ADHS-Risiko

Jede Schwangerschaftswoche zählt

Weshalb manche Kinder an ADHS erkranken, ist immer noch ein Rätsel. Jetzt haben Forscher herausgefunden: Mit jeder Woche, die ein Baby zu früh auf die Welt kommt, steigt das Risiko rasant.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Jede Schwangerschaftswoche senkt offenbar das Risiko, dass das Kind an ADHS erkrankt.

Jede Schwangerschaftswoche senkt offenbar das Risiko, dass das Kind an ADHS erkrankt.

© underdogstudios / fotolia.com

TURKU. Weshalb manche Kinder an einem ADHS erkranken, ist immer noch ein Rätsel. Genetische Einflüsse sind wohl von Bedeutung, aber auch Umweltfaktoren. Zu letzteren zählen ein junges Alter der Mutter, ein niedriger sozioökonomischer Status sowie der Drogenkonsum (Alkohol, Nikotin) der Mutter in der Schwangerschaft.

Epidemiologische Studien deuteten ferner darauf hin, dass auch eine Frühgeburt sowie ein geringeres Geburtsgewicht das ADHS-Risiko erhöhten, schreiben Kinderpsychiater um Dr. Minna Sucksdorff vom Uniklinikum in Turku.

Allerdings seien solche Zusammenhänge in der Regel nur bei extrem früh geborenen Kindern nachgewiesen worden, zudem hätten viele der Studien nicht alle bekannten Begleitrisiken für ein ADHS berücksichtigt.

Daten von über 900.000 Kindern

Aufgrund der umfassenden finnischen Datenbanken und Register konnten die Ärzte nun sämtliche Kinder, die zwischen Januar 1991 und Dezember 2005 geboren wurden, auf ADHS-Diagnosen bis zum Jahr 2011 hin überprüfen (Pediatrics 2015; online 24. August).

Von den über 900.000 Kindern hatten mehr als 10.300 (rund 1 Prozent) eine ADHS-Diagnose in den ersten Lebensjahren erhalten, was eigentlich relativ wenig ist, da die Prävalenz der Störung in der Literatur oft mit 3 bis 7 Prozent angegeben wird.

84 Prozent der ADHS-Patienten waren männlich, im Schnitt erfolgte die Diagnose im Alter von knapp 8 Jahren. Ausgeschlossen bei der Analyse wurden lediglich Kinder mit zusätzlichen geistigen Behinderungen und Kinder, bei denen die ADHS-Diagnose vor dem 2. Lebensjahr erfolgte und danach nicht mehr bestätigt werden konnte.

Berücksichtigt wurden neben Begleitfaktoren wie Alter der Eltern und Drogenkonsum der Mutter auch psychische Diagnosen bei den Eltern, der Geburtsort und der soziökonomische Status.

Jedem Kind mit ADHS versuchten die finnischen Kinderpsychiater vier Kontrollpersonen ohne die Störung zuzuordnen. Diese mussten dasselbe Geschlecht haben, zur selben Zeit (plus minus 30 Tage) und am selben Ort geboren worden sein. Insgesamt konnten die Wissenschaftler mehr als 38.500 Kontrollpersonen finden, die diese Kriterien erfüllten.

Nun schauten die Forscher, in welcher Schwangerschaftswoche all diese Kinder zur Welt gekommen waren. Dabei fanden sie deutliche Unterschiede zwischen Kindern mit und ohne ADHS. So waren Kinder mit einer späteren ADHS-Erkrankung im Schnitt deutlich früher geboren worden als solche aus der Kontrollgruppe.

Wurden die Kinder nach Gestationswochen aufgeteilt, so gab es bereits ab der 38. Woche - also bei früh, aber noch termingerecht geborenen Kindern - signifikante Differenzen: 13,9 Prozent der Kinder mit ADHS aber nur 13,2 Prozent derjenigen ohne kamen zwei Wochen vor dem errechneten Termin zur Welt.

Unter Berücksichtigung der genannten Begleitfaktoren und unter der Annahme eines kausalen Zusammenhangs lässt sich für Kinder mit Geburt in der 38. Woche ein um 12 Prozent erhöhtes ADHS-Risiko berechnen.

Mit jeder weiteren Woche, die ein Kind früher zur Welt kommt, steigt nach diesen Daten das ADHS-Risiko exponentiell an: Bei Kindern mit Geburt in der 30. Woche ist es bereits um das 3,6-fache erhöht, bei Kindern in der 23.-24. Woche um das Zwölffache.

Geringes Geburtsgewicht relevant

Das Risiko, später ein ADHS zu bekommen, ist ebenfalls erhöht, wenn die Kinder für die jeweilige Gestationswoche zu wenig wiegen. Allerdings scheint dieser Einfluss nicht so groß zu sein wie der Geburtszeitpunkt.

So ist nach den Berechnungen der Ärzte um Sucksdorff das ADHS-Risiko bei einer Abweichung von mehr als zwei Standardeinheiten (SD) signifikant um 80 Prozent erhöht, bei 1,5-2 SD um 36 Prozent und bei 1-1,5 SD um 14 Prozent.

Eine Risikoerhöhung um 22 Prozent fanden die Forscher allerdings auch bei Kindern mit einem Geburtsgewicht, das 2 SD über der Norm des Gestationsalters lag.

Insgesamt befänden sich die Ergebnisse auf einer Linie mit anderen großen skandinavischen Registerstudien, schreiben die Kinderpsychiater aus Turku.

Sie vermuten, dass die noch nicht abgeschlossene Fetalentwicklung des Gehirns bei früh geborenen Kindern sowie eine Mangelernährung im Mutterleib bei Kindern mit zu geringem Geburtsgewicht die Synaptogenese beeinträchtigen und damit Störungen wie ADHS begünstigen.

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Kommentare
Dr. Detlef Bunk 15.09.201512:52 Uhr

Forschungsredundanz?

Auch in der Wissenschaft wird offenbardas Rad in jeder Generation z.T. neu erfunden:
Fast identische Beobachtungen und Ursachenvermutungen wurden in den 40er Jahren bereits von Strauss und Lethinen (1947) in dem MCD-Konzept (minimale cerebrale Dysfunktion) beschrieben, welches dann am Beginn der 80er Jahre insb. von dem Psychologen und Kinderpsychiater Martin H. Schmidt (Mannheim) als überholt gescholten wurde.

Dr. phil. Detlef Bunk, Dipl. Psych., PP, KJP
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