Hirnforscher untersuchen "El Silbo", die Pfeifsprache auf La Gomera

Von Jörg Vogelsänger Veröffentlicht:

Lange bevor im 15. Jahrhundert die ersten spanischen Eroberer kamen, verständigten sich die Ureinwohner auf La Gomera pfeifend. Diese alte Tradition, die lange Zeit nur noch von einigen wenigen Hirten und Bauern in abgelegenen Gegenden der kleinen Kanareninsel gepflegt worden war, wird seit 1999 an den Schulen gefördert.

Dort ist "El Silbo", wie die Pfeifsprache genannt wird, vielerorts inzwischen Pflichtfach. Einer kürzlich im Fachjournal "Nature" (433, 2005, 31) veröffentlichten Studie zufolge beweist "El Silbo" ("Der Pfiff"), wie vielseitig das menschliche Gehirn bei der Sprachverarbeitung ist.

Denn bei den Silbadores (den Pfeifern) aktivieren die Laute jene Zentren in der linken Gehirnhälfte, die normalerweise nur dazu dienen, gesprochene Sprache zu erkennen, wie ein internationales Forscherteam festgestellt hat. Bei Menschen, die mit der Pfeifsprache nicht vertraut sind, löst diese dagegen keine Reaktion in den Sprachzentren des Gehirns aus.

"Das Ergebnis unserer Studie zeigt, daß die linke Gehirnhälfte sich unabhängig von der Art des Signals auf einzigartige Weise an die Kommunikationsbedürfnisse anpaßt", erklären der Psychologe Professor Manuel Carreiras von der Universität La Laguna (Teneriffa) und sein US-Kollege David Corina von der Universität Washington.

Die Ursprünge der Pfeifsprache sind unklar. Möglicherweise stammt sie von Volksstämmen aus dem Atlas-Gebirge im heutigen Marokko. Fest steht aber, daß zwei französische Missionare bereits 1413 in einem "Le Canarien" getitelten Manuskript über einen merkwürdigen Stamm auf den Kanaren berichteten, "der nur mit den Lippen spricht". Damals wurde "El Silbo" auch auf El Hierro und auf Teneriffa benutzt, allerdings in der Sprache der Ureinwohner, der Guanchen. Erst seit der Eroberung des Archipels wurde "auf spanisch" gepfiffen.

Lange Zeit glaubte man, "El Silbo" sei entstanden, weil die Konquistadoren aufständischen Ureinwohnern zur Strafe die Zunge abgeschnitten hätten. Diese These ist aber inzwischen widerlegt. Vielmehr ist die Pfeifsprache aus einer Not heraus geboren worden: Wegen der vielen Schluchten war es für die verschiedenen Sippen auf La Gomera schwierig, miteinander zu kommunizieren. Mit Pfiffen konnten sie sich hingegen über eine Entfernung von bis zu sechs Kilometern verständigen - wie die Hirten heute noch.

Die Technik des "Silbo" ist einfach: Zeige- und Mittelfinger werden in den Mund gelegt, die Töne entstehen mit Hilfe der Zunge, wenn beim Ausstoßen der Luft die Lippen gleichzeitig gespitzt oder in die Breite gezogen werden. Die andere Hand dient als Schalltrichter.

Das Schwierige sei die Deutung der Pfiffe, erläutert der Philologe Ramón Correa. Zwar besteht "El Silbo" im Grunde nur aus zwei Vokalen und vier Konsonanten, es handelt sich jedoch um eine sehr variationsreiche Sprache, bei der es um die Höhe und Stärke eines jeden Tons geht.

So lernen die Schulkinder als erstes, ihre Namen zu pfeifen. Kompliziert wird es, wenn beispielsweise zwei Schüler Juan heißen. Um Verwechslungen auszuschließen, muß dann der Nachname mitgepfiffen werden. "Eigentlich kann man mit ‚El Silbo‘ alles mitteilen, es bedarf aber eines geschulten Gehörs", erklärt Correa.

Als Lehrmeister engagierten die Schulen echte Profis wie Lino Rodriguez. Der alte Hirte wuchs mit der Pfeifsprache auf. "Als ich ein Kind war und in den Bergen lebte, hatten wir weder Strom noch Telefon. Mein Vater gab mir damals mit Pfiffen zu verstehen, ob er eine Hacke, einen Spaten oder eine Kanne Wasser brauchte." Auch habe man auf diese Weise von Geburten oder Todesfällen erfahren.

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