Hintergrund

Die Tablette gegen HIV bleibt Utopie

Ist der Schutz vor einer HIV-Infektion mit nur einer Tablette am Tag möglich? Die Daten einer Studie haben eine Schutzrate von bis zu 73 Prozent ergeben. Doch schon diese Zahl macht klar: Zur Euphorie besteht kein Anlass.

Von Michael Hubert Veröffentlicht:
Zur HIV-Therapie müssen schon länger nicht mehr so viele Tabletten genommen werden. Zur Prophylaxe bringt schon eine Tablette etwas.

Zur HIV-Therapie müssen schon länger nicht mehr so viele Tabletten genommen werden. Zur Prophylaxe bringt schon eine Tablette etwas.

© RRF / fotolia.com

"Neuer Erfolg im Kampf gegen Aids" meldet die Deutsche Presseagentur dpa. Der Anlass: die Ergebnisse zweier Studien. Eine erfolgte in Kenia und Uganda. Die Studie wurde im Sommer 2008 bei 4758 Paaren begonnen, von denen jeweils ein Partner mit HIV infiziert war.

Die Teilnehmer wurden eingehend beraten und erhielten Kondome für Männer und Frauen. Ein Teil der gesunden Teilnehmer nahm antiretroviralen Medikamente ein, der andere Teil erhielt Placebos.

Bis Ende Mai dieses Jahres hatten sich 47 der Placebo-Einnehmer infiziert, aber nur 18 von denen, die Tenofovir nahmen und 13, die Tenofovir und Emtricitabin in Kombination bekamen.

73 Prozent weniger Infektion in der Verumgruppe

Im Vergleich zur Placebogruppe war die Infektionsrate in der Tenofovir-Gruppe um 62 Prozent, in der Gruppe mit beiden antiviralen Arzneien um 73 Prozent niedriger.

Eine Studie in Botswana mit 1200 Teilnehmern hatte eine um 63 Prozent geringere Infektionsrate ergeben, wenn die Kombi der beiden Virostatika eingenommen wurde. Die Ergebnisse hat die UN-Abteilung für HIV/Aids (UNAIDS) veröffentlicht.

Ähnliche Erfolgsberichte hatte es vergangenes Jahr bei der Welt-Aids-Konferenz in Wien gegeben. Dabei ging es nicht um die Präexpositionsprophylaxe, sondern die Anwendung von Mikrobiziden durch Frauen und die Beschneidung von Männern.

Beschneidung gegen HIV-Infektionen

Nach einer in Wien vorgestellten Modellrechnung würde die HIV-Infektionsrate bei Männern um 60 Prozent sinken, wenn jeder zweite Mann beschnitten wäre. Derzeit sind in der Südsahararegion knapp 20 Prozent der Männer beschnitten.

Auf die Gesamtbevölkerung bezogen bedeutet das nur einen Rückgang an HIV-Neuinfektionen von zwölf Prozent. Auch bei Anwendung von Mikrobiziden ist der Nutzen für die Gesamtbevölkerung - ausgedrückt in Zahlen - niedrig, hieß es 2010 in Wien.

Die Rate an Neuinfektionen ließe sich um nur gut acht Prozent senken. Und dazu müssten die Präparate eine Anwendungsquote von 80 Prozent und eine Wirksamkeit von 60 Prozent haben. Mit beiden Maßnahmen zusammen ließe sich die HIV-Inzidenz also nur um etwa 20 Prozent senken, warnten die Experten in Wien.

Kein vollständiger Schutz vor HIV

Auch zu den aktuellen Studienergebnissen warnen UNAIDS und die WHO davor, sich mit Tabletten in Sicherheit zu wiegen: "Keine der bisher untersuchten Schutzmaßnahmen allein schützt komplett vor HIV."

Die Tabletten müssten mit anderen Methoden kombiniert werden, etwa Kondomen, medizinischer männlicher Beschneidung, einer geringeren Partnerzahl und längerem Warten bis zum ersten Sex.

Die Bedeutung der Kombination mehrerer Maßnahmen hatte auch der HIV-Experte Dr. Anthony Fauci zum 30. Aids-Jahrestag am 5. Juni 2011 betont. Es besteht große Einigkeit unter den HIV-Experten, dass die Präexpositionsprophylaxe (PrEP) allein nicht geeignet ist, die weltweite HIVEpidemie zu besiegen.

Gefahr der trügerischen Sicherheit

Für eine PrEP in größerem Maßstab bleiben zudem viele Fragen offen: Wer bekommt die Arzneien und wie, wie erfolgt die Aufklärung über die Medikation, ihre Möglichkeiten und Schwächen sowie die darüber hinaus nötigen weiteren Schutzmaßnahmen.

Zudem besteht immer auch die Gefahr, dass Menschen glauben, der einmalige Gebrauch von PrEP-Arzneien könne vor einer Ansteckung schützen. Wenn statt eines Kondoms überzurollen eine Tablette genommen wird, könnte das fatale Auswirkungen haben.

Nicht zuletzt ist die Finanzierung größerer PrEP-Programme unklar - auch wenn UNAIDS pro Tablette Kosten von nur 0,25 US-Cent angeben.

Therapie nicht aus dem Blick verlieren

Darüber hinaus ist unstrittig, dass außer in die Prophylaxe-Forschung - zumal hier vieles klar ist - Gelder auch in Heilung investiert werden müssen. Hier wird bereits an therapeutischen Vakzinen, aber auch an Fünffach-Arznei-Kombinationen geforscht, um das HI-Virus vollständig aus dem Körper zu eliminieren.

Zudem wird versucht, patienteneigene T-Zellen gentechnisch so zu verändern, dass das Virus sich in ihnen nicht vermehren kann. Dass die Heilung von einer chronischen Virusinfektion prinzipiell möglich ist, zeigt die Hepatitis C. Hier sind Heilungsraten von bis zu 80 Prozent möglich.

Einer möglichen Euphorie durch Erfolgsmeldungen gegen HIV muss derzeit noch entscheiden entgegengetreten werden. Und Studiendaten müssen nüchtern betrachtet und auf ihren Wert für große Populationen hin geprüft werden.

Lesen Sie dazu auch: AIDS-Stiftung fordert finanzielle Unterstützung

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