Autismus-Diagnose kann bei kleinen Kindern mehr schaden als nützen

Verzögert sich die Sprachentwicklung? Schlägt das Kind ständig mit dem Löffel auf den Tisch? Das kann auf Autismus deuten, muss aber nicht. Oft ist ein Logopäde hier hilfreicher als ein Psychiater.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:
Autisten nehmen ihre Umgebung anders wahr. ©Photos.com

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Eine autistische Störung ist nicht bereits in der Wiege erkennbar, wie früher angenommen worden ist. Im Gegenteil. Bis etwa zum sechsten Lebensmonat entwickeln sich die Kinder normal. Beginnend im zweiten Lebenshalbjahr jedoch nehmen die sozialen Kommunikationsfähigkeiten wie soziales Lächeln oder Anschauen des Gegenübers dramatisch ab, haben Kinderpsychiater in den USA jetzt mit einer aufwändigen Studie bestätigt (J Am Acad Child Adolesc Psych 49, 2010, 256). Das heißt allerdings nicht, dass bereits im Alter von 12 bis 18 Monaten eine autistische Störung sicher diagnostiziert werden könne, betont Professor Christine M. Freitag, Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Frankfurt am Main.

Fehldiagnosen bei drei von zehn Kindern

Trotz hohen Risikos für eine Fehldiagnose glaubten einige Ärzte jedoch, sie könnten Autismus in diesem Alter bereits klar erkennen, so Freitag im Vorfeld des Autismuskongresses, der am Samstag in Frankfurt/Main stattfindet. Nur weil bei einem anderthalbjährigen Kind eine Sprachentwicklungsverzögerung auftritt, müsse nicht gleich eine autistische Störung vorliegen.

Man könne mit dem Kind zunächst logopädisch arbeiten, ohne die Eltern mit der womöglich falschen Diagnose in Verzweiflung zu stürzen, so Freitag. Sie hält Fehldiagnosen in dieser frühen Phase bei mindestens 30 Prozent der auffälligen Kinder für möglich. "Ist die Diagnose falsch, hat man viel Schaden angerichtet", warnt die Autismus-Expertin. Wenn man im Alter von zwei Jahren die Störung diagnostiziere, reiche das auch aus therapeutischer Sicht völlig aus.

Es ist keineswegs trivial, die Diagnose einer autistischen Störung richtig und früh zu stellen. Die meisten Eltern der betroffenen Kinder nehmen den Verlust der Kommunikationsfähigkeit und die Verhaltensänderungen ihrer Kinder zunächst gar nicht wahr, so ein Hauptergebnis der US-Studie. Sprachentwicklungsverzögerungen sind ein Frühzeichen. Typisch sind zudem stereotype und repetitive Handlungen. Die Kinder interessieren sich kaum für Spielzeug, nehmen irgendetwas in die Hand und schlagen es immer wieder auf den Boden oder auf den Tisch.

"Ein einjähriges Kind, das einen Kaffeelöffel in die Hand bekommt, haut damit natürlich ebenfalls auf den Tisch, ohne dass das krankhaft wäre", so Freitag. "Wenn das jedoch ein zweijähriges Kind immer noch macht und sonst nichts anderes tut, dann ist das ein Alarmzeichen." Autistische Kinder schauen andere Kinder nicht an oder schubsen sie weg.

Ist die Grobmotorik zunächst unauffällig, fallen bei frühkindlichem Autismus später Störungen der Feinmotorik und der Koordination auf. Etwa 70 Prozent der Kinder mit frühkindlichem Autismus sind intelligenzgemindert (IQ unter 70) - im Gegensatz zum Asperger-Syndrom, einer autistischen Störung, die nach dem dritten Lebensjahr auftritt und auch keine sprachliche Entwicklungsstörungen aufweist.

Insgesamt unterscheiden Psychiater heute den frühkindlichen und den atypischen Autismus sowie das Asperger-Syndrom. Andere Entwicklungsstörungen wie etwa das Rett-Syndrom werden nicht mehr den autistischen Störungen zugeordnet.

Mit sechs bis sieben Erkrankungen pro 1000 Neugeborene ist Autismus relativ häufig, Geschwister eines betroffenen Kindes erkranken mit einer sehr viel höheren Wahrscheinlichkeit. Ein allgemeines pathophysiologisches Korrelat der Krankheitsbilder ist bislang nicht bekannt. Fest scheint zu stehen, dass es sich um eine multigenetische Störung handelt. Mit funktioneller MRT ist nachgewiesen worden, dass zur Verarbeitung komplexer Funktionen des Gehirns verschiedene, teilweise weit auseinander liegende Hirnareale zusammenarbeiten müssen. Dies funktioniere bei autistisch gestörten Menschen nicht, so Freitag.

Diagnose am besten in spezialisierten Zentren

Die Expertin spricht sich dafür aus, für die Sicherung der Diagnose spezialisierte Zentren in Anspruch zu nehmen, zumal die Diagnostik sehr umfangreich und zeitaufwändig sei. Es gelte wichtige Differenzialdiagnosen wie geistige Behinderungen ohne Autismus, Störungen des Sozialverhaltens, Zwangserkrankungen oder das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom auszuschließen. Therapeutisch steht die Verhaltenstherapie im Vordergrund. Freitag empfiehlt eine Therapieintensität von etwa 20 Stunden pro Woche. Davon wird jedoch nur ein kleiner Teil von Sozialhilfeträgern finanziert.

Dennoch gebe es diverse Möglichkeiten, intensiv mit den Kindern zu arbeiten, zum Beispiel in integrativen Kindergärten. Damit wird etwa das aggressive Verhalten der Kinder erheblich reduziert, die Sprache gefördert, die Kinder können schulfähig werden. Zusätzlich werden mit Psychopharmaka individuelle Probleme wie stereotypes Verhalten, Schlafstörungen, Angststörungen oder depressive Episoden angegangen.

Autismuskongress am Samstag

Am Samstag, 13. März, findet zusammen mit niederländischen Ärzten und Therapeuten der 1. Autismus-Kongress Frankfurt 2010 im Congress Park Hanau statt. Eingeladen sind auch Eltern und Betroffene. Infos unter: www.autismus-kongress.de.

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