Hirnforschung ist kein Thema nur für die Experten

DRESDEN. "Jetzt kann ich mir gut vorstellen, wie kompliziert es ist, medizinische Leitlinien zu entwickeln", beschreibt der Allgemeinmediziner Dr. Wolfgang Zerahn aus Bad Wildungen seinen Eindruck am Ende eines langen Diskussionsprozesses mit 13 anderen Bürgern über Chancen und Risiken der Hirnforschung. Unverzichtbar für ein besseres Verständnis der Folgen von Hirnforschung ist die bessere Information der Öffentlichkeit. Dies ist eine der Forderungen im Gutachten, das die 14 "Bürger-Laien" am Ende einer zweitägigen Bürgerkonferenz in Dresden zum Thema Hirnforschung erarbeitet haben.

Von Brigitte Düring Veröffentlicht:

Hirnforschung ist eine Disziplin, über die ausschließlich Experten kompetent diskutieren können - so mag man meinen. Viel zu komplex für Laien? Eine Bürgerkonferenz zu dem Thema in Dresden hat das Gegenteil gezeigt. Der Arzt Dr. Wolfgang Zerahn ist einer von 14 zufällig ausgewählten Bürgern aus Deutschland gewesen, die sich über ein dreiviertel Jahr lang an dem europäischen Projekt "Meeting of Minds" beteiligt haben.

Vorläufiger Höhepunkt war Ende November 2005 das zweitägige Treffen der Gruppe in Dresden. Ziel war es zu zeigen, wie Bürgern die aktive Auseinandersetzung mit den Folgen von Wissenschaft und Forschung ermöglicht werden kann.

Vorsorglich eingesperrt - der Hirnscan liefert die Begründung?

Initiiert von der belgischen King-Baudouin-Stiftung und einer europäischen Arbeitsgemeinschaft zur Technikfolgenabschätzung haben 123 Bürger aus neun europäischen Ländern die Gelegenheit erhalten, mehr darüber zu erfahren, wie gesellschaftlich brisant die Forschungsergebnisse von Hirnforschern künftig sein können.

Ein Beispiel: Werden Menschen eines Tages vorsorglich weggesperrt, wenn durch moderne bildgebende Verfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann, daß sie künftig straffällig werden könnten? Die 14 Bürger konnten ihre Fragen mit Hirnforschern, Philosophen, Juristen, Politikern und mit Betroffenenverbänden diskutieren.

Um die Bürger bei der Beschäftigung mit dem komplexen Gebiet zu unterstützen, wurden sie mit Hilfe von Fallstudien in das Thema eingeführt. Die Fallstudien sollten sie zum Überlegen und Nachdenken anregen, ohne über technische und wissenschaftliche Hürden zu stolpern. Die Fälle veranschaulichten, wie neue Entwicklungen in der Hirnforschung das normale Leben beeinträchtigen könnten.

Der Gruppe wurden mehrere neurologische Erkrankungen vorgestellt, darunter Alzheimer und ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Störung). Sie wurden auch mit provokanten Fragen konfrontiert, zum Beispiel, ob Arzneimittel eingesetzt werden sollten, um die natürlichen Fähigkeiten des Gehirns zu verbessern.

Nach mehreren Treffen in Brüssel und in Dresden hat sich die Gruppe für die Beratung ihres endgültigen Votums Ende November 2005 in Dresden im Deutschen Hygiene-Museum getroffen. Dort haben sie mit Experten diskutiert, darunter Dr. Elisabeth Hildt (Lehrstuhl für Ethik in den Biowissenschaften der Uni Tübingen) und dem Strafrechtler Professor Björn Burkhardt (Uni Mannheim).

Am Ende des Prozesses in der Gruppe stand ein Gutachten, das Ende November vergangenen Jahres der Öffentlichkeit vorgestellt worden ist. Vom 20. bis 23. Januar hat in Brüssel zudem das europäische Abschlußtreffen aller Teilnehmer aus den acht weiteren Ländern stattgefunden. Dort wurden die Positionen der nationalen Gruppen zusammengeführt und ein Endgutachten veröffentlich.

"Was wir hier tun, ist schon ziemlich anstrengend. Für mich wirft das ein neues Licht auf Demokratie", berichtet Wolfgang Zerahn über den Beratungsprozeß in der Gruppe. "Ich halte es für sehr wichtig, daß Politiker auch die Vermittlung zu den Bürgern schaffen", meint der Arzt. Die Erfahrung, direkt zu erleben, wie Meinungsbildung stattfindet, möchte er nicht missen.

Die Krankenschwester Dagmar Menge hat sich zunächst aus beruflichen Gründen für die Bürgerkonferenz interessiert. In der Pflege habe sie öfter mit dementen Patienten zu tun, erzählt sie. Bei einer Konferenz in Brüssel fand sie es spannend, aus anderen Ländern zu erfahren, wie der Umgang etwa mit Alzheimer-Patienten dort gehandhabt wird.

"Durch unsere gemeinsamen Beratungen bin ich jetzt davon überzeugt, daß Politiker sich viel mehr darum kümmern müssen, was Bürger denken und wünschen", betont sie. "Unsere Ergebnisse werden andere Bürger motivieren, sich dem Thema Hirnforschung zuzuwenden", glaubt die Pflegerin.

Das beste Regulativ ist die informierte Öffentlichkeit

Ihre Positionen hat die Gruppe in einem 40 Seiten umfassenden Abschlußbericht dokumentiert. Einige Beispiele aus dem Bericht:

  • Braucht es bei der Hirnforschung mehr Regulierung und Kontrolle? Nein, sagten die Mitglieder der Bürgerkonferenz. Es gibt bereits viele Regelungen, so im Biomedizin- und im Arzneimittelgesetz. Das beste Regulativ in einer Demokratie bestehe darin, "Öffentlichkeit über Forschungsergebnisse und Behandlungsmethoden herzustellen".
  • Welche Defizite gibt es bisher bei der Information der Öffentlichkeit? Die Bürgerkonferenz hat kritisch festgestellt, daß Informationen zur Hirnforschung nur in wissenschaftlichen Kreisen zirkulieren, für Bürger aber schwer zugänglich oder schwer verständlich sind. Auch existiert keine zentrale Datenbank, in der Ergebnisse von Hirnforschern zusammengetragen werden. Die Teilnehmer befürworteten einen Ausbau der Stiftung "Menschliches Gehirn", die bereits vor fünf Jahren gegründet worden ist. Sie soll die Forschungsförderung unterstützten und eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Grundannahme der Konferenzteilnehmer war, daß "eine informierte Gesellschaft Probleme besser verstehen und lösen kann".
  • Werden auch künftig alle Patienten gleichen Zugang zu - vor allem neuen - Behandlungsmöglichkeiten haben? Die Teilnehmer hatten die Befürchtung, daß Patienten nicht die bestmögliche Behandlung erfahren, weil nicht nur Ärzte über die Behandlung entscheiden, sondern auch Interessen anderer Gruppen, etwa der Krankenkassen, berücksichtigt werden. Die Gruppe forderte ausdrücklich, daß die Behandlung eines Patienten nicht von seinem sozialen Status abhängig sein darf. Die Bürger votierten zudem dafür, daß Kassen schneller als bisher alternative oder neue Behandlungsverfahren anerkennen. Die Fortbildungspflicht der Ärzte solle auch auf alternative Methoden ausgedehnt werden. Schließlich waren die Teilnehmer der Meinung: "Die Verantwortlichkeit der Ärzte sollte wieder höher geschätzt werden und einen höheren Stellenwert bekommen."

Der Bericht ist in Deutschland und in Europa Politikern übergeben worden. Bei der Vorstellung des Abschlußberichts bewertete die Vorsitzende des Nationalen Ethikrats Kristiane Weber-Hassemer die Bürgerkonferenz als gelungen. Sie sei ein Beispiel dafür, wie der bedenkliche Abstand zwischen dem Wissensstand der Wissenschaftler und der Öffentlichkeit verringert werden könne.

Das Endgutachten der Bürgergruppen aus neun Ländern sowie den nationalen Bericht findet man im Internet unter: www.meetingmindseurope.org



STICHWORT

Europäische Bürgerkonferenz

Die Idee der Bürgerkonferenzen stammt aus Dänemark. Durch sie soll die direkte Beteiligung von Bürgern an der öffentlichen Diskussion zu einem gesellschaftlich relevanten Thema ermöglicht werden. Das Projekt wird von der belgischen King-Baudouin-Stiftung koordiniert und in Deutschland vom Deutschen Hygiene-Museum in Dresden unterstützt. Das Museum hat sich 2001 bereits an der Bürgerkonferenz zur Gendiagnostik beteiligt.

Zum Thema Hirnforschung haben 123 Menschen aus Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, Niederlande, Griechenland, Großbritannien und Ungarn gemeinsame Positionen und Empfehlungen an Wissenschaftler und Politiker formuliert.

Aus Deutschland nahmen 14 Bürger unterschiedlicher Altersgruppen und aus verschiedenen Berufen teil, darunter der Allgemeinmediziner Dr. Wolfgang Zerahn aus Bad Wildungen, und die Krankenschwestern Dagmar Menge (Sachsen) und Katrin Plappert (Baden-Württemberg). Sie waren aus über 500 Bürgern ausgewählt worden, die Interesse an einer Teilnahme bekundet hatten.

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