem hake es bei der Refinanzierung vulnerabler Gruppen im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich. „Es gibt systematische Unterdeckungen bei den vulnerablen Gruppen von bis zu 18 Prozent, etwa für die ambulant Pflegebedürftigen“, berichtete er. Auch bei chronisch erkrankten Menschen, die aufgrund geringer Einkünfte von Zuzahlungen befreit seien, sowie Menschen mit Erwerbsminderungsrenten aufgrund scherwiegender Gesundheitsbeeinträchtigungen werde die Unterfinanzierung sichtbar, so Hoyer.

Umgekehrt würden die Kosten, die für die Versorgung junger, gesunder Versichertengruppen entstünden, mit dem Risikostrukturausgleich überkompensiert.

Verdacht auf Anreize für Risikoselektion

Diese Unwucht im Zuweisungssystem des Gesundheitsfonds setze „erhebliche Anreize“ für Krankenkassen, sich stärker um kostengünstigere und jüngere versicherte zu kümmern als um vulnerable und sozial schwache Menschen, betonte Hoyer.

Den wissenschaftlichen Hintergrund für die Thesen des AOK-Bundesverbands haben das Essener Forschungsinstitut für Medizinmanagement (EsFoMed) und der Lehrstuhl für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen beigesteuert.

Die mit 1685 Euro größte Unterdeckung lasse sich bei Pflegebedürftigen feststellen, berichtete Professor Jürgen Wasem, Inhaber des Lehrstuhls für Medizinmanagement in Duisburg-Essen, der das Gutachten gemeinsam mit Professor Gerald Lux erstellt hat. Bei den zuzahlungsbefreiten Versicherten betrage die Lücke 1038 Euro, bei Erwerbsminderungsrentnern 829 Euro und bei den ALG-II-Beziehern 123 Euro.

Die im Gutachten festgestellten Unter- und Überdeckungen ließen sich für die vier genannten Versicherungsgruppen vollständig ausgleichen, bestätigte Wasem. Der Wissenschaftler betonte, dass die Stichprobe von 9,2 Millionen AOK-Versicherten sich an der Zusammensetzung der Gesamt-GKV orientiert habe. Er glaube „mit fester Stimme“ sagen zu können, dass man zu vergleichbaren Ergebnissen käme, würde man die Stichprobe aus allen Kassenarten ziehen.

AOK-Mitbewerber wollen auf Auswertung warten

„Keinen Sinn“ vermochten Vertreterinnen und Vertreter der Ersatz-, Betriebs- und Innungskrankenkassen in den AOK-Forderungen zu entdecken. In einer am Mittwoch verbreiteten Stellungnahme weisen ihre Verbände darauf hin, dass die Wirkungen der mit dem Faire-Kassenwahl-Gesetz angestoßenen Änderungen im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich erstmals mit dem Schlussausgleich für 2021 betrachtet werden könnten.

Man gehe davon aus, dass sich damit eine „gerechtere und faire Wettbewerbssituation“ zwischen den Kassen einstelle. Solange die Bewertungen dieser Wirkungen durch den Wissenschaftlichen Beirat nicht vorlägen, ergebe es wenig Sinn, aus Datenbeständen einer Kassenart Vorschläge abzuleiten, heißt es in der Stellungnahme. (af)

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