Hauptstadtkongress-Interview

Seismograf für gesundheitspolitische Stimmungen

Senator a. D. Ulf Fink blickt zurück auf 20 Jahre Hauptstadtkongress. Der Kongress hat seine eigene gesundheitspolitische Geschichte geschrieben: Aus vormals 800 wurden 8000 Teilnehmer.

Wolfgang van den BerghVon Wolfgang van den Bergh Veröffentlicht:
Ulf Fink, Gründer des Hauptstadtkongresses, in seinem Berliner Büro im Gespräch mit der Ärzte Zeitung. Rolf Schulten

Ulf Fink, Gründer des Hauptstadtkongresses, in seinem Berliner Büro im Gespräch mit der Ärzte Zeitung. Rolf Schulten

© Rolf Schulten

Ärzte Zeitung: Herr Fink, diese Woche findet der 20. Hauptstadtkongress statt – Hand aufs Herz: Wie sicher waren Sie, dass es sich bei diesem Projekt um keine Eintagsfliege handelt?

Ulf Fink: Wir sind damals, das war 1998, mit 800 Teilnehmern gestartet. Keiner konnte ahnen, dass sich der Hauptstadtkongress als Leitkongress der Gesundheitsbranche etabliert. Dennoch war mir damals schon als Bundestagsabgeordneter klar: Wir brauchen eine Gelegenheit, bei der wir mit allen Playern des Gesundheitssektors ins Gespräch kommen.

Ein solcher Kongress wäre wichtig. In den 90er Jahre haben wir erfahren, welchen enormen Einfluss die Politik auf die Gesundheitsbranche hat. Und Berlin erschien uns als der geeignete Standort, vor allem nach der politischen Entscheidung für Berlin als Bundeshauptstadt.

Sie haben es angesprochen: Die 90er Jahre waren von gesundheitspolitischen Veränderungen geprägt, nicht nur durch die beiden GKV-Neuordnungsgesetze 1997.

UF: Das ist richtig. Darüber hinaus gab es viele gesundheitspolitischen Detailentscheidungen, die die Öffentlichkeit sensibilisiert haben. Ich erinnere an die Einschränkungen bei der Rehabilitation. Das hat zu massiven Auswirkungen auf die Reha-Kliniken in strukturschwachen Gebieten geführt. In der Folge gab es eine Reihe von Zuzahlungsbeschlüssen, die die Menschen direkt betroffen haben. Und sehr positiv: die Pflegeversicherung wurde eingeführt.

In dieser Zeit ist die Zahl gesundheitspolitischer Kongresse geradezu explodiert: Inwiefern hat der HSK dennoch ein Alleinstellungsmerkmal?

UF: Der Hauptstadtkongress ist zwar vielfältig kopiert worden, aber kein anderer Kongress hat in den vergangenen Jahren diese große Bedeutung erlangt. Begriffe wie Gesundheitswirtschaft sind erst mit dem Hauptstadtkongress etabliert worden.

Das spiegelt sich nicht zuletzt auch in der Besucherliste wider...

UF: Wir wollen ja der Vielfalt und der Interdisziplinarität Rechnung tragen. Dafür stehen wichtige Persönlichkeiten aus Politik, Medizin und Wissenschaft. Das reicht von Professor Anthony Atala, dem Pionier der regenerativen Medizin bis hin zum US-amerikanischen Gesundheitsminister Tommy Thompson, der mit seinem Besuch die Bedeutung des transatlantischen Verhältnisses unterstrichen hat.

Wie kann ein solcher Kongress zur gesundheitspolitischen Meinungsbildung beitragen?

UF: Die DNA des Hauptstadtkongresses ist, alle Beteiligten ins Boot zu holen. Das sind die Leistungserbringer in Klinik und Praxis. Hier begegnen sich Ärzte, Pflegekräfte und Management auf Augenhöhe. Dann sind die pharmazeutische Industrie und die Medizintechnik genauso vertreten wie die Kostenträger, die den Kongress immer wieder prominent besetzen.

Das Gleiche gilt für die Körperschaften von Kassenärztlichen Vereinigungen und Ärztekammern sowie die ärztlichen und pflegerischen Verbände. Eine immer größere Rolle spielen auch die Länder, die sich mit ihren politischen Vertretern an dem Meinungsbildungsprozess beteiligen.

Wird damit nicht das klassische "Lagerdenken" unterstützt?

UF: Nein, im Gegenteil. Es geht eben nicht alleine nur um die Gespräche zwischen Gesundheitsbranche und Politik, sondern auch um den Kontakt unter den Akteuren. So gibt es gemeinsame Veranstaltungen von Ärzteforum und Pflegekongress. Hier binden wir auch die Arbeitgeber mit ein.

Unser Ziel ist, die Segmentierung im System zu überwinden. Das ist übrigens regelmäßig Thema unserer Programmkommission im Ärztekongress, im Pflegekongress und im Krankenhaus-Management-Kongress. Und nicht zuletzt hat das Thema einen besonderen Platz im Hauptstadtforum.

Oder denken Sie an das DRG-Vergütungssystem in Kliniken. Die Rolle der Ökonomie hat sich hier im Laufe verändert, will heißen: Wir führen die Kompetenzen aus den Bereichen Verwaltung, Pflege und Medizin zusammen.

Neben der Überwindung der Sektoren rückt immer mehr die Qualität der Versorgung in Abhängigkeit zur Vergütung in den Mittelpunkt. Wie groß darf der Einfluss der Ökonomie auf die Versorgung sein?

UF: Durch das Krankenhausstrukturgesetz wird ein wesentlicher Schritt hin zu einer besseren Qualitätsorientierung im Gesundheitswesen umgesetzt. Ich bin mir nicht sicher, ob die Bedeutung dieses Gesetzes schon hinreichend erkannt worden ist.

Ich halte auch die Einführung des Qualitätsinstituts für eine der wichtigsten Entscheidungen in dieser Legislaturperiode. Es muss in die Köpfe der Menschen, dass nicht alles, was gleich bezahlt wird, auch gleich gut ist. Das Geld, das wir für schlechte Qualität ausgeben, fehlt uns an anderer Stelle.

Haben Sie Verständnis dafür, dass Ärzte ein zu starkes Vordringen der Ökonomie befürchten?

UF: Es ist ganz zentral und wichtig, dass die Ärzteschaft immer wieder darauf aufmerksam macht, dass es ihr primäre Ziel ist, den Menschen gesund zu machen. Das heißt auch, dass Ärzte und Pflegekräfte dafür die Zeit bekommen. Es kann nicht zum ökonomischen Prinzip erhoben werden, möglichst schnell viele Leistungen zu erbringen. Damit werden aus meiner Sicht falsche ökonomische Anreize gesetzt.

Schnittstellenproblematik, Ökonomisierung – was sind weitere Themen, die den Wahlkampf bestimmen werden?

UF: Großes Thema wird sein, ob es beim dualen Versicherungssystem bleibt oder eine Bürgerversicherung eingeführt wird. Dazu hat der Präsident der Bundesärztekammer beim Ärztetag etwas sehr wichtiges gesagt: Ein Kind, das in das unterste Perzentil der Gesellschaft hinein geboren wird, hat im Vergleich mit einem zur selben Zeit Geborenen aus dem obersten Perzentil eine um zehn Jahre geringere Lebenserwartung.

Fürwahr ist das ein zentrales Gerechtigkeitsproblem, das wir aber nicht durch eine Bürgerversicherung lösen können. Hier braucht es gesamtgesellschaftliche Anstrengungen – und das ist Prävention und nicht eine Veränderung der Finanzierungsverfahren.

Stichwort Digitalisierung: Glauben Sie, dass Deutschland hier den Anschluss verpassen könnte?

UF: Andere Länder sind hier viel weiter – wir sind da nicht an der Spitze des Fortschritts. Umso wichtiger ist es, dass das Thema Digitalisierung in der Politik und in den Chefetagen des Gesundheitssektors angekommen ist. Das zeigen auch die bisher bekannt gewordenen Wahlaussagen der politischen Parteien.

Nun, Sie haben das Thema schon beim Hautstadtkongress 2015 aufgegriffen. Es hat sich kaum etwas bewegt. Haben Sie eine Erklärung dafür?

UF: Ich will es zunächst salopp so umschreiben: ,Das haben wir in der Schule nicht gelernt.‘ Nein, im Ernst: Ich glaube, dass die Zurückhaltung auch mit der Furcht vor einer Aushebelung des Datenschutzes und damit von Datenmissbrauch zu begründen ist.

Hier sind die Verantwortlichen gefordert, die Befürchtungen und Ängste zu zerstreuen. In letzter Zeit nehme ich allerdings aus der Ärzteschaft wahr, dass dort mehr und mehr der Blick auf die Chancen gerichtet wird.

Versteht denn jeder überhaupt dasselbe unter Digitalisierung?

UF: Man muss definieren, was man unter diesem Begriff versteht. Ein großer Bereich ist die Telemedizin. Viele Projekte des Innovationsfonds liegen in diesem Bereich. Ein anderer Bereich ist die Präzisionsmedizin. Weiter geht es um die Sicherheit der Telematik-Infrastruktur. Dafür muss der Staat sorgen.

Wenn man weiß, dass man mit dem Hauptstadtkongress gezielt Themen platzieren kann, ist das nicht auch frustrierend, dass man sich mit manchen Botschaften nur schwer oder gar nicht durchsetzen kann?

UF: Wir müssen uns vor Augen führen, dass Deutschland in einigen Bereichen der Medizin längst nicht mehr Spitze ist, sondern ins Mittelfeld oder auf auf einen hinteren Platz abgerutscht ist.

Was meinen Sie konkret?

UF: Das gilt für Sterblichkeit bei Herzinfarkt, ebenso wie für die Versorgung von Diabetikern und auch für einige Bereiche in der Onkologie. Ich bin der Meinungen, dass Innovationen den Patienten zur Verfügung gestellt werden müssen. Und das gilt nicht nur für Produkt- , sondern auch für Prozess-Innovationen.

Herr Fink, 20 Jahre Hauptstadtkongress in Berlin – was bedeutet das für den Erfinder des Kongresses, wenn er in die Zukunft schaut?

UF: Wenn‘s den Hauptstadtkongress nicht gäbe, dann müsste man ihn erfinden ...

Senator a. D. Ulf Fink

Aktuelle Position: Kongresspräsident des Haupstadtkongresses; Vorsitzender des Vereins Gesundheitsstadt Berlin.

Werdegang: Fink, Jahrgang 1942, studierte Volkswirtschaft in Hamburg, Marburg und Bonn.

Karriere: Fink war in den 1970er Jahren enger Mitarbeiter des damaligen rheinland-pfälzischen Sozialministers und späteren CDU-Generalsekretärs Heiner Geißler. 1979 Bundesgeschäftsführer der CDU; von 1981 bis 1989 war er Senator für Gesundheit und Soziales im Berliner Senat, von 1990 bis 1994 stellvertretender DGB-Vorsitzender und von 1994 bis 2002 Bundestagsabgeordneter.

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