Geschlechtsspezifische Medizin
Klinische Forschung hat häufig nur Männer im Blick!
Genderaspekte werden in der Forschung oft vernachlässigt. Dabei müssten diese in klinischen Studien und auch bei der Entwicklung medizinischer Apps mehr beachtet werden, so Experten auf der Medica.
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Unterschiede werden zu wenig beachtet: Frauen reagieren oft anders auf Medikamente.
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Düsseldorf. Obwohl schon länger bekannt ist, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Aufnahme, der Verteilung und dem Stoffwechsel von Arzneimitteln gibt, spielen sie bei der Entwicklung und Zulassung von Medikamenten immer noch eine zu geringe Rolle. Das kritisiert Professorin Petra Thürmann, Direktorin des Philipp-Klee-Instituts für Klinische Pharmakologie am Helios Universitätsklinikum Wuppertal.
Die Unterschiede beruhen auf Faktoren wie Gewicht, Größe und Körperzusammensetzung oder den hormonellen Einflüssen auf Ausscheidungsprozesse, erläuterte Thürmann beim Medica Econ Forum der Techniker Krankenkasse (TK) in Düsseldorf. Die Unterschiede seien manchmal bedeutsam, manchmal weniger relevant. Das werde aber nicht systematisch erforscht.
Warten, wie Frauen reagieren
„Man könnte bei allen Arzneimitteln vorher feststellen, ob Frauen empfindlicher reagieren, aber man wartet, bis man sie wieder vom Markt nehmen muss“, sagte sie. Als Beispiel nannte die Ärztin die Arzneimittel-induzierte QT-Verlängerung. Verschiedene Medikamente könnten eine Torsade de pointes (TdP) auslösen.
Das Risiko einer potenziell tödlichen Herzrhythmusstörung habe in den vergangenen Jahren zur Marktrücknahme unterschiedlicher Medikamente geführt. „TdP kommt bei Frauen doppelt so häufig vor wie bei Männern“, betonte Thürmann. Die Effekte könnte man schon im Tierversuch sehen. Das Beispiel der Arzneimittelbehörde FDA in den USA zeigt, dass der geschlechtsspezifische Blick auf die Arzneimittelsicherheit möglich ist. „Die FDA hat seit über 20 Jahren ein office of women’s health“, berichtete sie.
Bei Schlafmitteln mit dem Wirkstoff Zolpidem empfiehlt die FDA bei Frauen eine um die Hälfte niedrigere Dosierung als bei Männern. „In Deutschland und Europa sieht man die Unterschiede nicht.“
Medizinische Apps auch Unisex?
Über das Thema werde zwar geforscht, es hapere aber bei der Umsetzung. Thürmann findet es ärgerlich, dass bei klinischen Studien nach wie vor zu wenig auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede geachtet wird. Das könne sich zulasten der Frauen, aber auch der Männer auswirken. So gebe es Therapien, von denen Männer besser profitieren als Frauen. „Dann darf man es ihnen doch nicht vorenthalten, weil der Durchschnitt schlecht ist.“
Die Vernachlässigung von Genderaspekten in der Forschung hat auch Auswirkungen auf die Digitalisierung und den Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Medizin, sagte Barbara Steffens, Leiterin der Landesvertretung Nordrhein-Westfalen der TK. Wenn die künstliche Intelligenz mit Studien „gefüttert“ wird, in denen das Geschlecht keine Rolle spielt, kann sie bei der Bildung von Korrelationen auch nur ein Unisex-Ergebnis liefern.
„Die Präzisionsmedizin bietet hier eine Chance“, glaubt Steffens. Ihre Hoffnung: Bei der Auswertung von Ergebnissen der personalisierten Medizin werden sich bei vielen Therapien geschlechtsspezifische Unterschiede herauskristallisieren.
Die Berücksichtigung von Genderaspekten muss von den Entwicklern medizinischer Apps eingefordert werden, findet sie. Wenn in Apps keine geschlechtsspezifischen Symptome eingegeben würden, seien die Ergebnisse entsprechend.
Die ehemalige nordrhein-westfälische Gesundheitsministerin sieht hier auch die Krankenkassen in der Verantwortung. „Wir müssen das besser beachten, wenn wir Apps anbieten.“