MS-Tagung

MS-Prävalenz steigt weltweit – liegt es an der Ernährung?

In den meisten Regionen der Welt nimmt die MS-Prävalenz seit einigen Dekaden deutlich zu. Ein Faktor könnte der Siegeszug der westlichen Ernährung sein.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Sobald sich Japaner die westliche Ernährungsweise aneigneten, scheint ihr MS-Risiko zu steigen. Es werden immer weniger Ballaststoffe konsumiert, dafür mehr Milchprodukte. Damit einher geht eine Veränderung der Darmflora.

Sobald sich Japaner die westliche Ernährungsweise aneigneten, scheint ihr MS-Risiko zu steigen. Es werden immer weniger Ballaststoffe konsumiert, dafür mehr Milchprodukte. Damit einher geht eine Veränderung der Darmflora.

© Jupiterimages/Stockbyte/Thinkstock

PARIS. Irgendetwas muss in den 1960er-Jahren passiert sein – seither steigt die MS-Prävalenz fast in allen Teilen der Welt deutlich. Am stärksten betroffen sind zwar die nördlichen Industrieländer mit überwiegend weißer Bevölkerung, aber auch im nördlichen Afrika, in Südamerika und in Asien ist dieser Trend zu beobachten, wenngleich die MS-Inzidenz und -Prävalenz in diesen Ländern deutlich geringer ist als im Westen.

Ein weiterer Aspekt fällt auf: Die Prävalenz steigt überwiegend bei Frauen. Wurde vor einigen Dekaden noch ein fast paritätisches Geschlechterverhältnis beobachtet, so erkranken Frauen in vielen Ländern heute dreifach häufiger als Männer.

Über die Ursachen dieser Entwicklung wird munter spekuliert. Auf dem gemeinsamen Kongress der europäischen und amerikanischen MS-Gesellschaften in Paris brachten nun japanische Forscher erneut die Ernährung ins Spiel.

In Japan hat die Zahl der registrierten MS-Kranken seit Beginn der 1970er-Jahre fast exponentiell zugenommen, erläuterte Dr. Takashi Yamamura von der Universität in Tokyo: Wurden 1974 noch weniger als 500 MS-Fälle erfasst, so waren es 2006 bereits 12.000. "Dieser Anstieg lässt sich nicht allein mit einer verbesserten Diagnostik erklären", sagte der Experte. Yamamura verwies auf eine gründliche epidemiologische Analyse in der Provinz Tokachi im Norden der Insel: Seit den 1980er-Jahren hat sich dort die MS-Inzidenz vervierfacht, bei Frauen sogar versechsfacht.

Von den Bewohnern, die in den 1960er-Jahren zur Welt gekommen sind, erkrankten doppelt so viele Frauen wie Männer, bei den 1980er-Jahrgängen sind es bereits viermal so viele Frauen wie Männer. Die Entwicklung entspreche damit der in Nordamerika oder Europa.

Zu wenig Ballaststoffe?

Typische MS-Risikofaktoren wie Rauchen, zu wenig Sonne oder EBV-Infektionen könnten den Anstieg der MS-Prävalenz in Japan aber nicht erklären, so Yamamura, denn diese Faktoren seien immer weniger relevant: Der Raucheranteil geht seit den 1960er Jahren deutlich zurück, EBV-Infekte werden bei Kindern und Jugendlichen eher seltener beobachtet und die UV-Exposition hat seit den 1990er-Jahren tendenziell zugenommen. Sogar ihren Salzkonsum haben die Japaner mit der Zeit reduziert.

Yamamura ist jedoch aufgefallen, dass jeder achte MS-Kranke seiner Klinik in jungen Jahren in westlichen Hochprävalenzländern gelebt hat, dagegen keiner in anderen asiatischen Ländern. Offenbar haben nicht wenige die MS "importiert". Irgendetwas am westlichen Lebensstil müsse die Erkrankung begünstigt haben.

Yamamura vermutet einen Einfluss der Ernährung. Sobald sich Japaner die westliche Ernährungsweise aneigneten, scheine ihr MS-Risiko zu steigen. Da auch in Japan die traditionelle Ernährung an Boden verliere, könne dies vielleicht ein Grund für die steigende MS-Prävalenz auf der Insel sein. So würden immer weniger Ballaststoffe konsumiert, dafür immer mehr Milchprodukte. Damit einher gehe eine Veränderung der Darmflora.

Yamamura verwies auf Untersuchungen bei MS-Kranken, wonach diese einen Mangel an Ballaststoff-abbauenden Darmbakterien aufwiesen. Solche Bakterien würden kurzkettige Fettsäuren, vor allem Buttersäureester, produzieren. Butyrate wiederum seien für die Induktion regulatorischer T-Zellen nötig. Ohne Ballaststoffe weniger Butyrate, ohne Butyrate weniger regulatorische T-Zellen und damit ein erhöhtes MS-Risiko, so die Hypothese.

Klarer Breitengrad-Effekt innerhalb Australiens

Von einer steigenden MS-Prävalenz scheinen aber nicht alle Völker dieser Erde betroffen zu sein. So verwies Professor Riadh Guider von der Razi-Klinik in Tunis auf eine weiterhin sehr niedrige MS-Prävalenz in Teilen Afrikas. In Nordafrika und im Nahen Osten mit einer überwiegend arabischen Bevölkerung sei eine ähnliche Entwicklung wie in den westlichen Industrieländern zu beobachten, dagegen seien etwa schwarze Südafrikaner weitgehend vor der Erkrankung geschützt. In Südafrika beträgt die MS-Prävalenz unter Schwarzen etwa ein Hundertstel der von Weißen, bei Einwohnern indischer Abstammung ein Viertel.

Ähnliche Zahlen kennt auch Dr. Helmut Butzkueven vom Royal Melbourne Hospital. So sei bislang kein einziger MS-Fall unter australischen Ureinwohnern bekannt, und bei den Maori in Neuseeland liege die Prävalenz etwa siebenfach unter der von britischen Zuwanderern.

Butzkueven konnte anhand von neuen epidemiologischen Daten auch einen klaren Breitengrad-Effekt für Australien und Neuseeland nachweisen. Danach ist die MS-Prävalenz im eher schattigen Tasmanien im Süden sechseinhalbfach höher als im sonnigen Queensland im Norden des Kontinents. Immerhin noch um den Faktor drei divergiert die Prävalenz zwischen Norden und Süden im kleineren Neuseeland. Da die Bevölkerung in beiden Ländern recht homogen ist, sei ein äquatorferner Breitengrad zumindest für Kaukasier der wohl relevanteste MS-Risikofaktor, was natürlich den Verdacht auf die UV-Exposition und Vitamin-D-Spiegel lenkt.

Butzkueven nannte Daten einer gründlichen prospektiven Untersuchung in Australien, die auch eine Breitengrad-abhängige MS-Inzidenz belegen konnte – allerdings nur für die schubförmig-remittierende Variante. Die MS-Inzidenz hing dabei wesentlich von der UV-Exposition ab, weniger von den bei der Diagnose gemessenen Vitamin-D-Spiegeln.

Ein weiteres Ergebnis der Studie: Für die primär-progrediente MS gibt es keinen Zusammenhang mit dem Breitengrad, hier scheinen andere Pathomechanismen am Werk zu sein.

Im Gegensatz zu nördlichen Industrieländern ist in Australien das Geschlechterverhältnis unter den MS-Kranken konstant geblieben. Ein steigender Frauenanteil sei wohl eher ein Problem äquatorferner Regionen, und das vor allem für die Geburtsjahrgänge nach 1960, erläuterte der Experte. Allerdings werde auch in Australien eine steigende MS-Inzidenz und -Prävalenz beobachtet.

Über die Ursachen dieser Entwicklung wird in den nächsten Jahren wohl noch viel diskutiert werden. Wer auf eine ballaststoffreiche Ernährung und genug Sonne setzt, scheint aber nichts falsch zu machen.

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