Hintergrund

Briten verordnen Ärzten mehr Wettbewerb

Eine Gesundheitsreform, die man aus dem Weltall sehen kann: Großbritannien krempelt seinen Gesundheitsdienst NHS um. Ärzten droht mehr Wettbewerb - und mehr Privatisierung.

Arndt StrieglerVon Arndt Striegler Veröffentlicht:
Skeptische Blicke: Frauen in einem NHS-Hospital in London.

Skeptische Blicke: Frauen in einem NHS-Hospital in London.

© Andy Rain / epa / dpa

Der staatliche britische Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) steht vor tief greifenden Reformen. Nach monatelangem politischen Streit verabschiedete das Londoner Unterhaus kürzlich ein Reformpaket, das Hausarztpraxen sowie Kliniken grundlegend verändern soll.

Gesundheitspolitische Beobachter erwarten, dass sich die Stellung und Arbeitsweise der Hausärzte im Gesundheitswesen stark verändern wird. Die Ärzte sind nervös.

Ziel der NHS-Reformen ist es laut Gesundheitsminister Andrew Lansley, den staatlichen Gesundheitsdienst weniger bürokratisch zu machen sowie die Rolle der Hausärzte weiter zu stärken.

Großbritannien hat seit 1948 ein staatliches Gesundheitssystem, das auf dem Primärarztprinzip basiert. Erste Anlaufstelle für Patienten ist stets der Hausarzt.

Dieser überweist zum Facharzt oder in die Klinik. Fachärzte praktizieren in den Kliniken und nicht in freier Praxis. Die freie Arztwahl der Patienten ist - bislang zumindest - erheblich eingeschränkt.

Eigenständige Budgetkontrolle

Die jüngsten Gesundheitsreformen der konservativ-liberalen Koalitionsregierung unter Premierminister David Cameron zielen darauf ab, den NHS-Hausärzten mehr Freiheiten einzuräumen.

Erstmals sollen Hausärzte mehr oder weniger eigenständig über ihre Budgets verfügen dürfen. Praktisch bedeutet das, dass die rund 100.000 NHS-Hausärzte über Milliardenbeträge entscheiden werden.

Die Idee ist, dass der Hausarzt für seinen Patienten direkt im Krankenhaus Operationen oder fachärztliche Konsultationen einkauft. Das werde den Wettbewerb innerhalb des stationären Sektors fördern, argumentiert der Gesundheitsminister.

Freilich: Ärztliche Berufsverbände, Zahnärzte und Gewerkschaften sind ebenso skeptisch wie die Patientenverbände.

"Es besteht die Gefahr, dass mehr Wettbewerb und damit die Involvierung privater Leistungsanbieter das Prinzip der staatlichen Gesundheitsversorgung, die grundsätzlich für jeden Bürger kostenlos ist, untergräbt", sagte eine Sprecherin des britischen Ärztebundes BMA (British Medical Association) der "Ärzte Zeitung" in London.

Und: "Wir fürchten uns vor einer schleichenden Privatisierung des Gesundheitswesens."

Gesundheitspolitische Beobachter nennen die jetzt vom Parlament nach rund 50 Stunden Parlamentsdebatte und 14-monatiger Beratungsphase verabschiedeten Reformen "eine Jahrhundertreform".

20.000 Stellen sollen gestrichen werden

"Die Umwälzungen sind so enorm, dass man sie sogar aus dem Weltall sehen kann", spottete die "Times".

In Zahlen: Die Regierung Cameron hofft, durch die Reformen Effizienz-Einsparungen von "mindestens zehn Milliarden Pfund (rund 13 Milliarden Euro) in den nächsten zehn Jahren" zu schaffen.

Rund 20.000 Verwaltungsstellen sollen wegrationalisiert werden. Gleichzeitig versprach der Gesundheitsminister mehrfach, dass die sogenannten Frontline Services, also die direkte Patientenversorgung, nicht gekürzt werde.

Immerhin ist der NHS heute mit jährlichen Ausgaben von rund 104 Milliarden Pfund der mit Abstand größte Kostenblock im britischen Staat.

Allerdings geht es bei der Reform um mehr als nur ums Geld. Stichwort Privatmedizin. Die Regierung wünscht sich "mehr Wettbewerb innerhalb des NHS".

Zum einen sollen Arztpraxen und Staatskrankenhäuser untereinander um Patienten werben. Davon erhofft sich das Gesundheitsministerium mehr Effizienz. Zum anderen sollen Ärzte wieder mehr Entscheidungsfreiheit erhalten.

So ist etwa geplant, die bisherige enge und wenig flexible Vernetzung von Haus- und Fachärzten, Kliniken und ambulanten Pflegediensten zu entzerren in der Hoffnung, die Arbeit der Ärzte flexibler zu gestalten und somit Patienten mündiger zu machen.

Konkret: Patienten sollen mehr Mitspracherecht bekommen, in welche Klinik sie überwiesen werden.

Die Regierung hofft, dass diese neue Form der Marktwirtschaft dazu führen wird, dass Kliniken, die gut arbeiten, mit besseren Patientenzahlen belohnt werden. Mehr Patienten bedeutet in der Regel auch mehr Geld aus dem Gesundheitsetat.

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Kommentare
Helmut Hildebrandt 02.04.201210:42 Uhr

Integrierte Versorgung - made in UK

Das "Commissioning" durch Ärztegruppen, wie es jetzt in Großbritannien vorgesehen ist, kommt der Regionalen Integrierten Vollversorgung in Deutschland, wie wir sie im Kinzigtal in Südbaden praktizieren, recht nahe. Zumindest würde es ähnliche Lösungen ermöglichen. Allerdings steckt der Teufel sicherlich noch im Detail.
In unserer nächsten Ausgabe unseres Newsletters "OptiMedium" werden wir darauf noch näher eingehen. vgl. www.optimedis.de

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