Urteil

Kein Grundrecht auf assistierten Suizid

Richter lehnen Beschwerde aus Großbritannien ab und verweisen auf weiten Spielraum der Staaten.

Veröffentlicht:

STRASSBURG. Es gibt kein Grundrecht auf assistierten Suizid. Das hat am Donnerstag der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bekräftigt.

Er wies eine Beschwerde aus Großbritannien als offensichtlich unbegründet ab. Dabei machte eine Frau die Rechte ihres inzwischen verstorbenen Mannes geltend.

Nach einem Schlaganfall litt er unter dem Locked-in-Syndrom und wollte sterben. Anders als in Deutschland ist assistierter Suizid in Großbritannien unzulässig.

Wer dennoch hilft, muss sich wegen Mordes verantworten. Dagegen klagte der Mann, blieb bis zum Obersten Gerichtshof aber ohne Erfolg. Daraufhin verweigerte er die Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit und starb im August 2012.

Seine Frau rief den EGMR an.Das Urteil habe das Grundrecht ihres Mannes auf Privat- und Familienleben verletzt.

Die Richter wiesen die Beschwerde ab. Zur Begründung verwiesen sie auf ein Urteil aus 2002. Danach lässt sich ein Recht auf assistierten Suizid aus der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht unmittelbar ableiten.

Unter den Zeichnerstaaten gebe es auch keinen Konsens in dieser Frage.

Daher hätten die einzelnen Staaten einen weiten Spielraum, dies zu regeln. In dem neuen Fall hatte die Ehefrau nun einen moralischen Wandel geltend gemacht.

Die Bereitschaft, assistierten Suizid zu akzeptieren, sei deutlich gewachsen. Dem hat der EGMR nun widersprochen. Ein Konsens in dieser Frage sei nicht in Sicht.

Daher biete die Menschenrechtskonvention den britischen Gerichten keinerlei Handhabe, sich über die Gesetzesentscheidungen des Parlaments hinwegzusetzen. (mwo)

Urteil des EGMR: Az.: 2478/15

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Dr. Thomas Georg Schätzler 20.07.201512:02 Uhr

Europäische Ermessensspielräume bei Hilfen am Lebensende

Assistierter Suizid als aktive ärztliche oder sonstige Sterbehilfe ist in Deutschland ebenso wie in Großbritannien unzulässig bzw. strafbar nach § 216 Strafgesetzbuch (StGB). Die passive Sterbehilfe z. B. durch Unterlassen künstlich lebensverlängernder Maßnahmen insbesondere bei erklärtem Willen des Patienten oder die palliative Sedierung als Hilfe am Lebensende sind dagegen statthaft.

Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR), auf Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in Straßburg als "Eurpean Court of Human Rights" beheimatet, bestätigt damit juristisch die in den Europäischen Staatengemeinschaft mehrheitlich öffentlich konsentierte und verankerte bzw. ärztlich begründete Haltung zur passiven Sterbehilfe: Entscheidende Hilfen am Lebensende können durch Unterlassen künstlich lebensverlängernder Maßnahmen begründet werden, wenn keinerlei Aussichten auf Verbesserung, Linderung oder gar Heilung bestehen bzw. der Sterbeprozess unaufhaltsam eingesetzt hat.

Nur Belgien (B), Niederlande (NL) und Schweiz (CH) erlauben innerhalb bestimmter Regularien die aktive Sterbehilfe im Sinne einer aktiven ärztlich assistierten Handlungsweise zum "Töten auf Verlangen" oder, positiver umschrieben, assistiertem Suizid.

Da das nach deutschem § 216 Strafgesetzbuch (StGB) weiterhin strafbare Töten auf Verlangen, auch wenn es selten juristisch erfasst und verfolgt wird, weiterhin pönalisiert bleibt, gewinnt das Thema Selbsttötung, aktive/passive/organisierte/private Sterbehilfe, (ärztlich-)assistierter Suizid, Autonomieverlust, Patienten- u n d Arzt-Selbstbestimmungsrecht die Dimension einer problematischen Gratwanderung widerstreitender Familien-, Angehörigen- und Sozialinteressen.

Ebenso wie bei dem jetzt dargestellten Fall aus GB ging es bei der Bestätigung der Entscheidung zur passiven Sterbehilfe in F und GB durch den Straßburger EGMR um die Güterabwägung w i d e r s t r e i t e n d e r Interessen. In Frankreich (F) erlaubt z. B. das Leonetti-Gesetz von 2005 Ärzten, lebenserhaltende Maßnahmen abzubrechen, auch wenn sich der Patient nicht mehr selbst mitteilen kann.

Nach ausführlicher und abwägender Prüfung sei k e i n Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) – unter anderem dem Recht auf Leben und körperlich-seelisch-geistige Unversehrtheit – festzustellen gewesen. Es liege im Ermessensspielraum der unterschiedlichen europäischen Staaten, palliative Hilfen zum Lebensende wie z. B. ärztlich indizierte und überwachte palliative Sedierung durchzuführen bzw. lebenserhaltende Maßnahmen zu beenden und auf erweiterte, künstliche Beatmung, Ernährung und Katecholamin-Gaben als potenziell lebenserhaltende Maßnahmen am Lebensende der Terminal- oder Palliativ-Patienten zu verzichten.

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

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