Kinderärztliche Versorgung
Krise oder Narrativ? Das Phänomen der Pädiater-Not in Frankfurt
Die Erkältungswelle rollt, das Kind fiebert. Und Eltern in Frankfurt klagen, dass sie keinen Kinderarzt finden. Was sind die Gründe für den gefühlten Versorgungsengpass? Wie groß ist die Lücke wirklich?
Veröffentlicht:
Das MVZ für Kinderheilkunde der Firma Medicover in Frankfurt schließt Ende November.
© Arne Dedert/dpa/picture alliance
Frankfurt/Main. In Frankfurt kommt es für Eltern mit kranken Kindern gerade Schlag auf Schlag: Ein Medizinisches Versorgungszentrum macht Ende November seine Pädiatrie dicht, der Kinderärztliche Bereitschaftsdienst am Universitätsklinikum ist seit Oktober geschlossen. Eltern berichten, dass Praxen niemanden mehr aufnehmen.
Dennoch sagt Dr. Ralf Moebus, Landesverbandsvorsitzender des Berufsverbands der Kinder und Jugendärzt*innen in Hessen (BVKJ): „Wir hatten noch nie so viele niedergelassene Kinderärzte wie jetzt.“ Der Versorgungsengpass sei „ein Narrativ, das nicht der Realität entspricht“.
Die Grünen-Fraktion im hessischen Landtag hat die Situation mit einer parlamentarischen Anfrage aufzuklären versucht, zeigte sich mit den Antworten aus dem Gesundheitsministerium in Wiesbaden aber nicht zufrieden. Gesundheitsministerin Diana Stolz (CDU) verweigere eine ehrliche Bestandsaufnahme, kritisierte die Grünen-Gesundheitspolitikerin Kathrin Anders. Stattdessen verweise sie auf die Ergebnisse der Bedarfsplanung der KVH, nach der Frankfurt als „überversorgt“ gelte.
Telemedizinisches Angebot
Erstmals Videosprechstunde im Kinderärztlichen Bereitschaftsdienst in Hessen
„Das zeigt einmal mehr: Die Bedarfsplanung der KVH ist ein Relikt aus vergangenen Jahrzehnten und kann tatsächliche Versorgungslagen nicht mehr adäquat abbilden, Frankfurt mag auf dem Papier ‚überversorgt‘ sein – die Realität zeigt eine akute Krise“, so Anders.
Kündigungen oder Kostengründe?
Gehen wir der Sache nach. Die Firma Medicover betreibt an 30 Standorten Medizinische Versorgungszentren (MVZ). In Frankfurt gibt es neben einem hausärztlichen MVZ auch eines für Kinderheilkunde. 4000 Kinder werden dort von vier Ärzten betreut – oder wurden, denn spätestens Ende November ist Schluss. Wieso? „Alle vier Ärzte haben gekündigt und wir finden keine neuen“, sagt ein Sprecher. Das Aus habe „definitiv keine monetären Gründe“.
Genau das vermuten dennoch viele, die sich mit dem Thema beschäftigen. „Die Kinderheilkunde ist nicht lukrativ“, sagt Ralf Moebus, der für niedergelassene Kinderärzte spricht. „Die Pädiatrie ist unterfinanziert“, stimmt ihm Prof. Jürgen Graf zu, Ärztlicher Direktor der Frankfurter Uniklinik, mit Blick auf die Kinderärzte in Kliniken.
Videosprechstunde als Ersatz
Wer außerhalb der Praxisöffnungszeiten – also nachts oder am Wochenende – zum Arzt muss, kann sich an den Ärztlichen Bereitschaftsdienst wenden. Speziell für Kinder gab es in Frankfurt bislang zwei pädiatrische Bereitschaftsdienst-Zentralen. Ende September wurde die Praxis an der Uniklinik geschlossen. Nun gibt es nur noch die am Klinikum Höchst.
KV Hessen erwägt weitere Erprobungsphase
Kinderarzt-Beratung per Video war in Hessen „voller Erfolg“
„Hauptgrund ist der Personalmangel“, erklärt ein Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung, die diese Zentren betreibt, „und zwar sowohl bei den Medizinischen Fachangestellten als auch bei den Ärzten“. Als Ersatz werden Videosprechstunden angeboten. „Wir wissen, dass 40 Prozent der Erkrankungen, die die Eltern in die Zentralen führen, per Videosprechstunde abschließend behandelt werden können.“
„Super für Versorgung auf dem Land“
Kinderarzt Moebus findet die Videosprechstunden super. „Gerade für die Versorgung auf dem Land hat das große Vorteile. Da spart man sich oft 30 bis 50 Kilometer Anfahrt.“
Die KVH hatte erstmals im Oktober 2023 die pädiatrische Videosprechstunde über ein verlängertes Wochenende eingeführt. Zum 1. Oktober wurde dieses digitale Versorgungsangebot für Kinder nun erweitert und verstetigt: Immer mittwoch- und freitagnachmittags zwischen 14 und 19 Uhr sowie an den Wochenenden, Feier- und Brückentagen zwischen 9 und 19 Uhr können Eltern Termine in der Videosprechstunde des Pädiatrischen Bereitschaftsdienstes vereinbaren.
KVH-Vize Armin Beck zog am Montag ein erstes positives Fazit nach vier Wochen und sprach sogar davon, 86 Prozent aller Krankheitsfälle hätten in diesem Zeitraum in der kinderärztlichen Videosprechstunde abschließend behandelt werden können.
Pädiater Dr. Burkhard Voigt, ärztlicher Koordinator der Videosprechstunde, berichtete ebenfalls am Montag, seit 1. Oktober seien mit den ausgeweiteten Sprechzeiten bereits 251 Videosprechstunden durchgeführt worden. „An unseren Pilot- und Modellwochenenden zwischen 2023 und 2025 wurden an 58 Tagen insgesamt 1.550 Videosprechstunden terminiert“, sagte Voigt. Seit Oktober gebe es einen Pool aus gut 50 Ärztinnen und Ärzten, überwiegend niedergelassene Kinderärztinnen und -ärzte, die regelmäßig Dienste in der Videosprechstunde übernehmen würden.
Jetzt und sofort und hier!
Für die Uniklinik ist die Schließung des Bereitschaftsdienstes dennoch eine Herausforderung. Denn die Eltern mit den kranken Kindern kommen trotzdem, wie der Ärztliche Direktor berichtet. Was also tun mit Eltern, die unbedingt jetzt und sofort und hier Hilfe wollen? „Wir schauen sie natürlich an und behandeln sie natürlich auch, wenn das nötig ist“, sagt Graf.
Das Problem ist nur: Wenn ein Arzt in der Kinder-Notfallambulanz eines Universitätsklinikums mit seiner gesamten Infrastruktur einen kleinen Patienten begutachtet, kostet das ein Vielfaches von dem, was der gleiche Fall in einer Kinderarztpraxis kosten würde. Im Zweifelsfall wird vielleicht auch eine teure Spezialuntersuchung gemacht oder das Kind muss über Nacht bleiben.
Eltern mit „Anspruchshaltung“
Dahinter liegt ein grundlegendes Problem unseres Gesundheitssystems. Graf nennt es „fehlende bedarfsgerechte Steuerung“: Ein Kind mit Erkältung muss nicht in eine Uniklinik, das ist den meisten Eltern vermutlich klar, aber dort finden sie eben rund um die Uhr eine offene Tür vor, auch wenn die Kinderarztpraxis zu hat oder keine neuen Patienten aufnimmt.
Wie viele andere Ärzte kritisiert auch Moebus eine gewisse „Anspruchshaltung“ der Eltern. Sie würden „immer häufiger mit Banalitäten“ in die Praxen kommen, sagt der niedergelassene Kinderarzt: „Es gibt da eine gewisse 24/7-Erwartung“.
Was sagen die Daten?
Nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Hessen gibt es im Bundesland 650 Kinderärztinnen und Kinderärzte in 300 Praxisstandorten. Aktuell gibt es laut KV in Hessen nur acht freie kinderärztliche Arztsitze: 4,5 im Schwalm-Eder-Kreis, 2 im Odenwaldkreis, 1 im Rheingau-Taunus-Kreis und 0,5 im Landkreis Waldeck-Frankenberg. In Frankfurt werden per 1. September dieses Jahres 68,5 Arztsitze mit insgesamt 83 Köpfen ausgewiesen.
In den vergangenen Jahren ist die Zahl der niedergelassenen Pädiater in Hessen kontinuierlich gewachsen, vor zehn Jahren gab es 116 Kinderärzte weniger als heute, wie aus Daten der KV hervorgeht.
BVKJ: „So groß kann der Mangel nicht sein“
Den Mangel an Kinderärzten, den Eltern in den sozialen Medien und in der lokalen Presse gern beklagen, hält Moebus für ein gefühltes Problem. Manchmal müsse man vielleicht ein bisschen länger fahren. Das werde sich in den kommenden Jahren noch verschärfen: „Der Weg zur kinder- und jugendärztlichen Versorgung wird weiter werden.“
Wer dringend einen Termin brauche, könne sich auch an die Bereitschaftsdienstnummer 116117 wenden. Das Callcenter helfe dann bei der Suche. Diese Möglichkeit werde aber selten genutzt, sagt Moebus: „So groß kann der Mangel also nicht sein.“ (dpa/bar)








