Wann kommt die industrielle Revolution in der Medizin?

Teufelszeug für die einen, eine Chance für bessere und effiziente Patientenversorgung: die Industrialisierung.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:

BERLIN. Die Medizin in Deutschland befindet sich in einem vorindustriellen Stadium ihrer Geschichte. Wie ein Mantra wiederholt Professor Heinz Lohmann seit Monaten seinen Befund. Der Vorsitzende der Initiative Gesundheitswirtschaft fordert den Sprung in eine industrielle Phase der medizinischen Versorgung.

Viele Ärzte fühlen sich heute schon, als arbeiteten sie am Fließband. Simplem Fordismus redet Lohmann allerdings nicht das Wort. Ihm schwebt vielmehr die Übernahme moderner Managementmethoden vor, das verstärkte Nutzen der Informationstechnologien, die Einführung der Monistik und die Ermöglichung des Vorsteuerabzuges, um zum Beispiel Kliniken die Einführung moderner Betriebskonzepte zu erlauben. Außerdem stehen auf seinem Plan Steuererleichterungen für die zusätzlichen Gesundheitsausgaben von Privatpersonen und Betrieben.

Der Staat schafft nur noch einen Ordnungsrahmen

Den Staat will die Initiative Gesundheitswirtschaft weitgehend aus der Organisation des Gesundheitswesens verdrängen. "Die Normalisierung der Branche", so Lohmann, "muss von der Politik durch Beseitigung von Innovationshemmnissen befördert werden." Der Staat solle sich darauf beschränken, die Marktordnung festzusetzen und den Patientenschutz zu gewährleisten.

Vor allem der digitalen Industrialisierung des Gesundheitssystems gilt Lohmanns Interesse. Dazu müsse der Medizinbetrieb mehr Systempartnerschaften eingehen. Ein Beispiel: Krankenhäuser wollen nicht einzelne Reagenzien für das Labor kaufen, sie wollen die Systemlösung einschließlich der dazugehörigen Prozesse nutzen und dabei nur das bezahlen, was sie auch in Anspruch nehmen. Die Hersteller von Medizintechnik werden nach diesem von Lohmann skizzierten Modell zu Entwicklungspartnern für gemeinsam definierte Lösungen, die anschließend auch im laufenden Betrieb begleitet und betreut werden. Aus den heutigen Lieferanten sollen Partner werden, die inhaltlich, prozessual und auch finanziell Verantwortung für einen Teil des Behandlungsprozesses übernehmen sollen.

Partnerschaften mit Technik und Pharma

Strategische Partnerschaften zwischen Industrie, Service- und Medizintechnik stehen auf der Agenda auch von Professor Jörg Debatin, Vorstandsvorsitzender des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf. Für ihn stehen digitale Netzwerke und modernste Technologien nicht im Widerspruch zur persönlichen Zuwendung zum Patienten. Die Technik helfe vielmehr, die Medizin zu individualisieren. Der moderne Patient sei mobil und benötige daher ständig Zugang zu seinen medizinischen Daten. In Deutschland würden die vorhandenen Technologien jedoch zu langsam in die Praxis übernommen. Verantwortlich dafür seien unter anderem bürokratische Hürden für Forscher und Ärzte.

So wie bei Tin Lizzy wird es nicht funktionieren.

Nicht alle teilen die Begeisterung für Fortschritt und Technik, wie sie die Sprecher der Initiative Gesundheitswirtschaft ausstrahlen. So fürchten kritische Analysten in der privatwirtschaftlich organisierten Industrialisierung des Gesundheitswesens unter anderem den Versuch der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie, sich der Fesseln der Budgetierung zu entledigen und höhere Umsätze zu erzielen, ohne diese über steigende Anteile an den Lohnnebenkosten mitfinanzieren zu müssen. Die Gewerkschaften, vor allem Verdi, fürchten den Druck, den ein höherer Grad an Technisierung und Auslagerung von Dienstleistungen im Medizinbetrieb für die Belegschaften der Krankenhäuser und deren Löhne bedeuten könnte.

Skeptische Haltung bei KBV und Bundesärztekammer

Nicht zuletzt artikulieren Bundesärztekammer und KBV Widerstände gegen eine Industrialisierung der Medizin. Sie fürchten, dass eine humane Patientenversorgung dann auf den Kopf gestellt werden würde: durch den Primat der Ökonomie über die Medizin. Getriggert werden könnte dies durch die zunehmende Privatisierung des Kliniksektors, den Einstieg von medizinfremden Investoren und den Einmarsch von Klinikkonzernen in die ambulante Medizin.

Industrielle Revolution in der Medizin: überflüssig oder überfällig? 27. Mai, 14  - 15.45 Uhr, Saal 6

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