Arznei gegen SARS-CoV-2

Wie Göttinger Forscher einen potenziellen Coronavirus-Wirkstoff fanden

Von Heidi Niemann Veröffentlicht:
Der Infektionsbiologe Dr. Markus Hoffmann hat für die Studie viele Stunden im Labor verbracht.

Der Infektionsbiologe Dr. Markus Hoffmann hat für die Studie viele Stunden im Labor verbracht.

© Manfred Eberle/DPZ

Göttingen. Weltweit suchen Wissenschaftler fieberhaft nach einem Impfstoff oder einer Arznei gegen COVID-19-Erkrankungen. Auch Forscher am Deutschen Primatenzentrum (DPZ) – Leibniz-Institut für Primatenforschung in Göttingen sind auf diesem Gebiet tätig – und haben dabei eine wichtige Entdeckung gemacht: Gemeinsam mit Kollegen der Berliner Charité fanden sie einen Ansatzpunkt, wie die Ausbreitung des neuartigen Erregers SARS-CoV-2 im Körper möglicherweise blockiert werden könnte (Cell 2020; online 5.März).

Die Veröffentlichung im Fachmagazin „Cell“ stieß nicht nur in Wissenschaftskreisen auf große Beachtung, auch diverse Medien berichteten über die Ergebnisse. „Wir erhalten ständig Anrufe und E-Mails von Menschen, die wissen wollen, wo man das Medikament bekommt“, erzählt der Infektionsbiologe und Erstautor der Studie, Dr. Markus Hoffmann.

Für den breiten Einsatz noch zu früh

Die Göttinger Forscher müssen dann stets erklären, dass es für den breiten Einsatz des Medikaments zur COVID-19-Therapie noch viel zu früh ist. In ihrer Studie hatten sie festgestellt, dass ein in Japan zugelassenes Medikament, das dort bei Entzündungen des Pankreas eingesetzt wird, das Eindringen des neuen Coronavirus in Lungenzellen blockiert. Dieser Nachweis hat allerdings bislang nur in Zellkultur stattgefunden. „Ob dies auch beim Menschen funktioniert, muss erst in klinischen Studien untersucht werden“, sagt Hoffmann. Auf keinen Fall sollte man den Wirkstoff im Selbstversuch anwenden.

Dass die Göttinger Forscher bereits wenige Wochen nach dem Bekanntwerden der neuartigen Erkrankung einen potenziellen „Wirkstoff-Kandidaten“ präsentieren konnten, ist gleichwohl ein bemerkenswerter Erfolg. Dazu beigetragen hat nicht nur ihre langjährige Erfahrung und Expertise auf dem Gebiet der Virologie, sondern auch ihre schnelle Reaktion. „Wir sind sofort hellhörig geworden, als im Dezember im Internet erste Hinweise auf eine bislang unbekannte Atemwegserkrankung in China auftauchten“, sagt Hoffmann.

Studenten direkt mit einbezogen

Die Göttinger Forscher verfolgten alle Neuigkeiten, die über die mysteriöse Krankheitswelle bekannt wurden. Schon bald kam der Verdacht auf, dass ein SARS-Coronavirus die schweren Lungenentzündungen hervorgerufen haben könnte. Der Leiter der Abteilung Infektionsbiologie am Primatenzentrum, Professor Stefan Pöhlmann, hielt gerade eine Vorlesung über die ebenfalls durch Corona-Viren hervorgerufenen Infektionskrankheiten SARS (Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom) und MERS (Middle East Respiratory Syndrome), als er die Nachricht bekam, dass sich der Verdacht bestätigt hatte: Ursache der Krankheitswelle in China war ein neuartiges Coronavirus. Pöhlmann gab diese Meldung gleich an seine Studenten weiter. „So wurden sie unmittelbar mit der Aktualität dieses Forschungsgebietes konfrontiert“, sagt der Virenforscher.

Forscher hinterlegten Genomsequenz in NCBI-Datenbank

Dann ging es Schlag auf Schlag: Einige Tage später – „Ich stand gerade im Supermarkt an der Fleischtheke“ – entdeckte Studienautor Hoffmann auf seinem Smartphone eine Nachricht, die ihn förmlich elektrisierte: Chinesische Forscher hatten die komplette Genomsequenz eines Isolats des neuen Coronavirus in der Datenbank des National Center for Biotechnology (NCBI) hinterlegt. Forscher in aller Welt konnten nun loslegen, um das Virus und seine Wirkungsweise zu erforschen. Das Göttinger Team wollte dabei an frühere Forschungen mit anderen Coronaviren anknüpfen.

Dafür benötigte Hoffmann einen ganz bestimmten Teil dieses Genoms. „Ich habe sofort meinen Chef angerufen, ob ich das kaufen darf“, erzählt der Infektionsbiologe. Nachdem er das „Okay“ erhalten hatte, ging er auf die Webseite einer deutschen Biotech-Firma, die auf derartige Gen-Synthesen spezialisiert ist, gab die entsprechenden Daten ein und drückte auf den Button „Bestellen“.

Nervöses warten auf künstliches Gen

Da für das künstlich hergestellte Gen eine Lieferzeit von rund drei Wochen avisiert war, konnte Hoffmann in Ruhe die Versuche vorbereiten. Dabei habe er allerdings ziemlich unter Strom gestanden, bekennt er: „Es war ja klar, dass ich in Konkurrenz zu anderen Wissenschaftlern stehe. Dementsprechend bin ich nervös hin- und hergerannt.“ Hoffmann hatte Glück: Während andere Forscher zum Teil sehr lange auf ihre Lieferung warten mussten, traf das von ihm bestellte Gen-Material sogar noch vor dem angekündigten Termin ein. Der Göttinger Wissenschaftler hatte sich somit einen günstigen Startplatz verschafft - gewissermaßen die „Pole Position“ im Wettrennen der Forscher.

Versuche im Akkord

Er habe dann im Akkord die Versuche durchgezogen, erzählt Hoffmann. „Dabei ging es gleich darum, einen therapeutischen Ansatzpunkt zu finden, also einen Weg, wie man verhindern kann, dass die Viren in die Zellen eindringen.“ Schon bei früheren Forschungen zu Coronaviren war ein Enzym – die Protease mit dem Namen TMPRSS2 –, ins Blickfeld der Forscher geraten. Proteasen spalten andere Proteine, und TMPRSS2 spaltet neben Proteinen der Zelle auch ein Protein auf der Oberfläche von Coronaviren. Dieses Protein wird durch die Spaltung aktiviert und dient den Viren als Schlüssel zur Zelle. Die neuen Versuche bestätigten, dass TMPRSS2 auch bei der Infektion mit dem neuen Coronavirus SARS-CoV-2 eine Schlüsselrolle zukommt. Nur mithilfe dieses Enzyms kann das Virus in menschliche Zellen eindringen.

Die Wissenschaftler untersuchten, wie man diesen „Türöffner“ blockieren könnte, und wurden fündig: Von dem in Japan zugelassenen Medikament „Camostat Mesilate“ war bereits bekannt, dass es das im Fokus stehende Enzym TMPRSS2 hemmt. Deshalb habe man untersucht, ob dieses Medikament, das bislang bei Entzündungen des Pankreas angewandt wird, auch die Infektion mit SARS-CoV-2 verhindern könne, erläutert Hoffmann.

Charité-Wissenschaftler prüften Forschungergebnis

Da die Göttinger Forscher derartige Untersuchungen nicht selbst vornehmen können, stellten sie den von ihnen identifizierten Hemmstoff den Experten der Berliner Charité zur Verfügung. Das dortige Institut für Virologie fungiert als nationales Referenzlabor für Coronaviren. Neben der Charité waren auch Wissenschaftler der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover, der BG-Unfallklinik Murnau, der Ludwig-Maximilian-Universität Münden, des Robert Koch-Instituts und des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung an dem Projekt beteiligt.

Die Charité-Wissenschaftler überprüften den Wirkstoff-Kandidaten anhand eines Virus, das von dem sogenannten deutschen Patienten „Nummer 1“ in München isoliert worden war. Die Untersuchungen ergaben, dass das Medikament das Eindringen des Virus in Lungenzellen blockiert. Von einem Durchbruch kann man nach Ansicht der Göttinger Forscher allerdings noch nicht sprechen. „Unsere Ergebnisse legen nahe, dass Camostat Mesilate auch vor der Krankheit COVID-19 schützen könnte“, lautet die vorsichtige Bewertung in der Pressemitteilung des Deutschen Primatenzentrums. Dies müsse jedoch erst in klinischen Studien untersucht werden.

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