Hintergrund

Befundfehler erleichtern Patienten Prozesse gegen Ärzte

Ärzte, die medizinisch gebotene Befunde nicht erheben, verschlechtern damit ihre Position in einem Kunstfehlerprozess.

Martin WortmannVon Martin Wortmann Veröffentlicht:

In einem jetzt veröffentlichten Leitsatz-Urteil stellte der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe klar: Ein Befunderhebungsfehler kann ausreichen, um die Beweislast zugunsten des Patienten und damit zu Lasten des Arztes umzukehren. Damit haben die obersten Zivilrichter zwar keine Kehrtwende in ihrer Rechtsprechung vollzogen. Offenbar fühlte sich der Bundesgerichtshof aber dazu veranlasst, diesbezüglich ausdrücklich Stellung zu beziehen und die bisherige Entscheidungslinie fortzuschreiben.

Sehstörungen wurden erst nach fünf Tagen behandelt

In dem vor dem BGH verhandelten Fall hatte sich der Kläger 1998 einer Bypass-Operation am Herzen unterzogen. Bereits kurz nach dem Eingriff traten Sehstörungen auf, doch erst drei Tage später wurde ein Augenarzt telefonisch konsultiert, und erst nach weiteren zwei Tagen wurde der Patient von einem Augenarzt untersucht. Die Fachärzte konnten nur noch das völlige Erblinden feststellen und machten als Ursache eine nicht-arteriitische anteriore ischämische Optikusneuropathie (N-AION) aus, die nur bei einer augenärztlichen Untersuchung festgestellt werden kann.

In seiner Klage vertrat der Patient die Ansicht, die behandelnden Krankenhausärzte trügen die Schuld an seiner Erblindung, weil sie diese Untersuchung verschleppt hätten. In der Vorinstanz sah hier auch das Oberlandesgericht (OLG) Bamberg einen Fehler. Nach Angaben der vom OLG beigezogenen Sachverständigen hätte eine erhöhte Gabe von ASS möglicherweise ein Auge retten können; dies war damals aber noch nicht etablierter Stand der Medizin. Daher wies das OLG die Klage ab: Der Patient habe nicht nachgewiesen, dass der Fehler für seine Erblindung ursächlich sei.

Teurer Vergleich nach unterbliebenem Aids-Test

Wie nun der BGH entschied, liegt die Nachweispflicht jedoch umgekehrt bei den Ärzten. Für eine solche Umkehr der Beweislast reiche eine "Nichterhebung medizinisch gebotener Befunde" aus. Es sei nicht erforderlich, dass dieser Fehler zusätzlich auch einen groben Behandlungsfehler zur Folge hatte, etwa weil die nach dem jeweiligen Stand der Medizin angezeigte Therapie unterblieben ist.

Nach dem Karlsruher Urteil muss es nicht einmal besonders wahrscheinlich sein, dass das Versäumnis bei der Diagnostik zu einem Schaden geführt hat. Die Beweislast bleibt danach nur dann ausnahmsweise beim Patienten, wenn "jeglicher haftungsbegründender Zusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist". Nach diesen Vorgaben muss das Oberlandesgericht Bamberg nun neu über den Streit entscheiden.

Wie der Münchner Fall eines unterbliebenen Aids-Tests zeigt, sollten Ärzte sich bei der Diagnostik nicht nur an zwingende Vorgaben, sondern an das bei den Kollegen Übliche halten. Wie berichtet, hatten sich hier Arzt und Patientin am Dienstag auf 1,4 Millionen Euro Schadenersatz geeinigt, nachdem die Frau wegen der eigenen HIV-Infektion ein geistig und körperlich behindertes Kind geboren hatte. Zuvor hatte das Landgericht München I entschieden, dass der Arzt grundsätzlich zum Schadenersatz verpflichtet ist.

Zwar heiße es in den Mutterschaftsrichtlinien nur, ein HIV-Test sei "gegebenenfalls bei jeder Schwangeren durchzuführen". Eine Umfrage habe jedoch ergeben, dass 93 Prozent der Münchner Gynäkologen diesen Test einsetzen. Dies lasse darauf schließen, dass der Test "Standard" sei, so das Landgericht München. Der Arzt hatte in dem Prozess argumentiert, er habe seine Patientin nicht gefragt, ob sie einen HIV-Test machen wolle, weil sie eine wohlhabende Person gewesen sei. Bei ihr sei keine HIV-Infektion zu erwarten gewesen. Sie hätte es als Affront empfinden können, nach einem Aids-Test gefragt zu werden. Die Frau wusste nichts von der eigenen Ansteckung.

Urteil des Bundesgerichtshofs, Az.: VI ZR 251/08; Urteil des Landgerichts München I, Az.: 9 O 14628/04

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