INTERVIEW

"Psychotherapie hat bei diesen Menschen keine Chance"

Nach den jüngst veröffentlichten Zahlen ist in Deutschland im Jahr 2004 die Gewaltkriminalität rechtsradikaler Täter auf 776 Gewaltdelikte gestiegen - von 759 im Jahr 2003. Insgesamt erreichte die rechtsextremistisch motivierte Kriminalität mit 12 051 Fällen einen Höchststand seit vier Jahren. Professor Andreas Marneros aus Halle-Wittenberg ist in vielen Neonazi-Prozessen psychiatrischer Gutachter gewesen. In seinem neuen Buch "Blinde Gewalt" (Scherz Verlag) setzt er sich a mit den Hintergründen der rechtsradikalen Gewalt auseinander. Fast alle Täter zeigten weder Reue noch Scham, so Marneros im Gespräch mit "Ärzte-Zeitungs"-Mitarbeiter Adelbert Reif.

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Ärzte Zeitung: Herr Professor Marneros, wie würden Sie die Persönlichkeitsstruktur rechtsradikaler Gewalttäter beschreiben?

Professor Andreas Marneros: Die rechtsradikalen Gewalttäter, die wir untersucht haben, weisen ohne Ausnahme eine extreme psychische Problematik auf. In der Hauptsache handelt es sich um Persönlichkeitsdefizite, die wiederum auf strukturelle Defizite in der Familie zurückzuführen sind. Darüber hinaus haben wir bei manchen schwere Traumata festgestellt, die in erster Linie mit der Eltern-Kind-Beziehung als einer enorm negativen, unter anderem durch physische oder auch emotionale Gewalt gekennzeichneten Beziehung zu tun haben. Diese Traumatisierung setzt sich dann in der zweiten Phase der Sozialisation, also in der näheren Lebensumgebung, auf dem Spielplatz, in der Schule fort.

Ärzte Zeitung: Lassen sich bei rechtsradikalen Gewalttätern gleichbleibende Muster in Bezug auf ihre Lebensgeschichte, ihre Einstellungen und ihre Taten ausmachen?

Marneros: In der Tat könnte man von einer Art Muster sprechen, obwohl individuelle Faktoren natürlich eine sehr große Rolle spielen. Wenn wir die statistische Mitte zum Maßstab nehmen, würde ich sagen: vorwiegend negative familiäre Verhältnisse und in deren Folge eine negative soziale Entwicklung, schwere Defizite in der Persönlichkeitsstruktur und das Gefühl des Verlierers sowie eine sehr ungenügende geistige Ausstattung im Bereich der Intellektualität. In der RegeI haben die Gewalttäter einen niedrigen oder sogar extrem niedrigen IQ. Dieser IQ zeigt eine weitere Benachteiligung und korreliert mit der Tatsache, daß sie Schulversager sind, keine positive soziale Mobilität besitzen und ähnliches mehr.

Ärzte Zeitung: Wo liegt das Durchschnittsalter der Gewalttäter?

Marneros: Auffallend ist ihr jugendliches Alter. Statistisch liegt es bei 20 Jahren, aber dieses Resultat, das dadurch zustande kommt, weil einige Täter älteren Jahrgängen angehören, verfälscht das tatsächliche Bild. In Wirklichkeit sind die meisten Täter unter 20 Jahren. Ganz traurige Gestalten geben die 15-, 16-, 17jährigen ab. Der jüngste von mir untersuchte Täter war 14 Jahre alt und gerade strafmündig geworden. Ich bin sogar einem an einem Mord beteiligten Täter begegnet, der sich seit seinem neunten Lebensjahr als Neonazi bezeichnete, obwohl er über keinerlei Kenntnisse der nationalsozialistischen Ideologie verfügte.

Ärzte Zeitung: Welche Funktion kommt generell dem ideologischen Hintergrund bei den rechtsradikalen Gewalttaten zu?

Marneros: Ich habe kaum einen rechtsextremistischen Gewalttäter kennengelernt, der über eine fundierte Ideologie verfügt hätte. Nach unseren wissenschaftlichen Forschungen weisen um die 90 Prozent der rechtsextremistischen Gewalttäter nicht die geringste Ideologie und keinerlei Hintergrundwissen auf. Sie geben nur leere Parolen, leere Floskeln von sich, die keinem Argument standhalten können.

Ärzte Zeitung: Konnten Sie in den Gesprächen mit den Tätern so etwas wie Reue feststellen?

Marneros: Bei gut 90 Prozent aller Täter konnte ich keinerlei Reue, keinerlei Scham über ihre Gewalttaten ausmachen. Vielmehr entdeckte ich eine absolute Unfähigkeit, sich in die Gefühle anderer Menschen, insbesondere der durch ihre Gewalttaten zu Schaden gekommenen Personen, hineinzuversetzen und ihnen gegenüber ein Mitgefühl zu entwickeln.

Ärzte Zeitung: Was kann vor diesem Hintergrund unter therapeutischen Gesichtspunkten geschehen?

Marneros: Prävention ist notwendig und muß so früh wie möglich stattfinden, spätestens in der Schule. In dem Moment aber - und das ist meine Empfehlung an alle Politiker, Gerichte und Sozialeinrichtungen -, wo Menschenleben und Menschenwürde ernstlich in Gefahr sind, kann Prävention keine Rolle mehr spielen. Hier schafft nur mehr die Gewaltisolation, die Bestrafung Abhilfe, so hart das auch klingen mag.

Ärzte Zeitung: Das heißt, Sie glauben nicht an die Wirkung therapeutischer Maßnahmen?

Marneros: Ich schränke die reine Therapierbarkeit beträchtlich ein. Eine Psychotherapie hat bei diesen Menschen keine Chance auf Erfolg, weil sie keinerlei Zugang bieten - weder von ihrer Intellektualität noch von ihrer Persönlichkeit her. Deswegen sehe ich Möglichkeiten zur Unterstützung auch eher auf sozialtherapeutischer Ebene. Aber diese Maßnahmen dürfen nicht zu ungunsten der Deutlichkeit der gesellschaftlichen Sprache, die solche Taten mit aller Schärfe verurteilt, durchgeführt werden. Die juristische und gesellschaftliche Konsequenz muß immer gewährleistet sein.

Ärzte Zeitung: Aber kann Strafe einen rechtsradikalen Gewalttäter bessern?

Marneros: Ich glaube nicht, daß dadurch der Mensch respektive seine Persönlichkeit geändert werden kann. Aber dieser Mensch weiß, daß er, sollte er wieder eine Gewalttat begehen, mit einer wahrscheinlich noch härteren Konsequenz zu rechnen hätte bis hin zur Sicherungsverwahrung nach dem dritten Fall. Die Angst vor den strafrechtlichen Konsequenzen muß von den Richtern ausgenutzt werden.

Ärzte Zeitung: Rechnen Sie für die nächste Zukunft mit einem Anwachsen der rechtsradikalen Gewalt?

Marneros: Damit ist leider zu rechnen. Die Statistik bestätigt das: Wir registrieren eine ständige Zunahme rechtsradikaler Aktivitäten.

Was mir große Sorgen bereitet ist, daß die deutsche Gesellschaft auf diese Entwicklung kaum mehr reagiert und schon gar keine konsequente Haltung einnimmt. Das hat zur Folge, daß die rechtsradikalen Gewalttäter diese Unentschlossenheit als Bestätigung für die Akzeptanz der rechtsextremistischen Parteien durch die demokratische Majorität interpretieren.

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